Meinen ersten Artikel nach den Wahlen widmete ich zum großen Teil der Gefahr einer „Nationalen Einheits-Regierung, obwohl die Möglichkeit solch einer Regierung, die sich auf Likud und Labor gründet, zu dieser Zeit tatsächlich sehr weit weg erschien.
Aber als ich auf die Zahlen schaute, hatte ich einen quälenden Verdacht: Dies sieht wie etwas aus, das mit einer Likud-Labor-Verbindung enden wird.
Jetzt hat diese Möglichkeit plötzlich ihren Kopf erhoben. Jeder spricht davon.
All meine Gefühle rebellieren gegen diese Möglichkeit. Aber ich schulde es mir selbst und meinen Lesern, diese Option leidenschaftslos zu prüfen. Auch wenn Logik ein seltenes Erzeugnis in der Politik ist, versuchen wir, es auszuprobieren.
Ist eine „Nationale Einheitsregierung“ für Israel gut oder schlecht?
Schauen wir uns als erstes die Zahlen an.
Um in Israel eine Regierung zu bilden, sind wenigstens 61 Sitze in der 120-Sitze–Knesset nötig. Likud (30) und Labor (24) sind jetzt zusammen 54. Es kann mit großer Sicherheit vermutet werden, dass Benjamin Netanjahu beinahe sicher die historische Verbindung mit den zwei orthodoxen Fraktionen, der ashkenasishen Torah-Partei (6) und der orientalischen Schas-Partei (7) – zusammen 67 – erneuern will. Das ist genug für eine stabile Regierung.
Netanjahu scheint entschlossen zu sein, auch Moshe Kahlons neue Partei (10) dazu zu nehmen, als eine Art Subunternehmer für die Wirtschaft. Zusammen sind es eindrucksvolle 77 Sitze.
Wer würde außerhalb bleiben? Zunächst die Gemeinsame Arabische Partei (13), dessen neuer Führer Eyman Odeh automatisch den Titel „Leiter der Opposition“ erhält – mit all seinem Prestige und seinen Privilegien – ein erstes Mal für Israel. Kein Araber hat jemals diesen Titel erhalten.
Dann ist da Merez (5), reduziert auf eine kleine linke Stimme.
Und dann sind da noch die zwei extremen rechten Parteien. Die eine von Naftali Bennett (reduziert auf 8) und die noch kleinere von Avigdor Liebermann (jetzt nur noch 6)
Irgendwo dazwischen ist der Star der vorhergehenden Wahlen, Yair Lapid (jetzt reduziert auf 11).
Die anfängliche Aussicht schien, eine sehr rechte Koalition zu werden, die aus Likud, den zwei orthodoxen Parteien, den beiden extrem-rechten Parteien und Kahlon – zusammen 67 Stimmen – bestehen. (Die Orthodoxen weigern sich, mit Lapid in derselben Regierung zu sitzen).
Dies sind vielleicht mit kleineren Veränderungen – dann die zwei Optionen.
Warum zieht Netanjahu – wie es jetzt scheint – die Nationale Einheitsoption vor?
Zunächst verachtet er seine beiden mit ihm verbundenen Rechten – Bennett und Lieberman. Aber man muss nicht jemanden lieben, um ihn in seine Regierung aufzunehmen.
Ein viel wichtigerer Grund ist die wachsende Furcht vor Israels Isolierung in der Welt.
Netanjahu ist im Augenblick in einen grimmigen Kampf mit Präsident Obama verwickelt. Er ist mit allem, was er hat, gegen den iranischen Deal. Aber dieser Deal wird auch von der EU, Deutschland, Frankreich, Russland und China unterschrieben. Netanjahu gegen die ganze Welt.
Netanjahu hat keine Illusionen. Da gibt es hunderte von Möglichkeiten für Obama und die EU, Rache an Netanjahu zu nehmen. Israel ist beinahe total abhängig von den US, soweit es die Waffen betrifft. Es benötigt das US-Veto in den UN und US-Subventionen kommen auch gelegen. Die israelische Wirtschaft ist auch sehr vom europäischen Markt abhängig.
In dieser Situation wäre es schön, Isaak Herzog an Bord zu haben. Er ist das letzte Feigenblatt, ein netter liberaler Linker als Außenminister, Sohn eines Präsidenten, Enkel eines irischen Oberrabbiners, manierlich, europäisch aussehend, englisch sprechend. Er würde die Ängste der Außenminister in aller Welt beschwichtigen, die scharfen Ecken Netanjahus entschärfen, diplomatische Krisen verhindern.
Die Labor-Partei in der Regierung würde auch die Flut antidemokratischer Gesetze blockieren, die sich in der letzten Knessetperiode angesammelt hat. Sie würde auch den geplanten Ansturm auf das Oberste Gericht, Israels letzte Bastion gegen die Barbaren, verhindern. Die führende Gruppe der Likud-Extremisten machen aus ihrer Absicht, das Gericht zu kastrieren und die Gesetzesvorlagen, die sie auf Lager haben, zu erlassen, kein Hehl.
Labor könnte auch die Wirtschaftspolitik des Likud – allgemein als „schweinischer Kapitalismus“ bekannt, der die Armen ärmer und die Ultra-Reichen sogar noch ultra-reicher gemacht hat, mildern. Die Wohnungsbeschaffung könnte wieder erschwinglich werden, der Verfall des Gesundheits- und Bildungssystems könnte angehalten werden.
Die Aussicht, wieder Minister zu werden, lässt bei manchen Labor-Funktionären das Wasser im Munde zusammenlaufen. Einer von ihnen, Eytan Kabel, ein enger Verbündeter von Herzog, hat schon eine Erklärung veröffentlicht, in der er Netanjahus Iranpolitik voll und ganz unterstützt und die viele die Augenbrauen hochziehen ließ.
Die Labor-Partei hat noch keine kritische Stellungnahme zu Netanjahus Standpunkt zum Iran geäußert. Sie kritisiert nur – halb-, wenn nicht gar viertelherzig – die Angriffe des Ministerpräsidenten gegenüber Obama.
Andererseits, was ist so falsch an einer Nationalen Einheitsregierung?
Nun, zunächst lässt sie das Land ohne wirksame Opposition.
Um zu funktionieren, benötigt die Demokratie eine Opposition, die eine alternative Politik entwickelt und für die nächsten Wahlen eine Auswahl ermöglicht. Wenn alle größeren Parteien in der Regierung sind, welche alternativen Kräfte und Ideen könnten dann eine notwendige Auswahl anbieten?
Ein Zyniker mag hier bemerken, dass die Laborpartei eigentlich keine große Opposition war. Sie hat im letzten Jahr den überflüssigen Gaza-Krieg mit all seinen Grausamkeiten unterstützt. Ihre Verbündete, Zipi Livni, hat die palästinensischen Verhandlungen immer weiter hinausgezögert, ohne dass der Frieden eine Elle näher gekommen ist. Labors Opposition gegenüber der rechten Wirtschaftspolitik war schwach.
Die Wahrheit ist, dass sich die LaborPartei nicht als Opposition eignet. Sie war 44 aufeinander folgende Jahre an der Macht gewesen (von 1933 – !977) zunächst in der zionistischen Organisation und dann im neuen Staat). „Regierend“ zu sein, hat sich tief ihrer Natur eingeprägt. Selbst unter Likud-Regierungen, war Labor nie eine entschlossene und wirksame Opposition.
Aber für die Linken ist die Hauptopposition gegenüber einer Einheitsregierung genau das, was Netanjahu veranlassen kann, sie einzusetzen: weil sie das große Feigenblatt liefert.
Die Labor-Partei in der Regierung wird jede ausländische Kritik von Netanjahus Politik und Aktionen dämpfen. Israels Linke, die – aus Verzweiflung – um ausländischen Druck auf Israel bittet, wie einen allumfassenden Boykott (BDS) und pro-palästinensische UN-Resolutionen, wird enttäuscht sein. Um solch eine Kampagne in Bewegung zu bringen, braucht man eine rechts-extreme Regierung in Jerusalem.
Unter dem Nationale-Einheit-Schirm kann Netanjahu fortfahren, die Siedlungen zu erweitern, die palästinensische Autonomie zu sabotieren, endlose Verhandlungen durchzuführen, die aber nirgendwohin führen, ja sogar von Zeit zu Zeit einen kleinen Krieg führen.
Nach vier solchen Jahren mag die Laborpartei aufhören, eine wirksame Kraft in der israelischen Politik zu sein. Einige könnten denken, dass dies eine gute Sache sei. Mit dieser degenerierten Kraft aus dem Weg, kann eine neue Generation politischer Aktivisten eine Chance haben, die schließlich eine reale Oppositionspartei schafft.
Vielleicht wird die Entscheidung dazu nicht in Jerusalem oder Tel Aviv getroffen, sondern in Las Vegas.
Ich habe einen heimlichen Verdacht, dass in Wirklichkeit Netanjahu seine Befehle von Sheldon Adelson erhält.
Adelson besitzt Netanjahu so sehr wie sein Casino in Macao und die US-republikanische Partei. Falls er einen republikanischen Präsidenten installieren will, um das Weiße Haus zu seinem Bestand von anderen Aktiva hinzuzufügen, muss er die Spaltung zwischen der Obama-Regierung und der israelischen Regierung vertiefen. Dies könnte die US-amerikanischen-Juden veranlassen, in Scharen zum republikanischen Banner zu strömen.
Wenn dieser Verdacht wahr wird, wird Netanyahu die Labor-Partei nicht wirklich umwerben, sondern sie nur als Trick benützen, um den Preis seiner voraussichtlich extrem rechten Partner zu drücken.
Zwei Juden sind auf einer Kreuzfahrt. Mitten in der Nacht weckt einer den anderen. „Schnell, steh auf! Das Schiff sinkt.“ Der andere gähnt nur. „Was kümmerst du dich darum? Ist es dein Schiff?“
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 11.04.2015 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.