Das Preußen der Siedler

Blick auf die Altstadt von Jerusalem. © Foto: Dr. Bernd Kregel, 2015
Wohin schliddert sie? Jeder weiß es: in eine ultra-nationalistische, rassistische, jüdisch-orthodoxe Gesellschaft.
Wer führt uns auf diesen Weg?
Die Regierung natürlich. Diese Gruppe von lärmenden Niemanden, die bei den letzten Wahlen an die Macht kamen, angeführt von Benjamin Netanjahu.
Nicht wirklich. Nehmt all diese großmäuligen kleinen Demagogen, die Minister von diesem oder jenen (Ich kann mich nicht erinnern, wer vermutlich der Minister von was ist) und sperrt sie ein, da wird sich nichts ändern. In 10 Jahren wird sich keiner mehr an die Namen von ihnen erinnern.
Wenn die Regierung nicht führt, wer tut es dann? Vielleicht der rechte Mob? Die Leute, die wir im TV sehen – mit Hass verzerrten Gesichtern, die beim Fußball-Spielen schreien bis sie heiser sind „Tod den Arabern“ oder die nach jedem Vorfall in den jüdisch-arabischen Städten demonstrieren: „Alle Araber sind Terroristen! Tötet sie alle.“
Dieser Mob kann dieselben Demonstrationen morgen gegen andere führen: gegen Schwule, Lesben, Richter, Feministen, gegen wen auch immer. Es ist nicht konsequent. Er kann kein neues System aufbauen.
Aber es gibt eine Gruppe im Land, die stark genug ist, genügend zusammenhält, entschieden genug, den Staat zu übernehmen: die Siedler.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts schrieb ein überragender Historiker, Arnold Toynbee, ein monumentales Werk. Seine zentrale These war, dass Zivilisationen wie menschliche Wesen sind: Sie werden geboren, wachsen, werden erwachsen, altern und sterben. Dies war wirklich nicht ganz neu – der deutsche Historiker Oswald Spengler schrieb vor ihm etwas Ähnliches („Den Untergang des Abendlandes“). Aber Toynbee, ein Brite, war weniger metaphysisch als sein deutscher Vorgänger und versuchte, praktische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Unter Toynbees vielen Innenansichten gab es eine, die uns jetzt interessieren sollte. Es geht um den Prozess, bei dem Grenzdistrikte die Macht und den Staat übernehmen.
Nehmen wir das Beispiel aus der deutschen Geschichte. Die deutsche Zivilisation wuchs im Süden und reifte im Süden – in der Nähe von Frankreich und Österreich. Eine reiche und kultivierte Oberklasse verbreitete sich im ganzen Land und in den Städten. Die patrizische Bürgerschicht förderte die Schriftsteller und Komponisten. Die Deutschen sahen sich selbst als „Ein Volk der Dichter und Denker“.
Aber im Laufe der Jahrhunderte suchten die Jungen und Energischen aus der reichen Schicht, besonders die zweiten Söhne, die nichts erbten, für sich selbst eine neue Domäne. Sie gingen an die Ostgrenze, eroberten neues Land von den slawischen Bewohnern und holten dort neue Ländereien für sich selbst.
Das östliche Land wurde Mark Brandenburg genannt. „Mark“ bedeutet Grenzland. Eine Reihe fähiger Fürsten vergrößerten den Staat, bis Brandenburg eine führende Macht wurde. Damit noch nicht zufrieden, heiratete einer der Fürsten eine Frau, die als Mitgift ein kleines östliches Königreich, Preußen genannt, mitbrachte. So wurde der Fürst ein König. Brandenburg vereinigte sich mit Preußen und vergrößerte sich durch Kriege und Diplomatie, bis Preußen halb Deutschland beherrschte.
Der preußische Staat, in der Mitte Europas gelegen, umgeben von starken Nachbarn, hatte keine natürlichen Grenzen – weder weite Meere noch hohe Gebirge oder breite Flüsse. Es war nur ein flaches Land. Also schufen die preußischen Könige eine künstliche Grenze: eine mächtige Armee. Graf Mirabeau, der französische Staatsmann sagte bekannterweise: „Andere Staaten haben Armeen. In Preußen hat die Armee einen Staat.“ Die Preußen prägten selbst den Satz: „Der Soldat ist der erste Mann im Staat.“
Es ist nicht wie in anderen Ländern, in Preußen wurde das Wort „Staat“ fast als heiliges Wort vorausgesetzt. Theodor Herzl, der Gründer des Zionismus und ein großer Bewunderer von Preußen, adoptierte dieses Ideal und nannte seine zukünftige Schöpfung: „Der Judenstaat“.
Toynbee, der sich nicht mit Metaphysik abgab, fand den irdischen Grund für dieses Phänomen zivilisierter Staaten, die von weniger zivilisierten Staaten übernommen wurden, weil das Grenzvolk härter ist.
Die Preußen mussten kämpfen: Land erobern, einen Teil seiner Bevölkerung vernichten, neue Dörfer und Städte schaffen, Gegenangriffen widerstehen, nachtragenden Nachbarn, Schweden, Polen und Russen widerstehen. Sie mussten hart sein.
Zur selben Zeit führte das Volk im Inneren ein viel leichteres Leben. Die Bürger von Frankfurt, Hamburg, München und Nürnberg hatten ein leichteres Leben, verdienten Geld, lasen ihre großen Dichter und hörten ihre großen Komponisten. Sie konnten die primitiven Preußen mit Verachtung behandeln. Bis sie sich selbst 1871 in einem neuen germanischen Reich wiederfanden, das von den Preußen beherrscht wurde – von einem preußischen Kaiser.
Diese Art von Prozess ist während der Geschichte in vielen Ländern geschehen. Die Peripherie wird zum Zentrum.
In alten Zeiten – in der Antike – wurde das griechische Reich nicht von zivilisierten Bürgern einer griechischen Stadt, wie Athen, geschaffen, sondern von einem Führer aus dem mazedonischen Reich, von Alexander dem Großen. Später wurde das mediterrane Reich nicht von einer zivilisierten griechischen Stadt geschaffen, sondern von einer peripheren italienischen Stadt, Rom genannt.
Ein kleines deutsches Grenzland im Südosten wurde das riesige multinationale Reich, Österreich genannt, bis es von den Nazis besetzt wurde und Ostmark genannt wurde – östliche Grenze.
Es gibt eine Fülle von Beispielen.
Die jüdische Geschichte, die reale und die eingebildete, hat ihre eigenen Beispiele.
Wenn ein Steine werfender Junge aus der südlichen Gegend mit Namen David, König von Israel wurde, setzte er seine Hauptstadt aus der alten Stadt Hebron an einen neuen Ort, den er gerade erobert hat, Jerusalem. Dort war er weit weg von all den Städten, in denen sich eine neue Aristokratie eingerichtet hat und gedieh.
Viel später, in römischen Zeiten, kamen die Kämpfer des Grenzlands Galiläa nach Jerusalem, inzwischen eine zivilisierte Patrizier-Stadt, und zwangen die friedlichen Bürger einen verrückten Krieg gegen die unendlich weit überlegeneren Römer anzufangen. Vergeblich versuchte der jüdische König Agrippa, Nachfolger von Herodes dem Großen, sie mit einer eindrucksvollen Rede zu stoppen, die Flavius Josephus überlieferte. Das Grenzvolk gewann die Oberhand, Judäa revoltierte, der („Zweite“) Tempel wurde zerstört und die Konsequenzen konnten bis in die letzte Woche auf dem Tempelberg (auf Arabisch: Haram al Sharif – der heilige Schrein) in Jerusalem bemerkt werden, wo arabische Jungs, Nachahmer von David, auf die jüdischen Imitatoren von Goliath Steine warfen.
Im heutigen Israel macht man einen klaren Unterschied – einen Zwiespalt zwischen den wohlhabenden reichen Städten, wie Tel Aviv und der viel ärmeren „Peripherie“, deren Bewohner meistens die Nachkommen von Immigranten aus armen und zurückgebliebenen, orientalischen Ländern sind.
Es war nicht immer so. Vor der Gründung des Staates Israel wurde die jüdische Gemeinde Palästinas (der „Yishuv“ genannt) von der Labor-Partei beherrscht, die von den Kibbuzim, den kommunalen Dörfern dominiert waren. Viele von ihnen lagen entlang der Grenze. (Man könnte sagen, dass sie tatsächlich die „Grenzen“ des Yishuv bildeten). Dort war eine neue Rasse harter Kämpfer geboren, während verwöhnte Stadtbewohner verachtet wurden.
Im neuen Staat sind die Kibbuzim ein Schatten ihrer selbst geworden und die zentralen Städte sind die Zentren der Zivilisation, beneidet und sogar von der Peripherie gehasst. Das war die Situation bis vor kurzem. Es verändert sich rasend.
Am Tag nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 hob ein neues israelisches Phänomen seinen Kopf: Die Siedlungen in den neu besetzten palästinensischen Gebieten. Ihre Gründer waren die „national-religiösen“ Jugendlichen.
Während der Tage des Yishuv wurden die religiösen Zionisten eher verachtet. Sie waren eine kleine Minderheit. Einerseits hatten sie nicht den revolutionären Schwung der säkularen, sozialistischen Kibbuzim gemieden. Andrerseits waren wirkliche orthodoxe Juden überhaupt keine Zionisten und verurteilten das ganze zionistische Unternehmen als eine Sünde gegen Gott (War es nicht Gott, der die Juden wegen ihrer Sünden ins Exil geschickt, und unter die Völker verstreut hatte?
Aber nach der Eroberung von 1967 wurde die „national-religiöse" Gruppe plötzlich eine bewegende Kraft. Die Eroberung des Tempelberges in Ost-Jerusalem und all die anderen biblischen Orte, erfüllte sie mit religiösem Eifer. Statt eine marginale Minderheit zu bleiben, wurden sie eine mächtige treibende Kraft.
Sie schufen die Siedlerbewegung und bauten Dutzende von neuen Städten und Dörfern in der ganzen besetzten Westbank und in Ost-Jerusalem. Mit der Hilfe von allen einander folgenden israelischen Regierungen, den Linken wie den Rechten, wuchsen und gediehen sie. Während das linke „Friedenslager“ allmählich verschwindet, breiteten sie ihre Flügel aus.
Die „national-religiöse“ Partei, einmal eine der moderatesten Kräfte in der israelischen Politik, verwandelte sich in die ultra-nationalistische, fast faschistische „Jüdisches Heim“-Partei. Die Siedler wurden auch eine dominierende Kraft in der Likud-Partei. Sie kontrollieren nun die Regierung. Avigdor Lieberman, ein Siedler, führt eine noch rechtere Partei als nominelle Opposition. Der Star des „Zentrum“, Yair Lapid, gründete seine Partei in der Ariel-Siedlung und redet jetzt wie ein extremer Rechter. Yitzhak Herzog, der Führer der Labor-Partei, versucht ihnen kraftlos nachzueifern.
Alle verwenden jetzt die Siedlersprache. Sie sprechen nicht mehr von der Westbank, sondern von „Judäa und Samaria“.
Während ich Toynbee folgte, erklärte ich dieses Phänomen durch das Problem, das durch das Leben an der Grenze gestellt wird.
Selbst wenn die Situation weniger gespannt ist, als sie es jetzt ist, trotzen die Siedler Gefahren. Sie sind von arabischen Dörfern und Städten umgeben (Wobei sie sich selbst in ihre Mitte setzten). Sie setzen sich geworfenen Steinen aus und sporadischen Angriffen auf den Schnell-Straßen, leben aber unter ständigem Armeeschutz, während die Leute in den israelischen Städten ein bequemes Leben führen.
Natürlich sind nicht alle Siedler Fanatiker. Viele von ihnen leben in einer Siedlung, weil ihnen die Regierung die Wohnung dort fast umsonst gibt: eine Villa mit Garten, vom der sie im eigentlichen Israel nicht einmal zu träumen wagten. Viele von ihnen sind Regierungsangestellte mit gutem Gehalt. Viele lieben nur die Aussicht – all dieser malerischen muslimischen Minarette.
Viele Fabriken haben das eigentliche Israel verlassen, verkauften ihr Land für unglaubliche Summen und bekamen dafür noch riesige Regierungszuschüsse, dass sie in die Westbank umzogen. Sie beschäftigen natürlich billige palästinensische Arbeiter aus den benachbarten Dörfern – frei von rechtlichen Minimum-Löhnen irgendwelcher Arbeitsgesetze. Die Palästinenser schuften für sie, weil sie sonst keine Arbeit bekommen können.
Aber selbst diese „bequemen“ Siedler wurden zu Extremisten, um zu überleben und ihre Häuser zu verteidigen, während sich die Leute in Tel Aviv an ihren Cafes und Theater amüsieren. Viele dieser Alteingesessenen haben schon einen zweiten Pass besorgt, einen deutschen, amerikanischen oder polnischen – nur für den Fall. Kein Wunder, dass die Siedler den Staat übernehmen.
Der Prozess ist schon weit voran geschritten. Der neue Polizeichef ist ein Kippa tragender früherer Siedler, auch der Chef vom Geheimdienst. Immer mehr Offiziere der Armee und Polizei sind Siedler. In der Regierung und in der Knesset üben die Siedler riesige Macht und Einfluss aus.
Vor etwa 18 Jahren, als meine Freunde und ich als erste einen israelischen Boykott gegen die Produkte der Siedlungen ausriefen, sahen wir, was auf und zukommt.
Dies ist jetzt die wirkliche Schlacht um Israel.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 19.10.2015 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.
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