Daneben pflegen Russen, Vietnamesen und andere Nationalitäten ihr eigenes kulturelles Leben. Das ist ganz natürlich und verdient Anerkennung, aber die Einwanderer mit ihrer Kultur sind Inseln, deren Grenzen nur selten überschritten werden. Von den (inoffiziell geschätzten) 250 000 Türken in Berlin sieht man nur selten welche in Opernhäusern und Konzertsälen. Der Generationswechsel des Publikums jedoch macht den Opern und Orchestern Sorgen. Was ist mit den Hunderttausenden Berlinern »mit Migrationshintergrund«? Müssten sie nicht willkommen sein?
Es gab und gibt Versuche, das zu ändern. Die Komische Oper projiziert die Texte in türkischer Sprache auf Monitore in den Sessellehnen. Die Berliner Philharmoniker machten ihr Publikum in der Konzertreihe »Alla turca« mit der Musik der Türkei und des Vorderen Orients bekannt. Die Berliner Rundfunkchöre und -orchester veranstalteten in der Spielzeit 2007/08 gemeinsam mit dem türkischen Konservatorium eine interkulturelle Reihe »Klangkulturen«. Gemeinsam mit den Abonnenten des Deutschen Sinfonie Orchesters strömten fröhliche Türken – Familien, Freundeskreise und Arbeitskollegen – in die Philharmonie. Fiel das jemandem auf: Da war die Arbeiterklasse im Saal. Das neue Publikum. Doch es blieb die Ausnahme.
Neben den mentalen Problemen spielt natürlich die Verschiedenartigkeit der Musik eine große Rolle. »Es sind zwei Kulturen«, sagt Nuri Karademirli, der Direktor des türkischen Konservatoriums. Da gilt es, Gemeinsamkeiten und Besonderheiten zu finden, vor allem die Besonderheiten, um eine Annäherung versuchen zu können. In der »europäischen Musik« gibt es 12 Töne, das türkische Tonsystem hat 24 Töne; die zusätzlichen Töne werden als Kommatöne bezeichnet. Die türkische Musik, auch der Gesang, ist einstimmig, die europäische Musik mehrstimmig. Beide Systeme stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Gibt es da eine Annäherung oder Integration? Muss man nebeneinander her spielen oder muss sich einer dem anderen anpassen, wenn nicht gar unterordnen?
Das Geschwätz von der Integration, meist im Sinne von Aufzwingen gemeint, geht so manchem auf die Nerven. Auch dem Chefdirigenten der Berliner Symphoniker, Lior Shambadal. »Ich halte davon nichts! Stellen Sie sich vor: sollten wir Juden uns in Deutschland ‚íntegrieren‘?«
Dennoch, die Berliner Symphoniker, die sich wegen der Streichung ihrer Zuschüsse ihre Familienkonzerte schon lange nicht mehr leisten konnten, unternehmen es, »integrationsfokussierte Konzerte für die ganze Familie« zu organisieren. Ein Zuschuss der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin macht es möglich. Partner ist das Konservatorium für türkische Musik. Für das sehr gut besuchte erste Konzert im vergangenen Oktober gab es viel Beifall, aber es offenbarte ein Problem: Es waren zwei Konzerte. Im ersten Teil sangen und spielten bekannte türkische Sänger, der Chor und Instrumentalsolisten des Konservatoriums Lieder über Istanbul – begleitet von den Symphonikern. Nach der Pause spielte das Orchester »Peter und der Wolf« von Sergej Prokowjew – mit Otto Waalkes als Sprecher.
Im nächsten Konzert am 15. Januar soll eine Symbiose versucht werden. Ertugul Bayraktarkatal aus Istanbul und Nuri Karademirli komponierten eine sinfonische Legende auf das türkische Märchen »Der smaragdgrüne Phönix«. Es ist der Versuch, die Einstimmigkeit der türkischen Musik mit der Mehrstimmigkeit der »europäischen« Musik zu vereinen. Es wird normale sinfonische Musik sein, die von türkischen Instrumenten begleitet und türkische Akzente haben wird. Wie in der Filmmusik wird das Märchen durchgängig erzählt und die Musik begleitet die Sprecherin (Eva Lind) – nicht wie bei Peter und der Wolf, wo erst erzählt und dann die Musik gespielt wird. »Diese Form gibt es in der türkischen Musik nicht, wir machen das ganz neu«, erklärt Karademirli. »Wir tasten uns an eine neue Form heran. Diese Musik soll für türkische, arabische und europäische Ohren akzeptabel sein. Wir wünschen uns schon lange einen Kooperationspartner unter den klassischen deutschen Sinfonieorchestern. Die Berliner Symphoniker sind uns willkommen.«
Das Publikum beider Partner zusammenzuführen, betrachtet Karademirli fast als die noch größere Aufgabe. Das türkische Publikum umfasst breite Berufsschichten, aber Leute mit niedrigem Einkommen haben einen höheren Anteil. »Diese Musik bereichert ein größeres Publikum als nur das deutsche Bildungsbürgertum. Aber auch bei den Türken in Berlin ist der Kreis von Intellektuellen größer geworden.« Das Konservatorium habe es geschafft, die Altersgrenze der Konzertbesucher von 40 Jahren auf 20 zu senken, auch bei den Musikern. »Das müssen jetzt alle machen!«
Karademirli und seine Mitarbeiter brennen darauf, Neues zu machen. 2012 werden sie die Global Music Akademy gründen (der Anglizismus soll hier ausnahmsweise nicht kritisiert werden), eine private Musikhochschule zur Ausbildung von Musikern und Musikwissenschaftlern in den Stilistiken unterschiedlicher Musikkulturen. Die Nachfrage nach Studienplätzen ist bereits größer als die Kapazität. Studenten aus allen Erdteilen haben sich angemeldet. Damit ergänzen die Initiatoren die Ausbildung im Konservatorium (seit 1998 18 000 Schüler) um ein akademisches Musikstudium. So der Plan. Die staatliche Anerkennung wird im Frühjahr beantragt werden. Geld vom Senat wird es nicht geben, aber die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft begegnet dem Projekt aufgeschlossen. Das Schulgebäude in der Bergmannstrasse, das der Bezirk zur Verfügung gestellt hat, muss mit den Mitteln des Gründerkonsortiums, das heißt, mit privaten Spenden in Millionenhöhe, ausgebaut werden. Im Herbstsemester soll die Ausbildung beginnen. »Es ist ein Projekt der Öffnung, weil sich Deutschland kulturell auch global bewegen muss«, meint der Geschäftsführer Andreas Freudenberg, ein erfahrener Kulturmanager, bekannt aus der Werkstatt der Kulturen. Das türkische Konservatorium, von der Berliner Zeitung einst nach seiner Gründung »Karademirlis patriotisches Konservatorium« tituliert, setzt einen internationalistischen Akzent dagegen. Karademirli: »Wir kämpfen dafür, dass internationale Musik von internationalem Publikum gehört wird.« Mögen sie weiter auffällig bleiben.
Konzert für die ganze Familie, 15. Januar 2012, 16 Uhr, Philharmonie. Karten 8 Euro, Tel. 321 55 62 und 69 50 46 01