Seit Jahren hat Netanjahu seine Karriere auf die Angst vor der iranischen Bombe gebaut. Die Iraner sind ein verrücktes Volk. Wenn sie erst mal die Bombe erlangt haben, werden sie sie auf Israel fallen lassen, selbst, wenn Israels Atombombe bei einem zweiten Schlag den Iran mit seiner jahrtausendealten Kultur sicher vernichten wird.
Aber Netanjahu sah mit wachsender Sorge, dass die iranische Bedrohung ihre Schärfe verlor. Die US haben anscheinend ein Abkommen mit dem Iran erreicht, das den Bau einer Bombe verhindert. Sogar Sheldon der Große konnte das Abkommen nicht verhindern. Was nun?
Er schaute sich um. Da tauchten drei Buchstaben auf: BDS. Sie bedeuten Boykott, Divestment und Sanktionen, eine weltweite Kampagne, um Israel wegen seiner 48 Jahre langen Unterwerfung des palästinensischen Volkes zu boykottieren.
Ah, hier haben wir eine wirkliche Bedrohung, schlimmer als die Bombe. Ein zweiter Holocaust droht. Das tapfere kleine Israel steht vor der kompletten üblen antisemitischen Welt.
Stimmt, bis jetzt hat Israel keinem wirklichen Schaden gelitten. BDS ist eher eine symbolische Geste als eine wirkliche wirtschaftliche Waffe. Aber wer zählt nach? Die Legionen von Antisemiten sind auf dem Vormarsch.
Wer wird uns retten? Bibi, der Große, natürlich.
Ehrliche Offenlegung: Meine Freunde und ich initiierten den ersten Boykott, der gegen die Produkte der Siedlungen gerichtet war.
Unsere Friedensbewegung Gush Shalom überlegte, wie man die Ausbreitung der Siedlungen anhalten könne – von denen jede eine Landmine auf dem Weg zum Frieden ist. Der Hauptgrund für den Siedlungsbau ist, die Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern – die einzige Friedenslösung, die es gibt.
Unsere Untersuchungen machten eine große Runde zu den Siedlungen und registrierten die Unternehmungen/Firmen, die von den Werbemaßnahmen der Regierung in eine Falle gelockt wurden, um Einkaufsmöglichkeiten jenseits der grünen Linie zu eröffnen. Wir veröffentlichten die Liste und ermutigten die Kunden, diese Produkte nicht einzukaufen.
Ein Boykott ist ein demokratisches Mittel zu protestieren. Es geschieht ohne Gewalt. Jede Person kann dies privat ausprobieren, ohne sich einer Gruppe anzuschließen oder sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Unser Hauptziel war es, dass die israelische Öffentlichkeit klar zwischen israelischen Waren und denen aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten unterscheiden könne. Im März 1997 hielten wir eine Pressekonferenz, um die Kampagne anzukündigen. Es war ein einmaliges Ereignis. Ich hatte schon Pressekonferenzen abgehalten, die voller Journalisten waren – z.B. nach meinem ersten Treffen mit Yassir Arafat im belagerten West-Beirut. Ich hatte Pressekonferenzen mit wenigen Besuchern gehalten. Aber diese hier war wirklich besonders: kein einziger israelischer Journalist zeigte sich.
Doch die Idee verbreitete sich. Ich weiß nicht, wie viele tausend Israelis die Produkte der Siedlungen im Augenblick boykottieren.
Doch waren wir von der Haltung der EU-Behörden aufgebracht, die die Siedlungen anprangerten, während sie in der Praxis ihre Produkte mit Zoll/Steuerfreibeträgen subventionierten wie reale Waren aus Israel. Meine Kollegen und ich gingen nach Brüssel, um zu protestieren. Von höflichen Bürokraten wurde uns gesagt, dass Deutschland und andere jeden Schritt in Richtung Siedlungsboykott behinderten.
Schließlich bewegten sich die Europäer, doch sehr langsam. Sie verlangen jetzt, dass die Produkte der Siedlungen klar gekennzeichnet werden.
Die BDS-Bewegung hat eine sehr andere Agenda. Sie wollen den Staat Israel als solchen boykottieren.
Ich sehe dies immer als großen strategischen Irrtum an. Statt die Siedlungen zu isolieren und sie von den durchschnittlichen Israelis zu trennen, treibt ein allgemeiner Boykott alle Israelis in die Arme der Siedler. Es weckt wieder uralte Ängste. Vor einer allgemeinen Gefahr zu stehen, vereinigt die Juden.
Netanjahu könnte sich nichts Besseres wünschen. Er reitet jetzt auf der Welle jüdischer Reaktionen. Jeden Tag gibt es Schlagzeilen über einen anderen Erfolg der Boykottbewegung und jeder Erfolg ist ein Pluspunkt für Netanjahu.
Es ist auch ein Pluspunkt für seinen Gegner, Omar al-Barghouti, den palästinensischen Organisator von BDS. In Palästina gibt es viele Barghoutis. Es ist eine große Familie, die in mehreren Dörfern nördlich von Jerusalem prominent ist.
Der berühmteste ist Marwan al-Barghouti, der zu mehrmals lebenslänglich verurteilt worden ist, weil er die Fatah-Jugendbewegung leitete. Er wurde nicht dafür beschuldigt, an „terroristischen“ Akten teilgenommen zu haben, sondern für seine Führungsrolle als Verantwortlicher für die Organisation. Tatsächlich waren wir Partner beim Organisieren mehrerer gewaltfreier Protestdemos gegen die Besatzung.
Als er vor Gericht angeklagt wurde, protestierten wir im Gerichtsgebäude. Einer meiner Kollegen verlor bei dem sich ergebenden Kampf mit den gewalttätigen Gerichtswärtern dabei einen Zehennagel. Marwan ist noch immer im Gefängnis, und viele Palästinenser betrachten ihn (trotzdem) als potentiellen Erben von Mahmoud Abbas.
Ein anderer Barghouti ist Mustafa, der sehr liebenswürdige Führer einer linken Partei, der gegen die Präsidentschaft der Palästinensischen Behörde von Abbas sich stark machte. Wir trafen einander (mehrfach) und standen bei verschiedenen Demonstrationen gegen die Mauer der Armee gegenüber.
Omar Barghouti , der Führer der BDS-Bewegung, war Student der Universität von Tel Aviv. Er verlangt die freie Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, Gleichheit für die palästinensischen Bürger Israels und natürlich ein Ende der Besatzung.
Doch BDS ist keine hoch organisierte weltweite Organisation. Sie ist eher eine Handelsmarke. Gruppen von Studenten, Künstlern und andere machen spontan mit und schließen sich dem Kampf für die palästinensische Befreiung an. Hier und da versuchen, ein paar wirkliche Antisemiten sich ihnen anzuschließen. Aber für Netanjahu sind sie alle Antisemiten.
Von Anfang an fürchteten wir, der Boykott Israels habe – im Unterschied zum Boykott der Siedlungen die durchschnittlich jüdische Bevölkerung mit den Siedlern unter der Führung von Netanjahu vereinigt.
Das Vaterland ist in Gefahr. „Nationale Einheit!“ ist die Order des Tages. „Der Oppositionsführer“ Yitzhak Herzog eilt voraus, um Netanjahu zu unterstützen, wie es fast alle andern Parteien taten.
Israels Oberster Gerichtshof, ein ängstlicher Schatten seines Vorgängers, hat schon darüber verfügt, ein Aufruf zu einem Boykott Israels, sei ein Verbrechen einschließlich der Aufrufe, die Siedlungen zu boykottieren.
Fast jeden Tag erreichen Boykotts Schlagzeilen. Der Biss von „Orange“, dem französischen Zeitungsriesen, hatte sich zuerst dem Boykott angeschlossen, hat sich dann aber schnell gedreht und trat zu einer Pilgerreise der Reue nach Israel an. Studentenorganisationen und professionelle Gruppen in Amerika und Europa nehmen den Boykott an. Die EU verlangt jetzt energisch, dass die Siedlungsprodukte gekennzeichnet werden.
Netanjahu ist glücklich. Er ruft die Weltjudenheit auf, den Kampf gegen diese antisemitische Schandtat aufzunehmen. Der Besitzer von Netanjahu, der Multi-Milliardär und Kasinomogul Sheldon Adelson hat einen Kriegsrat reicher Juden nach Las Vegas einberufen. Sein Gegenspieler Pro-Labor Multi-Milliardär Haim Saban hat sich ihm angeschlossen. Selbst die Täter der „Weisen von Zion“ hätten das nicht für möglich gehalten.
Als komischer Unterstützer wetteifert ein anderer Kasino-Besitzer um die Schlagzeilen. Er ist ein viel, viel kleinerer Operator, der nicht mit Adelson verglichen werden kann. Er ist das neue Knesset-Mitglied Oren Chazan, die Nummer 30 auf der Likudwahlliste, der letzte, der noch dazukam. Eine TV-Denkschrift hat behauptet, er wäre der Besitzer eines Kasinos in Bulgarien, der seinen Kunden Prostituierte liefert und harte Drogen benützt. Er ist schon als stellvertretender Knessetsprecher gewählt worden. Der Sprecher ist jetzt vorübergehend von den Knessetplenum-Sitzungen suspendiert worden.
Die beiden Kasinobesitzer, der große und der kleine, beherrschen die Nachrichten. Das ist ziemlich bizarr in einem Land, in dem Kasinos verboten sind, und wo heimliche Kasinobesucher regelmäßig verhaftet werden.
Nun, das Leben ist wie ein Roulettespiel. Und das Leben in Israel ist es sogar noch mehr.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte nach Eigenangaben am 13.06.2015 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.