Paul Simoncelli leuchtet diesen Raum äußerst kunstvoll aus, lässt ihn größer oder kleiner erscheinen und sorgt dafür, dass die handelnden Personen plötzlich im Dunkeln verschwinden oder unerwartet auf der Spielfläche auftauchen.
Das Bühnenbild von Christoph Rufer besteht aus einem Podest aus abgesägten dicken Ästen, aufrecht stehend, mit einem Tau kreisförmig zusammengebunden. Wenn Agamemnon Troja erobert hat, reißt er das Tau ab und tritt die Holzstücke auseinander, auf die sich dann die Trojanerinnen wie Trümmerfrauen stürzen. Holzscheite symbolisieren auch die Waffen, mit denen Klytaimnestra die Trojanerinnen tötet, und der kleine Astyanax, in den Armen seiner Mutter Andromache und dann von Agamemnon in die Tiefe geschleudert, ist ebenfalls ein Holzscheit.
Der flämische Autor Tom Lanoye hat den trojanischen Krieg zum Thema seines Stücks gemacht und dabei den Bogen zum Heute geschlagen mit der Frage, was eigentlich geschieht, wenn Kriege geführt werden, die mit guten Gründen gerechtfertigt werden können.
Die Sprache hat, auch in der Übersetzung von Rainer Kersten, Anklänge an die Antike und ist zugleich modern. Auszüge aus den Reden von George W. Bush und Donald Rumsfeld zum Irak- und Afghanistan-Krieg, in den Text eingeflochten, passen ganz hervorragend und unauffällig in die Reden des Feldherrn Agamemnon. Das Denken der Eroberer und Zerstörer, die sich selbst als Retter bezeichnen, hat sich seit damals nicht verändert.
Die Kombination von ferner Vergangenheit und Gegenwart lässt Anja Sohre auch in den Kostümen sichtbar werden. Die Kleider der Frauen sind elegant und zeitlos modern, vermitteln durch geschickte Raffungen und Fältungen aber auch den Eindruck antiker Gewänder. Agamemnon trägt seine schwarze Hose und sein graues Seidenhemd wie eine Uniform.
Anne Schneider, in Berlin bekannt durch ihre Inszenierungen an der Schaubühne, hat bei ihrer Regie ganz auf die Ausdrucksstärke und Vielseitigkeit ihres sechsköpfigen Schauspielensembles gesetzt. In ihrer Inszenierung fließt kein Blut, es gibt keine vordergründigen Effekte und keine musikalische Stimmungsuntermalung. Die Schauspielerinnen loten den Text aus, graben sich in die Wortkaskaden hinein auf der verzweifelten Suche nach einem begreifbaren Sinn oder einer Form, in der ihr auseinandergebrochenes Leben zu bewahren wäre.
Agamemnon (Beat Marti), der einzige Mann im Spiel, verliert, auch in Augenblicken der Resignation, niemals ganz die Fassung. Er ist hassenswert mit seinen hohlen Worten über den Kampf für die Demokratie gegen die Barbarei, mit seinem verlogen scheinenden Mitgefühl mit den Trojanerinnen, mit seiner Berufung auf Notwendigkeiten, die zu ungeheuerlichen Gräueltaten berechtigen sollen
Mit glückstrahlendem Gesicht erklärt dieser Agamemnon seiner Frau, dass er Kassandra liebe, die er vor seinem ganzen Heer vergewaltigt und als Sklavin nach Mykene verschleppt hat. Zu Recht wirft Klytaimnestra ihm vor, dass er immer nur an sich selbst denkt
Beat Marti gestaltet grandios einen Agamemnon, dem mühelos alle Schuld zugeschoben werden kann, den anscheinend gnadenlosen Täter, von hilflosen Opfern umgeben. Erst am Ende, als Kassandra erklärt, dass Agamemnon glaubt, was er sagt, wird deutlich, dass Agamemnon tatsächlich ein pflichtbewusster, ehrlicher Mann ist. Sympathischer wird er dadurch nicht, aber schließlich stellt sich heraus, dass auch die Frage nach der Schuld an all dem Unglück nicht so leicht zu beantworten ist.
In den für eine Schauspielerin vorgesehenen Rollen Iphigenie und Kassandra überzeugt Susanne Bormann mit der Gestaltung zweier unterschiedlicher Charaktere. Iphigenie, unschuldig im weißen Kleid, spielt zu Beginn Krieg mit einer Flotte weißer Papierschiffchen, die im Hintergrund der Spielfläche aufgestellt ist.
Iphigenie ist zu ihrem Vater nach Aulis gekommen, weil sie angeblich mit Achill verheiratet werden soll. Susanne Bormann präsentiert Iphigenie mit schwärmerischer Begeisterung, stolz auf die unglaubliche Ehre, die Frau des großen Helden zu werden.
Während Agamemnons Tochter in ihrem kaum fassbaren Glück schwelgt, erscheint, neben einem der weißen Pfeiler, die auf der rechten Seite die Spielfläche begrenzen, Helena (Deborah Kaufmann) in einem blauen Kleid mit verführerisch tiefem Ausschnitt, die ihr Unglück beklagt. Helena, begabt mit einer Schönheit, der alle Männer verfallen, ist eine Ausgestoßene, Verfluchte, beladen mit der Schuld für den Krieg.
Iphigenie ermöglicht diesen Krieg. Sie soll ja nicht verheiratet, sondern geopfert werden, damit Agamemnons Flotte guten Wind für die Fahrt nach Troja bekommt. Nachdem Klytaimnestra (Gabi Herz), außer sich vor Zorn, ihren Mann mit Vorwürfen und Beschimpfungen dazu gebracht hat, sein entsetzliches Vorhaben aufzugeben, verkündet Iphigenie ihren Entschluss, sich aus freiem Willen zu opfern.
Iphigenie ist ganz Daddy’s pflichtbewusste Tochter, und sie begreift, dass sie durch die Heirat mit Achill nur die Frau eines Helden geworden wäre, während sie durch ihren freiwilligen Opfertod selbst zur Heldin wird.
Später, im gefallenen Troja, ist Susanne Bormann, in einem leuchtend roten Kleid, Kassandra, die geschändete, versklavte Seherin. Die Zukunft sagt sie nicht mehr voraus, denn es gibt keine Zukunft mehr für die Trojanerinnen, aber sie sagt die Wahrheit, voller Zynismus und mit einem höhnischen Lachen, in dem kraftlose Verzweiflung zu hören ist oder ganz schlicht am Ende, als sie Klytaimnestra, weil sie den Tod ihrer Tochter nicht verhindert hat, zur Mitschuldigen daran erklärt.
Die Trojanerinnen sind kaum noch Lebende, bewegen sich wie Schatten. Hekabe (Jule Gruner) reißt sich die grauen Locken aus wie eine Wahnsinnige, unfähig, sich in der grauenvoll veränderten Realität zurecht zu finden. Aber noch hat sie nicht alles verloren. Gina Henkel als mutige Andromache macht ihre Schwiegermutter darauf aufmerksam, dass sie noch zwei Töchter hat, dazu eine Schwiegertochter und einen Enkel.
Für einen kurzen Augenblick scheint das Leben doch noch weiterzugehen. Die Trojanerinnen rücken zusammen. Sie bleiben Einzelne, verlorene Individuen, die niemals im Chor sprechen, sind aber doch eine Gruppe, die sich abgrenzt, nicht nur gegen Agamemnon, sondern auch gegen Helena, die darum bettelt, zu ihnen zu gehören.
Helena weiß, dass Hekabes Tochter Polyxene nicht mehr am Leben ist, und es ist wohl die erschütterndste Szene dieses Theaterabends, wenn Deborah Kaufmann voller Schmerz und Mitleiden über den Mord an Polyxene berichtet.
Trauriger kann es danach nicht mehr werden, obwohl es noch schrecklicher wird bei der folgenden Kindstötung. Gina Henkel lässt vergessen, dass sie als Andromache nur einen Holzklotz in den Armen hält. Es ist ein lebendiges, atmendes Kind, und die Mutter verteidigt es wie eine wütende Löwin gegen Agamemnon. Der beruft sich auf das Gesetz der Notwendigkeit. Diesem Krieg soll ja der Frieden für alle Zeiten folgen, und Astyanax, Enkel des Königs von Troja, könnte als Erwachsener einen neuen Krieg anzetteln, um sein Erbe zurückzugewinnen.
Die Forderung der Trojanerinnen, sie alle zu töten, weist Agamemnon zurück und nimmt sie als Kriegsbeute mit nach Mykene.
Klytaimnestra ist mehr denn je erfüllt von Hass und Abscheu gegenüber dem Mörder ihrer Tochter. Den Trojanerinnen will sie die Freiheit geben, aber die verlangen von ihr nur den Tod. Die Frauen haben alles verloren, was ihnen lieb war, sie scheinen ruhig, während sie innerlich ganz leer sind, und trotzdem haben sie ihre Würde bewahrt. Aufrecht stehen sie da, auch Hekabe stellt gelassen mit erhobenem Haupt die Forderung, getötet zu werden.
Klytaimnestra windet sich, ringt nach Worten. Sie will keinesfalls zur Mörderin werden, sie verabscheut Totschlag und Gewalt, und doch zwingen die Frauen mit ihrer beharrlichen Entschlossenheit Klytaimnestra dazu, Agamemnons Werk zu Ende zu bringen und sie alle zu töten.
Anders als in der griechischen Mythologie ermordet Klytaimnestra in Tom Lanoyes Stück ihren Ehemann nicht, obwohl der den Tod von ihr erwartet und hinzunehmen bereit ist. Zur Strafe lässt sie Agamemnon am Leben.
In Anne Schneiders Inszenierung wendet sich Klytaimnestra ihrem Mann noch einmal zu, bevor sie ihn verlässt. Sie nimmt Agamemnons Gesicht in ihre Hände, nicht, um sich mit ihm zu versöhnen, sondern um die Schuld mit ihm zu teilen.
Das Premierenpublikum dankte dem hervorragenden Schauspielensemble und der Regisseurin mit großem Applaus und Bravorufen.
„Atropa. Die Rache des Friedens“ von Tom Lanoye hatte am 02.05. Premiere im Theaterdiscounter. Nächste Vorstellungen: 04. und 05.05.2012.