Böse und misstrauisch sieht die rechte Frau direkt in die Kamera, ihr linker Arm ist auf den Tisch gestützt, in der rechten Hand glimmt eine Zigarette. Ihre Stirn ist leicht gerunzelt. Die andere Frau sieht auf etwas Tieferes vor dem Fenster, vielleicht die Schuhe des Fotografen, vielleicht ist sie auch nur in Nachdenken versunken. Ihr Mund ist abschätzig nach oben verzogen, sie wirkt nachdenklich und verärgert zugleich, unzufrieden. Auf dem Tisch sind zwei Teller zu erkennen, zerknüllte Servietten, ein leeres Glas, eine Zigarettenschachtel, eine Brille. Eine kleine weiße Vase mit Wiesenblumen, wie es scheint. Auch die linke Frau raucht, hat ihre Hände ineinandergelegt, die Beine sind locker gespreizt. Zwei Handtaschen stehen bzw. liegen auf dem niedrigen Heizungsrost vor der Scheibe. Im Hintergrund sind andere, weißgekleidete Gäste auszumachen. Die linke Frau im Vordergrund trägt ein Sommerkleid, die rechte eine gestreifte Bluse zu einem gemusterten Rock. Der Fotograf sticht wie ein dunkler Schatten schräg in den Kopf der linken Frau, in der Spiegelung. Sein Körper ist seitlich eingeknickt, um den Aufnahmemittelpunkt nach unten zu verlagern. Die Frauen sitzen dadurch nur leicht unterhalb der Bildmitte, über dem Tisch wächst das Inter-Hotel Stadt Berlin in die Höhe, ein weißer Vorhang begrenzt den linken Bildrand.
„Alexanderplatz, 1984“ lautet der Titel dieses Fotos. Gerd Danigel hat es aufgenommen und für wert befunden, im vorliegenden Sammelband „Schöner unsere Paläste, Berlin-Fotografien 1978-1998“ mit zu erscheinen, als Nummer 13 der wunderbaren Reihe Bilder und Zeiten des Leipziger Lehmstedt Verlages. Dort waren bisher unter anderem Fotografen wie Roger Melis und Bernd Heyden mit Monografien vertreten. Nun also Gerd Danigel. Dass der Name Ihnen unter Umständen unbekannt vorkommt, stimmt nur scheinbar. Schaut man zunächst auf die biografischen Angaben des 1959 in Berlin geborenen Fotografen und auf seine Veröffentlichungen, kann es passieren, dass bereits einige Bücher die eigenen Regale zieren, in denen ganze Serien Danigels verwendet wurden. So ging es der Rezensentin, die überrascht noch einmal ihr Exemplar „Vergnügen in der DDR“ (Panama-Verlag 2009) zur Hand nahm, um ganze fünfzehn Bilder der zweiäugigen Rolleiflex Danigels zu entdecken. Ein anderes Buch im Regal nennt sich „Keine Zukunft war gestern. Punk in Deutschland“ (IG Dreck auf Papier 2008). Auch darin springen nachdenklich bis grimmig blickende Ostberliner Punks dem Betrachter ins Auge. Sie haben vielleicht einige der anderen Titel mit Bildserien Danigels in ihrem Bücherreihen, sehen Sie doch mal nach!
Gerd Danigel hatte das große Glück, als Nachbarskind Roger Melis in Berlin Mitte aufzuwachsen, der den Jungen mit der Pentacon II eines Tages in seine Dunkelkammer einlud. „`Wie wird man Fotograf`? fragte Danigel. ’Schau dir gute Fotobücher an`, antwortet Melis.“ Gerd Danigel schaute und knipste, lernte und wurde schließlich Fotograf am Institut für Kulturbauten, für das er fünf Jahre lang durch die Republik reiste. Nach Abwicklung des Institutes und dem Verschwinden eines ganzen Landes kam auch Gerd Danigel der Gegenstand seiner Arbeit abhanden. Zu den letzten zwanzig Jahren befragt, meinte der Fotograf gegenüber der Journalistin und Verfasserin des Vorworts Marika Bent lakonisch „Man schlägt sich so durch.“
Die hier vereinte Auswahl seines Fundus ist unter das Motto „Schöner unsere Paläste“ gestellt, ein Titel, der sich auf ein Kreide-Graffiti an einer desolaten Berliner Hauswand bezieht, aufgenommen 1985. Nicht nur der Ostteil Berlins ist auf knapp 160 Seiten porträtiert, auch ein Schaufenster mit 5 Sorten Fischbüchsen in Bernau, Bäckerinnen in Ludwiglust, wartende Menschen in Rudolstadt oder ein Liebesprächen aus der Mark Brandenburg wurden auf Bilder gebannt. Manche sträuben sich gegen die Aufnahmen, wie die drei auf einer Bank sitzenden Damen am Alexanderplatz 1984, von denen eine ihr Gesicht verdeckt, während die anderen beiden keck und argwöhnisch auf den Fotografen schauen, der sich wieder stark geneigt haben muss, vielleicht sogar vor den Frauen kniete? Was haben sie in ihm gesehen?
Es soll nicht der Eindruck entstehen, Danigel habe sich auf das Damen-Provozieren spezialisiert, auf vielen seiner Werke sind Kinder zu sehen, lachende, freche Berliner Gören, die auf kaputten Autos spielen, auf den Straßen und in den Hinterhöfen. Herrlich sind auch die Momentaufnahmen verwischter Körper, zum Beispiel zwei herzhaft lachende Frauen einer Gepäckabfertigung im Ostbahnhof, mit weit geöffneten Mündern. Die Menschen sind eingefangen, wie sie erwischt wurden von der Kamera, oder sich sehen wollten, sich demonstrativ in Posen gestellt haben. Auffallend ist die Würde, mit der Danigel um sich schaut, die er seinen Figuren, Straßen und Plätzen belässt. Mit Ironie und Wehmut porträtiert er einen konkreten Augenblick, der schon nach dem Auslösen der Kamera unwiederbringlich vorbei ist. Das ist Kunst, berührend im besten Sinne!
Es sei zu diesem erstaunlichen Geschenk der Entdeckung eines wichtigen Fotografen noch das Bild auf Seite 25 hervorzuheben, betitelt „Am Rande der Schönhauser Allee, 1980“. Zwei Kinder, auf der Grund der Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge vermutlich Geschwister, liegen mit geschlossenen Augen aneinander gelehnt auf Blättern, nur mit Badehose bzw. Badeanzug bekleidet. Ob sie schlafen, dösen? Was spielt sich hinter den Stirnen ab, was haben sie heute erlebt, was ist aus ihnen geworden? Ein Traumbild, von oben aufgenommen, schwebend, wie aus einer anderen Welt.
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Gerd Danigel, Schöner unsere Paläste, Berlin-Fotografien 1978-1998, Lehmstedt Verlag, Leipzig, Reihe Bilder und Zeiten, hrsg. von Mathias Bertram, 2011, 24,90 €