In ihrer Inszenierung, die im September 2010 in Wroclaw Premiere hatte, bringt Barbara Wysocka alle fünf Teile von Heiner Müllers Stück auf die Bühne, präsentiert sie als zusammenhängendes Werk, eine Folge von Geschichten über menschliches Fehlverhalten, das sich im Verlauf der Geschichte wiederholt.
Heiner Müller hat den Text im Blankvers und ohne Interpunktion verfasst. Es handelt sich um fortlaufende direkte Rede verschiedener männlicher Personen, die als Ich-Erzähler erscheinen, einander, in den Soldatenszenen, mit ihren Diensträngen ansprechen oder, später, Berufsbezeichnungen verwenden.
Die Zuordnung der Personen zu den Texten ist oft schwierig, aber auch gar nicht notwendig. In Barbara Wysockas Inszenierung werden in Teil III des Stücks die beiden gegeneinander um die Macht kämpfenden Männer während ihrer Auseinandersetzungen identisch geschminkt. Es geht nicht um individuelle Schicksale, sondern um austauschbare Verhaltensweisen wie Machtmissbrauch, Verrat oder Denunziantentum.
Barbara Wysocka hat das Stück mit drei Schauspielern besetzt, die sowohl in der Gestaltung der Sprache als auch komödiantisch Geniales leisten. Adam Cywka; Rafael Kronenberger und Adam Szcaszcaj zu würdigen, ist allerdings ohne Polnischkenntnisse nur eingeschränkt möglich. Durch den Blick auf die deutsche Übertitelung geht vieles vom vorbeirasenden Bühnengeschehen verloren. Und doch hatte ich immer wieder das Bedürfnis, mich zu vergewissern, dass es tatsächlich Heiner Müllers bedeutungsschwerer Text ist, der in der fremden Sprache so melodiös und federleicht lebendig wird. Diesem Konzert der Stimmen zuzuhören, ist ein ästhetischer Genuss.
Wenn das Publikum hereinkommt, hat die Vorstellung schon angefangen. Die Bühne ist ein riesiges chaotisches Büro, in dem die Schauspieler an drei der fünf Schreibtische sitzen. Der Beginn des Stücks, live gesprochen und über Band zu hören, wird vielfach wiederholt:
„Wir lagen zwischen Moskau und Berlin
Im Rücken einen Wald ein Fluss vor Augen
Zweitausend Kilometer weit Berlin
Einhundertzwanzig Kilometer Moskau (…)“
Über die Wolokolamsker Chaussee, die westliche Einfallstraße nach Moskau, näherten sich 1941 die deutschen Panzer. Deren Route führte durch das besetzte Polen, das in Heiner Müllers Stück nicht erwähnt wird. Die russisch-deutsche ist jedoch auch polnische Geschichte, und mit ihrer Inszenierung hat Barbara Wysocka in Polen einen neuen Zugang zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geschaffen.
Für die Regisseurin ist das Stück über die nationalen Bezüge hinaus „ein universeller Text“. Außer Alexander Beks Roman hat Heiner Müller auch Erzählungen von Anna Seghers, Franz Kafka und Heinrich von Kleist verwendet.
Am Ende der Soldatenszenen ist Marlene Dietrich zu hören mit dem Antikriegssong „Where Have All The Flowers Gone“, in dem Männerstück die Stimme einer Frau mit der am Ende jeder Strophe wiederkehrenden Frage „When will they ever learn?“
Um die Unfähigkeit oder die mangelnde Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen, geht es in allen Episoden des Stücks. Die Aktionen entwickeln sich aus der Erzählung, die an den Schreibtischen konstruiert wird. Von dort begeben sich die Schauspieler in die Szene hinein, in wechselnden Rollen, unterschiedlich kostümiert, und, ohne weitere Hilfsmittel, allein durch Worte, machen sie Schauplätze sichtbar, sogar die Kälte in Russland wird spürbar, und skizzieren die handelnden Personen, die sich dann im Erzählfluss wieder auflösen.
In der brillanten Technik des präzisen Unterspielens schwingt bei den Akteuren leichte Selbstironie mit, die, auch in den tragischen Szenen, Absurdität deutlich werden lässt. In Teil IV, dem Satyrspiel „Kentauren“, in dem die untere Körperhälfte eines Mannes sich in einen Schreibtisch verwandelt, ist in der grotesken Komik eine ganz leise Melancholie zu spüren.
Auf einer Leinwand im Hintergrund sind Filmausschnitte zu sehen, Szenen aus der russischen Verfilmung von Alexander Beks Roman, oder Bilder von einem Wal, der auf einem Schiff zerteilt wird.
Die Bühne, die ganz vollgestellt erscheint mit Mobiliar und Monitoren, bietet immer wieder überraschend Platz für szenische Darstellungen, und sogar für einen roten Trabi, der im 4. Teil hereinfährt.
Im 5. Teil, in dem ein junger Mann gegen seinen Stiefvater rebelliert, hat Barbara Wysocka ein beeindruckendes Finale gestaltet. Die ständige Bewegung, die das Stück in unterschiedlichen Tempi unaufhaltsam vorangetrieben hat, verlangsamt sich, obwohl es auch hier noch rasant zugeht. Aber die Leichtigkeit verschwindet unter einer wachsenden dramatischen Steigerung, die mit dem Schrei „Vergessen“ ihren Höhepunkt erreicht. Dieses von einer E-Gitarre begleitete „Vergessen“ wiederholt sich wieder und wieder und kehrt somit auch zu der wiederholten Textpassage des Anfangs zurück.
Vergessen lässt sich dieser Theaterabend, der in nur 90 Minuten einige Jahrzehnte Geschichte lebendig werden lässt, sicher nicht so schnell, nicht die großartigen schauspielerischen Leistungen und nicht die wundervolle Regie, durch die Heiner Müllers Stück zu einem atemberaubenden Erlebnis wird.
„Wolokolamsker Chaussee I-V“ von Heiner Müller war im Rahmen der spielzeit’europa am 10. und 11.12.2011 auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.