Gut 300 Leute hatten sich am Sonntag auf dem August-Bebel-Patz in der Berliner Mitte getroffen: Juden, Muslime, Christen und Atheisten protestierten gemeinsam gegen die Diskriminierung jüdischen Lebens und jüdischen Glaubens durch einen Richterspruch des Landgerichts Köln, der die rituelle Beschneidung jüdischer Knaben am 8. Tag nach ihrer Geburt als »gegen das Kindswohl gerichtet« unter Strafe stellt.
Frau Lala Süßkind, die ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde zu Berlin, zeigte sich erschreckt, dass deutsche Behörden Entscheidungen gegen jüdische Traditionen treffen können und – schlimmer noch – dass so viele Deutsche drauf springen und sagen: »Endlich können wir denen eine einschenken!« »Mit welchem Recht sollten Juden nach dem Willen des Berliner Justizsenators Thomas Heilmann vor der Beschneidung eines Knaben ihre Religionszugehörigkeit angeben? Vor 75 Jahren hätte ich den gelben Stern tragen müssen.»
Der Protest war organisiert vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus, weiteren Unterstützern und von der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Deren Vorsitzender, Kenan Kolat, betonte die Solidarität beider Glaubensgemeinschaften. Das Urteil trifft auch muslimisches Leben. Niemand werde die Beschneidungen stoppen. »Wir werden nicht zu Beschneidungen ins Ausland fahren. Dort machen wir Urlaub!«
Strafanzeige für jüdische Rituale
Der Rabbiner Yitzhak Ehrenberg hielt ein Papier hoch, eine Strafanzeige. Sie war ihm zugegangen, weil er erklärt hatte, die Juden würden ihre alten Riten der Beschneidung fortsetzen. Die Juden fühlten sich tief gedemütigt. In Auschwitz habe er diese Woche die Stätten gesehen, wo 1 500 000 jüdische Kinder vergast und verbrannt wurden. Und jetzt kämen deutsche Juristen, die die Beschneidung von Babys als Körperverletzung verurteilen und sagen, man solle den Mann mit 18 entscheiden lassen. In der jüdischen Religion wäre dieses Verbot schlimmer als die physische Vernichtung, denn jeden Tag nach dem achten Tag, (an dem die Bescheidung vorgenommen werden muß), begehen die Juden Unrecht vor Gott, weil sie ihre Pflichten aus dem Talmud verletzen. Ehrenberg forderte: »Nehmen Sie diese Entscheidung zurück, bis ein Bundesgesetz eine Regelung getroffen hat!«
Und dann blies er den Schofar – das Widderhorn, der schon in biblischenZeiten als Signalinstrument bei Gefahr oder im Kriege gebraucht wurde. Leute, hört!
Der Rabbiner Tovia Ben-Chorin spitzte zu: »Sind die Mediziner jetzt die neuen Götter? Haben die Juden mit der Beschneidung weniger Nobelpreisträger und weniger Sex?« Die Brit Mila sei Zeichen einer Gemeinschaft, der Gemeinschaft der Juden. »Was in unserer Seele passiert, geht Sie nichts an!«
Trotz ihrer Verärgerung zeigten sich alle Redner, auch Kenan Kolat und der Journalist Özgür Özata, versöhnlich. Der Deutsche Bundestag solle ein Gesetz beschließen, das die Beschneidung juristisch und medizinisch regelt. Die gut gemeinte Entscheidung der Justizsenators Thomas Heilmann, das Verbot in Berlin nicht anzuwenden, sei keine Lösung.
Spontan meldete sich Wolfgang Thierse (SPD), Vizepräsident des Deutschen Bundestages und gläubiger Katholik, zu Wort. Solle es üblich werden, dass der Staat definiere, was zum Kernbereich des Glaubens gehöre? Werde das Menschenwohl jetzt nach medizinischen oder materiellen Kriterien beurteilt? Er werde sich für ein Gesetz einsetzen, das den Juden und den Muslimen die Beschneidung straffrei erlaube.
Deutsche Klugscheißerei
Unter den Kundgebungsteilnehmern regte sich Widerspruch. »Wozu brauchen wir überhaupt ein Gesetz?«, fragte der Lehrer Ronald Flug. »Warum ein Gesetz für etwas, das für uns Juden selbstverständlich ist? Wir haben vor und nach dem Holocaust so gelebt. Die Bundesrepublik hat es 60 Jahre lang versäumt, die Deutschen im Schulunterricht über die Weltreligionen aufzuklären. Frau Bundesministerin Schawan sollte lieber einen wissenschaftlich fundierten Unterricht einführen, als sich von diesem Urteil persönlich verletzt zu fühlen.« Es sei eine »Chutzpe dick«, eine unverschämte Frechheit, dass deutsche Gerichte über die mehr als tausendjährige reiche Kultur der Juden entscheiden. »Die deutsche Klugscheißerei ist unerträglich.«
Wo war die Linkspartei?
Das Auftreten von Politikern hat – bei aller ehrlichen Überzeugung – stets auch eine Wahlkampf-Komponente. Wolfgang Thierse, der nicht mehr für den Bundestag kandidieren wird, jedenfalls repräsentierte nicht nur sich selbst, sondern auch seine Partei.
Ein Politiker der LINKEN stieg nicht aufs Podium unter dem blauen Zeltdach. Wo waren die Genossen? Wo war der Berliner Landesvorsitzende Klaus Lederer? Wie man erfährt, in einer Klausur, in der »mehr Respekt« für die ostdeutschen Landesverbände durchgedrückt werden sollte. Dringlicher wäre es gewesen, Respekt für die zehntausenden in Berlin lebenden Juden auszudrücken. Der Kampf gegen den Antisemitismus steht an einem Punkt, wo der Spaß aufhört.
Dass es nicht gelungen war, mehr als 300 Protestierende zu mobilisieren, ändert nichts am Problem: Deutsche Richter, deutsche Ärzte, deutsche Finanzbeamte und deutsche Polizisten haben die Juden drangsaliert, ausgeplündert und der Vernichtung preisgegeben. Wo bleibt die politische Bewegung, die sagt: »Schluß«? Eine Demokratie ist so stark wie der Schutz ihrer Minderheiten. Diese zählen nach Millionen (Juden, Sinti und Roma, Türken, Araber, Russen, Polen, Kurden, Vietnamesen und andere). Welche deutsche Verfassung garantiert ihre Rechte? Auf dem Papier und in der Praxis? Keiner der Redner berief sich auf die sonst gern zitierte Zeile »Die Würde des Menschen ist unantastbar!«. Glauben sie nicht daran?
O Deutschland, bleiche Mutter.