Kind ohne Zimmer – Eine geniale Inszenierung am DT nach Texten von Annett Gröschner

Es ist dem Team Annette Kuß, Sigi Colpe und Birgit Lengers aufs eindringlichste gelungen, Interviews von Annett Gröschner in Szene zu setzen. Was die Autorin Gröschner (zuletzt erschien ihr Berlin-Roman „Walpurgistag“) in den Tiefen der Raumsuche menschlicher Existenzen fand, lässt niemanden kalt. Bei gefühlten 50 Grad Raumtemperatur spielen sechs jugendliche Laiendarsteller Szenen von Unbehausten. Alle ein kleiner Paul allein zu Hause, voll kindlich geprägter und dennoch weiser Selbstwahrnehmung, ob das Erfahrungsspektrum bis zum Alexanderplatz oder weit darüber hinaus reicht. Diese halben Kinder scheinen Zwitterwesen zu sein, dem Spiel und Trotz noch nicht entkommen, aber schon reflektierend, grimmig märchenerzählend und salbadernd.

Ein Kinderzimmer, Matratzen, Plüschtiere bilden den variablen Bühnenraum, in dem Jugendliche von ihrer Einsamkeit, ihrer Verlassenheit berichten. Nichts ist kitschig oder melodramatisch, da fliegen die Fetzen und die grimmige kleine Hexe im roten Kleid (Maike Knirsch) fletscht die Zähne, wenn sie schreit „du Muschikuh!“ Die Verwandlung der Textebenen durch perfekt abgestimmte Kostüme geht mit wenigen Mitteln auf. Die jungen Darsteller leben ihre Figuren mit beinah unheimlicher Intensität. Von Asylbewerber- und Kinderheimen, von Weglaufen, Verstecken und Ausbrechen ist die Rede.

Die Leistung der Schauspieler und ihrer Führung ist nicht hoch genug zu bewerten, eine zweimonatige intensive Probezeit schuf aus einem jungen Team von Hochbegabten im Handumdrehen eine Profi-Truppe! Ein seltenes, ein beglückendes, ja berauschendes Theatererlebnis voller Überraschungen und ausgespielter Anspielungen. Die Text-Bewohner schildern ihr Da-Sein, ihre Träume von eigenen Räumen. In meinen Raum darf fünf Jahre keiner rein, sagt eine, ich mache Handarbeiten aus Luft, die andere, ein Sofa wünscht sich der dritte. Besonders witzig ist der Regieeinfall, den deutlich älteren Schauspieler Michael Schweighöfer mit der Rolle des siebenjährigen Kevin zu besetzen, der von einer Tobe-Gummizelle und Star Wars schwärmt. Da lachten die jüngsten Premierenbesucher hell heraus.
Fazit: Ein aufwühlendes, hochprofessionelles Theaterstück für jedermann ab 8 Jahren

P.S. leichte Bekleidung und Fächermitnahme empfohlen!

Regie: Annette Kuß, Bühne und Kostüme Sigi Colpe, Text Annett Gröschner,

Dramaturgie: Birgit Lengers

Besetzung Valery Aydin, Aylin Dunkel, Jürgen Huth, Maike Knirsch, Lily Kumpe, Thao Tran, Michael Schweighöfer, Ingraban von Stolzmann

Termine 28. Mai 2012, 02. Juni 2012, 03. Juni 2012, jeweils 19.00 Uhr in der Box des Deutschen Theaters

Website: http://www.deutschestheater.de/home/kind_ohne_zimmer/

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