Wohlfühlen im Wasserland – Zwischen Ostseeküste, Amazonas-Urwald und Meerchen

Kajak-Träume auf dem Amazonas des Nordens

Das dünne blaue Schlängelband des Peene-Flusses fällt mir beim Kartenstudium kaum ins Auge. „Die Landschaft des Urstromtals um so mehr“, macht  mich Antje Enke, die Leiterin der Kanustation Anklam neugierig. Die Peene – noch so etwas wie ein Geheimtipp? Auf jeden Fall ein Abenteuer.

Langsamkeit und Entschleunigung

„Mit über 100 schiffbaren Kilometern ist sie nicht nur der längste und tiefste Fluss des nordöstlichen deutschen Bundeslandes“, weiß Antje, „sondern gilt außerdem als das idyllischste Fließgewässer Norddeutschlands“. Ein unzerstörtes, kaum besiedeltes Paradies, das kürzlich dafür mit dem EDEN-Award für sanften Tourismus ausgezeichnet und damit geadelt wurde. Jährlich nutzen das etwa 10.000 Naturbegeisterte. Antje und die rund 25 Mitarbeiter vom Netzwerk „Abenteuer Flusslandschaft“ sind immer dann zur Stelle, wenn man sie braucht.

„Unterm Kiel haben wir genug Wasser“, scherzt Antje und erklärt mir dann, dass „die natürliche Tiefe des Flusses zwischen drei und vier Metern liegt, aber das Gefälle auf 100 Kilometer gerade mal 28 Zentimeter beträgt“. Weil die Strömung so schwach sei, könne ich trotzdem ohne großen Kraftaufwand „gegenan“ fahren. Die Freuden der Langsamkeit und Entschleunigung stellen sich fast von selbst ein. Ein bisschen aufgeregt bin ich nur, als ein Biber knapp vor meiner Kajaknase ungerührt die Ufer wechselt.

Die biegsamen Schilfhalme neigen sich unter dem Wasserschwall meines Paddels respektvoll zur Seite. „Blumenpflücken inbegriffen“, erinnere ich mich an Antjes lockere Worte und kann es kaum fassen, dass es so was Exotisches in Deutschland noch gibt. Sie selbst nutzt dieses Angebot, um oft nach getaner Arbeit mit ihrem Zedernholz-Kanadier „nach wenigen Paddelschlägen die Stille des Flusses zu spüren“.

Urwald-Impressionen

Wie zur Bestätigung treiben schwimmende Gras- und Blumeninseln auf mein Boot zu: Amazonas-Impressionen en miniature. „En gros“ habe ich sie schon des öfteren erlebt. Mecklenburg-Vorpommern kann ihnen durchaus sein klares Wasser reichen.

Stunden später nach vielen hundert muskelstärkenden Paddelschlägen auf dem Kummerower See: Als glutroter Ball taucht die Sonne hinter den gewellten Bornitzbergen unter den Horizont. Bilder des Greifswalder Romantikers Caspar David Friedrich steigen vor mir auf, überlagern die traumhafte Realität. „Hier bliwt allens bi ´n ollen!“, stellte dazu schon der mecklenburgische Heimatdichter Fritz Reuter auf Plattdeutsch fest. Übersetzt heißt das: „Hier bleibt alles beim Alten!“ Ein Glück!, denke ich erleichtert und steure das Dörfchen Salem an. Das heißt so viel wie Frieden, Arabisch, aber durchaus assend.                                                                                                    

Frühmorgens in Anglers Paradies

Auch dass die Müritz, das altslawische „Meerchen“, durch Stille glänzen kann. Sie kann auch anders, wenn die Winde sie als Spielpartnerin entdecken.

Ein paar Fischer lassen ihre Netze nach nächtlichem Fang in der Morgensonne trocknen, während ich als touristischer Hobby-Angler – in Mecklenburg-Vorpommern angelscheinfrei – regungslos am Schilfrand in meinem Kahn sitze und auf einen Biss warte.

Aus dem Uferwald weht der Wind Vogelstimmen herüber. Sie locken wie Sirenen. Doch ich bleibe – wie meine Nachbarn ein paar hundert Meter weiter – standhaft. Nur eine zuckende Pose könnte mich jetzt aus der Starre locken.

Langsam kriecht die Sonne über den Schilfrand des mit 14 mal 29 Kilometern größten deut-schen Sees und verdrängt einzelne Nebelschwaden. Bald strahlt der scheinbar endlose See-spiegel. „Jetzt müssten sie nur noch beißen“, murmele ich vor mich hin. Sie, das sind Barsche, Hechte, Zander und Aale, aber auch die große und kleine Maräne. Sie sind, so habe ich mal gelesen, ein Indiz für besonders sauberes Wasser.

Heilende Kräfte für die Seele

„Fisch gibt ´s hier satt“, meint Berufsfischer Steffen Steinbeck im Warener Hafen, „da kommt niemand zu kurz“. Auch Nicht-Angler, die beim ihm den tagesfrischen Fang – nach dem einprägsamen Motto „Regional – beste Wahl“ – begutachten. Steffen Steinbeck und seinen rund 31 Kollegen sei Dank! Sie sind in dem Betrieb Müritz-Plau organisiert, der mit 26.000 Hektar größten Binnenfischerei Deutschlands. Leben können sie von dem, was die Natur ihnen bietet, ganz gut, sagt Sebastian Paetsch junior. Den Assistenten der Geschäftsleitung begeistert schon seit seiner Jugend der Umgang mit Natur und Fisch. Touristen verkauft er auch Angel-Tagestickets an Touristen. Über 1000 pro Jahr. Beliebt seien auch seine geführten Angeltouren.

Wie er die Zeit am besten ausblenden könne? „Beim morgendlichen Netze aufnehmen in freier, klarer Luft. Die Stimmung auf dem Wasser ist immer wieder atemberaubend“. Und er schwärmt: „Die einmalige Natur hat fast schon heilende Kräfte für die Seele“. Dabei könne er komplett abschalten.

Während die Fischer von heute unter Motor auf Fang gehen, „war das früher gaaanz anders“, sagt Paetsch und meint die Zeesenboote, auf Plattdeutsch verkürzt Zeesboote genannt. „Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts“, erklärt er, „wurde damit gefischt“. Bis in die 70er Jahre waren sie, sagt er mir, in der DDR auf Bodden, Haff und Sund im Einsatz: rund zehn Meter lang, robust aus Holz breitrumpfig, gaffelgetakelt und flach.

Wasserfreiheit unter Segeln

Kirsten Dubs hat damit immer noch zu tun. Sie ist nicht etwa Fischerin, sondern Bootsbauerin im betriebsamen Fischereihafen Freest am buchtenreichen Greifswalder Bodden, der sich hier weit zur Ostsee öffnet, zwischen Rügen und Usedom.

Sie restauriert, wie man in der Halle sieht, nicht nur solche alten Segler, „sondern ich baue auch komplett neue“, ist sie stolz. Das ist ihre kreative Art, die Zeit zu verbringen. Wobei sie noch eine ganze Palette von Wasser-Aktivitäten anbieten kann. Viele Urlauber wiederum verbringen damit ihre Urlaubszeit.

Die Fahrt mit einer Zeese ist ein Höhepunkt: wenn die teerbraunen Segel an den beiden Masten aufsteigen und sich knatternd langsam mit Wind füllen, der Holzrumpf sich schräg legt, einen Schaumstreifen hinter sich her zieht und ein paar Möwen hungrig im Kielwasser schreien. Der Küsten-Ohrwurm „Wo die Ostseewellen trecken an den Strand”¦“ kommt mir in den Sinn, und ich beginne ihn zu summen. Wie eine Feder zieht die Zeese dahin, losgelöst von Zeit und Raum – zum Luftholen und Ballast-über-Bord-Werfen.

Nur die Natur hat das Sagen

Die Skipperin am Ruder ist natürlich Kirsten Dubs. Sie hält auf die Rügensche Halbinsel Groß Zicker zu, deren lehmgelbe, von der See angenagte Steilküste voraus leuchtet. Hier hat einzig die Natur das Sagen, die die Küste nach ihren Plänen gestaltet: mit Findlingen übersät, Stand aufhäuft und Treibgut anspült. Die gischtige Luft schmeckt salzig, legt sich uns auf die Haut. Ich habe das Gefühl, auf See zu sein, aber mit doch Land vor Augen. Von Ferne grüßen die gotischen Backsteintürme der Hansestadt Greifswald. Bis Kirsten nach einer zünftigen Wende wieder den Heimathafen ansteuert. Der ablaufende Film könnte „Wasserträume“ heißen.

„Rund um die Boddengewässer“, informiert sie, „kann man Zeesen mit Skipper chartern und so einen wunderschönen Tag unter historischen Segeln erleben“. Wie wir heute.

Eine ganz andere Wasserfreiheit kann man als Skipper erleben, zum Beispiel auf dem Schweriner See.

Hausboot-Törn mit Schloss-Kulisse

Der schneeweiße fast 13 Meter lange Liner lässt mein Herz höher schlagen. Eine Schnupper-Kreuzfahrt der besonderen Art liegt vor mir und meiner Boots-Frau.
Dank Einweisung kann ich unseren „Luxusliner“ führerscheinfrei aus dem Kuhnle-Tours-Hafen am Schweriner See manövrieren, „eine der schönsten im Lande“, meint der schwäbische Hausboot-Pionier Harald Kuhnle. 130 Haus- und Segelboote nennt er sein eigen und be-schäftigt in Mecklenburg-Vorpommern rund 70 Mitarbeiter.

Als stolzer Skipper behalte ich den Überblick vom Freiluft-Steuerstand aus. Das türmchen-bewehrte „Märchen“-Schloss der Landesregierung lassen wir erst mal an Steuerbord liegen. Nach dem Faulenzen in irgendeiner Badebucht wollen wir abends zu den Schlossfestspielen dampfen und danach die Schweriner Gastronomie ausprobieren.

Gleichzeitig zu Hause und unterwegs

Ein munterer Westwind hat den Seespiegel aufgeraut. Frisches Waldgrün in verschiedenen Schattierungen spielt Horizont. Zwischen den Stämmen drängeln sich Freizeithütten ans Licht, Boote dümpeln an den Stegen. Die Dampfer der Weißen Flotte liegen noch fest vertäut an den Pfählen und warten auf Gäste. Der zweitgrößte See des Landes bietet ihnen auf rund 25 Kilometer Länge Natur pur. Allerdings im Schnelldurchgang.

Wir hingegen tuckern im Zehn-Kilometer-„Tempo“ gemächlich dahin. Quer über den See mit Panoramablick auf Wälder, Wiesen und Felder. Und die Sonne lacht dazu. Für Harald Kuhnle, der gern auch mal mit seiner Familie am Wochenende oder in den Ferien per Haus-boot „um die Ecke“ fährt, „ist das Tolle an der Zeit auf dem Boot, dass jeder tun und lassen kann, was er will, man gleichzeitig zu Hause und unterwegs sein kann und jeder genug Freiheiten hat und sich auch mal zurückziehen kann“.

Drehendes Restaurant mit Seeblick

Eine windgeschützte Bucht bei Zippendorf verlockt zum Ankern und Übernachten. Das klare Gewässer, wurde vor rund 10.000 Jahren von eiszeitlichen Gletschern ausgeschürft.

Zwei mächtige Buchenstämme dienen achtern als Festmacher an Land. Ihre grünen Kronen breiten sie schützend über dem Boot aus. Aus der Kombüse duftet es appetitanregend. Meine Boots-Frau selbst am Herd, und ich als Skipper spendiere schon mal ein Glas Wein. Leckere Düfte lassen Gaumenfreuden ahnen.

Der Wind spielt mit dem ankernden Boot. „Drehendes Restaurant mit See- und Grünblick“, kommentiert das meine Reisebegleiterin.

Der Abend klingt aus bei Wein und Kerzenschein im gemütlichen Salon. Leise plätschern Wellen gegen den Rumpf – eine traumhafte Einschlafmelodie in kuschligen Kojen. Der Wind lässt die Blätter rauschen, durch die der Honigmond blinzelt. Kuckuck und Nachtigall schicken ihre Melodien über das Gewässer.

In der Marina heißt es für uns am nächsten Morgen: Ende der Reise. Abwechslungsreiche See-Meilen, ein Bruchteil von vielen hundert möglichen auf Europas größter Wasserlandschaft, liegen hinter uns. Und der See-Mann in mir freut sich, mal wieder „richtig Kapitän“ gewesen zu sein.

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