Der frühere Grünen-Politiker, nach Seiteneinstieg schnell oben auf der Karriereleiter als Sport-Funktionär, merkte beiläufig an, erst wenn man das Schriftstück gelesen habe, könne man sich ein Bild machen… Vesper hat zu beruhigen versucht – sich selbst, die Führung des DOSB, das vom Bundesinnen-Ministerium (BMI) alimentierte Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BiSp), die Medien und Öffentlichkeit.
Dass soviel brisantes Material durch die Studie zusammenkommen würde, hat von den nun höchst alarmierten Stellen kaum jemand gedacht. Denn bevor das BiSp 500 000 Euro für das Forschungsprojekt auslobte, waren die zentral gelagerten archivarischen Bestände zum Thema geschreddert worden. Ein Vorgang, der in manchen Bundesbehörden – siehe Verfassungsschutz u.a. bei den NSU-Morden – offenbar zum unverzichtbaren Ritual gehört.
Doch in der föderalen Bundesbürokratie hatte man Nebenarchive nicht durchforstet. Was dabei den Doping-Fahndern unter Leitung von Giselher Spitzer in die Hände fiel, führte zu dem Urteil, dass Doping seit Beginn der 70-er Jahre in Westdeutschland mit Billigung und Unterstützung regierungsamtlicher Institutionen betrieben wurde! Mit allem, was man sich denken kann: Anabolika, Wachstumshormone (aus Leichen entnommen), epo-Einsatz. Meist in Abstimmung mit Zuständigen aus dem Bonner Gesundheitsministerium gab es Steuergelder und grünes Licht für diverse Forschungsgruppen. Ob die Hormongabe mit Anabolika auch für Mittel-und Langstreckenlauf leistungsfördernd sei? Wie sich die Antibaby-Pille bei Sportlerinnen auf das Leistungsvermögen auswirke? Ob jugendliche Schwimmer schneller würden?
Abgesegnet wurden diese und andere Versuchsreihen nach dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel". Es galt die Sport-Großmacht DDR bei den Heimspielen 1972 in München zu schlagen!
Dass dies misslang, hat auch damit zu tun, dass man oft weniger systematisch und weniger wissenschaftlich als in der DDR vorging. So lösten sich 250 000 D-Mark Anschubfinanzierung buchstäblich in Luft auf, als man in Vorbereitung auf die Schwimm-Wettbewerbe 1976 in Montreal auf die Idee verfiel, den bundesdeutschen Akteuren per Lufteinführung in den Dickdarm zu einer besseren Wasserlage zu verhelfen. Eine beteiligte Firma wollte das Projekt retten und versprach, geeignete Stöpsel herzustellen. Denn bei jedweder Bewegung entwich die Luft – mitunter hörbar…
West-Doping-Abwiegler Vesper meint, das Doping in der DDR, basierend auf staatlicher Verfügung und sportartenübergreifend angewendet, sei moralisch verwerflicher als die Dopingpraxis in der alten Bundesrepublik. Weil es "Zwangsdoping" gewesen sei im Osten! Was weitgehend zutrifft, denn wenn Trainer oder Spitzensportler sich verweigerten, mussten sie sich aus dem sozial attraktiven Leistungssport verabschieden.
Diesem direkten Druck waren die meisten Aktiven mit dem Bundesadler auf dem Trikot nicht ausgesetzt. Trainer, Mediziner, Funktionäre waren meist Überzeugungstäter, was die Sache an sich nicht besser macht. Es galt ja den bösen Roten, Sozis und Staats-Amteuren des Ostblocks den Platz auf dem Medaillentreppchen zu verwehren! Allerdings waren die Qualifikations-Vorgaben der meisten Verbände im Westen so hoch, dass die nur mit Doping zu erreichen waren. Als ein westdeutscher Diskuswerfer vor den 72-er Spielen darauf aufmerksam machte, erhielt er vom DSB-Präsidenten Daume keine Antwort.
Ein anderer Werfer, gefeierter Olympiasieger 1972, gab in den Euphorie-Wochen nach dem Mauerfall zu: "Wer leugnet, dass in für Doping relevanten Leichathletik-Wettbewerben bundesdeutsche Sportler nicht auf Anabolika zurückgegriffen haben, ist entweder naiv oder ein Heuchler."
Die Stunde der Heuchler schlug in der Wendezeit nach 1990. Mehr als zwei Jahrzehnte wurden der DDR-Sport und dessen Doping an den Pranger gestellt. Mit angeblichen Aufträgen aus dem Bundestag und D-Mark-Bestechungsgeldern wurden die eingeschüchterten Sportmediziner im Osten zur Herausgabe von Doping-Unterlagen veranlasst. Die teilweise illegal erworbenen Dokumentationen wurden veröffentlicht. Anschuldigungen, Prozesse – im Grundgesetz verbriefter Datenschutz und Persönlichkeitsrechte spielten keine Rolle. Ganz im Gegensatz zur aktuellen Studie, in der viele Namen geschwärzt sind. Eine Ungleichbehandlung, die Bürger der ehemaligen DDR auf vielen Ebenen widerfuhr – siehe die (sicher angebrachten) Stasi-Überprüfungen bei Bundestags-Abgeordneten.
Als der Sportausschuss des Bundestages nach der Wiedervereinigung ein Forschungsprojekt "Doping-Missbrauch in der DDR" inklusive einer sechsstelligen Summe ausschrieb, bewarb sich ein Crossover-Student (Geschichte, Sozialwissenschaften, Sportwissenschaften), der seinen Dr. paed. gemacht hatte, aus den alten Bundesländern. Heute wird Giselher Spitzer als Historiker geführt. Er trug zusammen, was hier und da schon erschienen war. Ergänzte das Material durch Befragungen und nach Sichtung weiterer Berichte. Das trug ihm – weitgehend im Mainstream bundesdeutscher Wahrnehmung – "DDR-Sport war ein Gruselkabinett" – u.a. die Heidi Krieger-Medaille (ein DDR-Dopingopfer) sowie von 1994 bis 2004 eine Lehrstelle an der Uni Potsdam ein.
Dass auch westlich der Elbe kräftig geschluckt und gespritzt wurde, war ihm da noch nicht so bewusst. Auch das Schicksal prominenter Dopingopfer der BRD tangierte ihn kaum. Die Siebenkämpferin Birgit Dressel, der Kugelstoßer Ralf Reichenbach, der Hammerwerfer Uwe Beyer, ein Wurftrainer aus Leverkusen – allesamt nach vermutlich exzessivem Medikamenten-Gebrauch zu früh aus dem Leben geschieden…
In der neuen Studie tauchen aus Angts vor juristischen Folgen kaum Namen auf. Die hat Thomas Bach nicht zu befürchten. Allerdings kommt der mediale Hype um die Studie dem aktuellen DOSB-Präsidenten, dessen Nachfolge Vesper anstrebt, zu einem unpassenden Moment. Bach kandidiert für das höchste Amt im Weltsport – Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Konkurrenten könnten auf den Gedanken kommen, dass der Fecht-Olympiasieger 1976 in der Hochzeit des weltweiten Dopings da doch etwas mitbekommen haben müsste. Zur Aufklärung jedoch bisher kaum beigetragen hat.