Grund genug für die Oper Bonn, sich des seit der Mailänder Uraufführung im Jahr 1845 in der internationalen Aufführungspraxis eher vernachlässigten Werkes selbstbewusst anzunehmen. Dabei geht sie nun noch einen Schritt weiter, indem sie es an den Anfang einer Reihe von „Neubefragungen früherer Verdi-Opern“ stellt. Ein dankenswertes Vorhaben, das bereits im Vorfeld aufhorchen lässt und nicht nur bei Verdi-Enthusiasten die Erwartungen hoch schraubt.
Kaum zu überbietende Dramatik
Sie richten sich natürlich zunächst auf die musikalischen Feinheiten in diesem Frühwerk Verdis, das dieser nach eigenem Urteil bereits als einen ersten Höhepunkt seiner vorangegangenen Schaffensperiode betrachtete. Denn hier entfaltet er im Übergang von der vorherrschenden Belcanto-Ära in der Tat eine neue Stilrichtung, die den Charakter des Opernschaffens für ein halbes Jahrhundert bestimmen sollte. Durch Arien und Chorpassagen in kaum zu überbietender Dramatik und dann wieder fein ziselierten Reflexionen, die in ihrer schlichten Schönheit wie Diamanten hervor strahlen.
Ein hoher Anspruch an Will Humburg, dem die musikalische Leitung dieses Premierenabends obliegt. Einfühlsam und doch zupackend ist er akribisch darauf bedacht, das engagiert aufspielende Beethoven Orchester Bonn, die Solisten sowie den Chor und Extrachor des Theater Bonn (Einstudierung Christopher Arpin, Christopher Sprenger, Thomas Wise und Adam Szmidt) miteinander in Einklang zu bringen.
Verehrung und Verachtung
So schafft er Raum für die drei handlungstragenden Solistenpartien, an erster Stelle natürlich die tragische Figur der Giovanna (Jacquelin Wagner). Immer weiter hineingestoßen in das Spannungsfeld von himmlischer Berufung und körperlicher Liebe kann sie sich der Attacken dämonischer Geister, die sie als „albernes Bauernmädchen“ aufs Korn nehmen, nur schwer entziehen.
Ebenso wenig entgeht sie den Respektlosigkeiten der aufgebrachten Volksmenge, deren höchste Verehrung urplötzlich umschlägt in abgrundtiefen Hass. Ein Wechselbad der Gefühle, in dem Glaube und Wahnsinn eine nicht deutlich voneinander zu trennende Beziehung eingehen. Für die Solistin eine stimmliche Bewährungsprobe, die sie allerdings mit ihrem klangvollen Sopran durch alle Gefühlslagen hindurch hervorragend meistert.
Betörende Strahlkraft
An Giovannas Seite tritt der zunächst noch ungekrönte König Carlo VII. (George Oniani). Damit bahnt sich eine von ihr ungewollte „irdische“ Liebe an, vor der Engelsstimmen sie eindringlich warnen. Doch wegen seiner heftigen Avancen sowie seines Verzichts auf soziale Distanz („Sprich, befiehl über mich!“) lässt sie sich zunächst von seiner Zuneigung vereinnahmen. So gewinnen mit Hilfe seiner stimmlichen Präsenz die zahlreichen über das Werk verteilten Duette eine geradezu betörende Strahlkraft.
Und doch ist es Giacomo, Giovannas Vater (Maxim Aniskin), der als dramaturgisch wichtigste Figur die Handlung vorantreibt. Zwischen Mitleid und Verblendung hin- und hergerissen, bricht er, stimmlich einfühlsam und packend zugleich, immer stärker aus seiner Vaterrolle aus und wird schon bald zum Verräter seiner Tochter. Damit beschwört er deren Tod herauf, den er schließlich in der fortschreitenden militärischen Dynamik (Christian Georg als französischer Offizier Delil und Martin Tzonev als englischer Kommandeur Talbot) nicht mehr verhindern kann.
Videokunst als Stilmittel
Neben den durchweg ausgezeichneten sängerischen Leistungen hat die von der Bonner Oper intendierte „Neubefragung“ des Werkes jedoch einen anderen Schwerpunkt. Er liegt bei den Opernvideokünstlern Momme Hinrichs und Torge Möller, die gemeinsam die Arbeitsbereiche Inszenierung und Bühne verantworten. Unglaublich, wie sie mit kaum nachvollziehbaren Kunstgriffen das Bühnenbild in Sekundenschnelle verändern und dabei einen klar strukturierten Kirchenraum in einen unwegsamen Wald verwandeln. Ein überzeugendes und zugleich Kosten sparendes Mittel für zukünftige Operninszenierungen?
Trotz der unübersehbaren Vorteile drohen beide Künstler im Überschwang ihrer handwerklichen Fähigkeiten zuweilen jedoch über das Ziel hinaus zu schießen. Denn ständig wird das Motiv des Feuers bemüht, bis schließlich Giovanna, abweichend von der Vorlage, doch noch in den Flammen endet. Nun jedoch, erneut abweichend von der Historie, nicht auf einem Scheiterhaufen, sondern – versehen mit einer Dornenkrone – am Kreuz. Hingerichtet nicht, wie erwartet, durch die Engländer, sondern durch ihre eigenen Landsleute.
Dimension des Jenseits
Und dennoch triumphiert die jenseitige Dimension, als sich die Seele der Jungfrau, gereinigt von aller unterstellten Schuld, unerwartet von ihrer Leiblichkeit trennt. Begleitet von einem sich am Himmel ausbreitenden Sternenlicht, das bereits in diesem Moment ihre Heiligung anzukündigen scheint. Eine großartige Gesamtleistung, die vom Publikum mit lang anhaltendem Applaus gewürdigt wird.