Mexiko gewinnt immer mehr an Bedeutung. Nicht einfach, das zu verdeutlichen. Am eindrucksvollsten ist vielleicht die Tatsache, dass Mexiko, das zwischen Pazifik und Atlantik liegt, jetzt VIER Zeitzonen hat – irgendwie breitet sich Mexiko aus, wird immer größer ”¦ Im jüngsten Bundesstaat Quintana Roo auf Yucatan mit der größten Stadt Cancun gilt nun die New Yorker Eastern Time; in Niederkalifornien gehen die Uhren so wie in Los Angeles: nach Pacific Time. Grund der am 1. Februar eingetretenen Änderung ist der Fremdenverkehr.
Einige Mexikaner brauchten zur Oscarverleihung also nicht nur nicht länger aufbleiben, sondern noch nicht einmal eine andere Uhrzeit – die Armbanduhren der Moderatoren im Dolby Theatre zeigten dieselbe Zeit an wie die Tischuhren neben den niederkalifornischen Fernsehern. In Kalifornien gehen die Uhren nicht anders. Das mag einem einleuchten. Kalifornien, Niederkalifornien – was kann es da schon für einen großen Unterschied geben? Grenzen sie doch auch aneinander. Dennoch: Während es etwa so viele Kalifornier gibt wie Algerier oder Polen, wohnen in Baja California, wie Niederkalifornien auf spanisch heißt, weniger Menschen als in Berlin. Das liegt an den Bergen. Dabei ist der höchste Berg kaum höher als die Zugspitze. Trotzdem liegen fast alle Siedlungen dieses Bundesstaats an der Küste.
Nun denn, könnte man denken, hier ist der Hund verfroren, bzw. sagen sich Hase und Kojote Gute Nacht. Pustekuchen. Hier wurde 1996 das größte Filmstudio der amerikanischen Westküste gebaut. Große Teile des bis dahin erfolgreichsten Films – „Titanic“ – wurden hier gedreht! Vom Umsatz her ging „Titanic“ erst 2009 unter und wurde durch „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ vom 1. Platz verdrängt. James Cameron, den in den USA lebende Kanadier, wird das wohl gefreut haben. Führte er doch bei beiden Spielfilmen Regie, heimste für das sinkende Schiff allein drei Oscars ein. Die Oscar-Hitliste führt „Titanic“ (gemeinsam mit anderen Streifen) immer noch an; mit 14 Nominierungen und 11 Auszeichnungen. Kanada und Niederkalifornien sei dank.
2015 schlug in Hollywood die Stunde Mexikos. „Birdman“ wird für neun Academy Awards of Merit nominiert. Am 22.2. fiel die Entscheidung: „Birdman“ erhält vier Oscars, darunter drei aus den „Big Five“, den wichtigsten fünf. Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch. Für den Film erhalten ihn Alejandro G. Iñárritu, John Lesher und James W. Skotchdopole. Iñárritu erhält auch einen für die Regie. Vollständig wird sein Hattrick durch die Preisverleihung für das beste Originaldrehbuch: Der Oscar geht an: Alejandro G. Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Jr. und Armando Bó.
Mit dem Oscar für die beste Kamera wird Emmanuel Lubezki ausgezeichnet. Für den 1964 in Mexiko-Stadt geborenen Kameramann, Produzenten und Regisseur ist es der zweite Kameraoscar. Bereits im Vorjahr erhielt er einen für „Gravity“ mit George Clooney und Sandra Bullock. Der drei Jahre ältere Regisseur Alfonso Cuarón, der auch aus der Hauptstadt stammt, sackte bei der Gelegenheit zwei Oscars ein, für die Regie und den Schnitt. Zehn Jahre jünger als Cuarón ist Antonio Sanchez, der in New York lebende Jazz-Schlagzeuger, der die Musik zu „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ komponierte. Sanchez erhielt auch den Satellite Award für die Beste Filmmusik. Der diesjährige Oscar ging hingegen an Alexandre Desplat, der gleich zweimal in derselben Kategorie nominiert war.
In „Birdman“ geht es um den Schauspieler Riggan Thomson, der einst einen gleichnamigen Comichelden verkörperte, dann jedoch nicht an den Erfolg anknüpfen konnte. Doch irgendwie lässt ihn der Superheld nicht los. Thomson, gespielt vom oscarnominierten Michael Keaton, versucht sich nun in einer Rolle in der Bühnenadaption von Raymond Carvers Short Story „What We Talk About When We Talk About Love“. – Bester Hauptdarsteller 2015 wurde Eddie Redmayne als Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“.
„Birdman“ war neben „Grand Budapest Hotel“ der erfolgreichste Film bei der diesjährigen Oscarverleihung: beide wurden neunmal nominiert und viermal ausgezeichnet. „Grand Budapest Hotel“ aber in nicht ganz so wichtig betrachteten Kategorien. Neben dem erwähnten Desplat für Musik für Szenenbild, Kostümdesign (Milena Canonero) und Make-up/Frisuren. Der „Gesamtsieg“, wenn man das überhaupt so sagen kann, ging also nach Nordamerika, auch wenn viele Mexiko dort nicht vermuten.
Bleibt nachzutragen, welche „Birdman“-Nominierungen lediglich solche blieben: Außer dem erwähnten Hauptdarsteller die Nebendarsteller Edward Norton und Emma Stone (Sieger: J.K.Simmons in „Whiplash“ und Patricia Arquette/“Boyhood“), die Kategorie Bester Ton mit Jon Taylor, Frank A. Montaño und Thomas Varga (Gewinner: Mann/Wilkins/Curley für „Whiplash“) und Bester Tonschnitt mit Martín Hernández und Aaron Glascock (hier triumphierten Alan Robert Murray und Bub Asman/American Sniper). Dieser biographische Film von Clint Eastwood zählte am Sonntag zu den Verlierern, von sechs Nominierungen realisierte sich nur eine Hoffnung. Der Shootingstar an den Kinokassen wird sich durch den Kassensturz trösten können. Überhaupt haben von den Mehrfachnominierten nur drei auch mehrere Preise eingefahren: die beiden genannten und „Whiplash“, der neben den vermerkten Rubriken auch noch den Schnitt dominierte.
„Foxcatcher“, „Mr. Turner“, „Into the Woods“, „Wild“, „Guardians of the Galaxy“ und andere gingen trotz mehrfacher Aufstellung am Ende sogar ganz leer aus, obwohl es sich durchaus nicht um schwache Mitbewerber handelt. Das starke Feld dieses Jahr vergrößert noch den Wert der errungenen Trophäen.
Aber nicht nur im Ausland werden mexikanische Leistungen anerkannt, auch im Lande selbst tut sich etwas. Nachdem sich durch Korruption und andere Verbrechen die Situation teils schwierig bis unerträglich gestaltet, treten nun Menschen mit Zivilcourage beherzt für Frieden, Ehrlichkeit und Gesetz ein. Die ARD meldete: „Seit Oktober werden 43 Studenten aus Ayotzinapa vermisst. Künstler und die Eltern der mutmaßlich ermordeten Studenten haben sich zu einer Bewegung zusammengeschlossen.“ Der Ort liegt im südlichen Bundesstaat Guerrero am Pazifik. ‚Guerrero‘ bedeutet in der Landessprache ‚Krieger‘, mehrere Guerillagruppen sind hier aktiv. Bekannt ist dieser Landesteil durch das Seebad Acapulco de Juarez mit seinen „Todesspringern“. Das sind Klippenspringer, Profis, die nun schon seit 1934 mehrfach täglich aus etwa 34 Meter Höhe ins Wasser springen.
Am 22.2. um 23.05 Uhr wurde in ttt – Titel, Thesen, Temperamente erstmals das 7minütige Video „Mexiko – Künstler gegen das Verbrechen“ ausgestrahlt. Rapper Lengualerta und Filmemacher Epigmenio Ibarra sind unter den Tugendhaften, die sich gegen Gewalt richten. Der Präsident soll, nachdem er die Nachricht vom Verschwinden der 43 Leute erhielt, Golf spielen gegangen sein. Um zu reagieren, brauchte er 12 Tage, später sagte er: „Kommt endlich darüber hinweg.“ Der Generalstaatsanwalt sagte bei einer Pressekonferenz zum Thema: „Ya me canse“ – „Mir reicht es.“
"Künstler für Ayotzinapa" ist der Titel einer Aktion, bei der 200 Künstler mitmachten, die die 43 Verschwundenen malten. Ibarra stellte die Bilder in Mexiko aus und sendet regelmäßig elektronische Kopien an die Regierung. „Ayotzinapa sind wir alle“, sagt er.
Musiker Lengualerta sagt, man lebe schon lange in einem unsichtbaren Krieg. „Aber Ayotzinapa war eine Zäsur. Die Gleichgültigkeit, mit der wir alles hinnahmen, was uns widerfuhr, ist Vergangenheit. Stattdessen sagen wir jetzt: ‚Es reicht. Ich habe genug‘ – ‚Ya me canse‘.“
Das ist ein Vorbild für die Welt.