Berlin, Deutschland; Rouen, Frankreich (Weltexpress). Vor dem Gruppenspiel bei der gegenwärtigen Handball-WM in Frankreich gegen Saudi-Arabien fasste Bundestrainer Dagur Sigurdsson seine Erwartungen in diesem Satz zusammen: „Wir sind einfach besser.“ Und er erläuterte diese Auffassung mit dem Hinweis auf die körperliche Überlegenheit, die größere Routine und die Anforderungen Woche für Woche in der Bundesliga auf höchstem Niveau.
Was als Plus gegenüber dem Außenseiter Saudi-Arabien (beste WM-Platzierung bislang Rang 19) angesehen werden kann, gilt für die Mehrzahl der restlichen 23 WM-Gegner. Erst im letzten Vorrundenmatch gegen die unbequemen Kroaten, Weltmeister 2009, dürfte die deutsche Auswahl einem Kontrahenten gegenüberstehen, der von der Papierform her nicht eindeutig unterlegen ist. Und bei dem der Sieg daher nicht einfach nur zur „Pflicht“ gehört.
Kroatien verfügt physisch über ein ähnliches Spielerpotenzial wie die Deutschen. Und bevorzugt wie die Männer von Sigurdsson in der Abwehrarbeit eine robuste Kompromisslosigkeit, die Angreifer auch schon mal einschüchtert.
Dennoch sind die Deutschen nach ihrem Überraschungscoup des letzten Jahres als Europameister favorisiert. Da stachen ihre Trümpfe mit schwer zu überwindender Deckung, dem schnellen Konterspiel, Gewaltwürfen aus dem Rückraum und Torgefährlichkeit von den Außenpositionen.
Die Variabilität des deutschen Spiels ist auch der Tatsache zu verdanken, dass keine andere Mannschaft der Welt derzeit über einen so ausgeglichenen Kader verfügt. Selbst Olympiasieger Dänemark nicht. Nicht der etwas überalterte Titelverteidiger Frankreich, nicht die etwas statistischen Spanier oder die spielfreudigen Slowenen.
Sie alle haben auf Einzelpositionen wohl stärkere Individualisten, aber nicht diese Kompaktheit der selbsternannten „Bad Boys“: Mit den beiden Weltklasse-Torhütern Silvio Heinevetter und Andreas Wolff, den Mittelblock-Abwehrschränken Patrick Wiencek und Finn Lemke, den wuchtigen Kreisspezialisten Wiencek und Jannik Kohlbacher, vier Außen mit Weltklasse-Qualitäten, angeführt von Kapitän und 7-m-Vollstrecker Uwe Gensheimer sowie den durchsetzungsstarken Rückraumspezialisten (links) Julius Kühn, Steffen Fäth oder Paul Drux.
Da fällt es kaum ins Gewicht, dass der Rückraum Mitte mit einem Spielmacher nicht so hochkarätig besetzt ist wie beispielsweise bei Frankreich (Nikola Karabatic) oder Kroatien (Domagoj Duvnjak). Sigurdsson nominierte nach Verletzungsausfall von Steffen Weinhold und Fabian Wiede nur Linkshänder Kai Häffner für den rechten Rückraum. Oldie Holger Glandorf (33) hat signalisiert, in den K.o.-Spielen der Mannschaft auf dieser wichtigen Position helfen zu wollen.
Kenner der Szenerie wie Sport 1-Experte- und Kolumnist Stefan Kretzschmar oder WM-2007-Torhüter Henning Fritz halten die Kadersituation für eine der günstigsten in der Geschichte des Deutschen Handball-Bundes. Diese Entwicklung ist bemerkenswert. Auch angesichts des Umstandes, dass nach dem Titeltriumph 2007 mit Heimvorteil die Leistungskurve der Auswahl bedenklich nach unten wies: Bei den WM von 2009 bis 2015 die Ränge 5, 11,5, 7. Bei EM 2010 10. 2012 7,2014 nicht qualifiziert.
Oft musste das Argument herhalten, dass der deutsche Nachwuchs in der Bundesliga gegen ausländische Spitzenkräfte nicht genügend zum Zuge käme. Die Schlüsselpositionen halt von fertigen Auslandsprofis blockiert würden.
Der heutige DHB-Vizepräsident und langjährige Geschäftsführer der Berliner Füchse, Bob Hanning, hat wie in Berlin auch im Verband ein Förder- und Entwicklungsprogramm für einheimische Akteure initiiert und sieht sich heute im breiten Kaderstamm für das Aushängeschild Nationalmannschaft bestätigt.
Gezielte Nachwuchsausbildung – ein Weg, der auch in der Fußball-Bundesliga einen Boom im Nachwuchsbereich auslöste und letztlich auch den Kandidatenkreis für Nationalmannschaft erheblich erweiterte.
Die Ausgeglichenheit des Aufgebots bei der Handball-WM, das deutlich artikulierte Selbstbewusstsein („Wir wollen Weltmeister werden“), der Erfolgshunger der relativ jungen Mannschaft – all das garantiert natürlich nicht den WM-Titel. Ein schwacher Tag, ein verworfener Siebenmeter, eine unglückliche Zeitstrafe, eine strittige Schiedsrichter-Entscheidung können das Aus bedeuten. Dennoch darf man bei allen Vorzeichen Henning Fritz folgen, der dieser Formation den „ganz großen Wurf“ zutraut.
Was die Perspektive der Nationalmannschaft nach der Ära Sigurdsson angeht – jener nutzt eine Option zum Ausstieg und wird Japans Mannschaft auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokio vorbereiten -, da werden es die Nachfolger nicht einfach haben. Denn sowohl der Leipziger Christian Prokop als auch der Stuttgarter Markus Baur haben nicht den internationalen Hintergrund des Isländers. Der war als Aktiver daheim, in der Bundesliga, in Österreich, in Japan – und hat als Trainer auf fast ebenso vielen Stationen Erfahrungen gesammelt.
Prokop war ein ehrgeiziger Bundesliga-Profi, stieg nach Karriereaus wegen Verletzung als Trainer beim Aufsteiger SC DHfK Leipzig erfolgreich ein. Baur gehörte als Spielmacher dem WM-Team von 2007 an, betreute Nachwuchsmannschaften des Verbandes, Schaffhausen (Schweiz) und versucht mit Stuttgart Anschluss an die Spitze der Bundesliga zu halten.
Vom Fach verstehen sie gewiss alles und den nötigen Ehrgeiz darf man voraussetzen – das im Verein mit der Tatsache, aus einem ungewöhnlich großen Reservoir an auswahlreifen Spielern schöpfen zu können, lassen eine Fortsetzung der Handball-Erfolgsstory erwarten.