Der Verleger seines Fotografie-Bandes „Zukünftig Vergangen“, Roman Pliske vom Mitteldeutschen Verlag, betonte damals, wie sehr er bedaure, dass die Zusammenarbeit nun vorbei sei. Die „freundliche Diva“ Marquardt hatte es ihm angetan. Nun liegt schneller als vermutet der nächste Coup auf den Tisch – ein schmaler und knalliger Fotobildband unter dem Titel „Heiland“. Überwiegend sind es schwarz/weiß Fotografien, die zwischen 2006 und 2008 entstanden und in einer Ausstellungs-Triologie im Levi ´s ICON Store Buttenheim in Berlin inszeniert wurden. Unter den Titeln „Erzengel“, „Gefallen“ und „Shame on you“ präsentierte ein Team um Sven Marquardt in Zusammenarbeit mit dem Levi ´s ICON Store Manager Konstantin Enslen Kessidis diese drei Reihen. Letzterer gewann nicht nur die Freundschaft und das Wirken des Fotografen für seinen Store, er schrieb auch einen sehr persönlichen Text für den vorliegenden Katalog. Dadurch erfahren wir unter anderem, an welchen Orten Marquardt seine Bilderserien inszenierte, und mit welchen Kollektionen. Die skurrilen Models des Künstlers bewegen sich in Schlachtereien und alten Lagerhallen, am Ufer der Spree oder im hauseigenen Club Berghain.
Wie schon in „Zukünftig Vergangen“ zeigt Marquardt Menschen, die gezeichnet sind. Gezeichnet von abenteuerlichen Tattoos, Piercings und durchtanzten Nächten. Auch hier riechen die Bilder förmlich nach Leder und Schweiß, blitzen Kerze, Feder, Schädel auf. Der Mann mit den langen Haaren taucht wieder auf, der dem Gemarterten gleich die Augen verdrehte. „In Heiland“ treibt Marquardt den Gedanken weiter, setzt dem Mann gleich zwei Augenklappen auf und steckt ihn in eine verkehrt herum angezogene Jeansjacke. Eine moderne Kreuzigung, wagt der Betrachter zu denken, bis sein Blick auf das gegenübergestellte Bild fällt, eben jener Mann in kniender Pose mit einem verklebten, zerschlagenen Auge und einem Holzkreuz über der Schulter. Das offene Haar umkränzt von einem Tuch. Der Handrücken verletzt, geritzt oder aufgeschnitten. Die Lippe blutig. Der doppelt gemarterte Jesus als Erzengel, als Überbringer der Botschaft. Ein Gabriel in löchriger Jeans – das ist bei aller Zweideutigkeit ziemlich sexy!
„Gefallen“ zeigt die gestürzten Engel, am Spreeufer, auf Beton, in Stühlen liegende halbnackte Menschen, mit Federn an Armen Schultern, Füßen. Marquardt deutet mal mehr, mal weniger an. Hier ist das Schweben, das Unausgelotete des Engelzustandes dominant, sind sie dem Himmel oder der Hölle zuzurechnen?
Radikal wird die Bildsprache im letzten Abschnitt „Shame on you“, wo Gefängnissituationen simuliert sind. Starke, muskelbepackte Männer in Häftlingskleidung werden konterkarikiert von schmalen Frauen. Blut, Tüll und Tattoos. Einer alten Dame in Jeansrock, der ein Vorhängeschloss im Schoß baumelt. Pan auf einem BMX-Rad – das ist surreal und poetisch, und erinnert beinahe an die opulenten Inszenierungen eines Matthew Barney. Marquardt ist härter und verträumter zugleich. Seine Kunst zeigt sein Land hinter den Spiegeln, gemäß dem Motto dieses kostbaren, aufrührenden und aufrührerischen Bildbandes:
„Es gibt ein unbekanntes Land voll seltsamer Blumen, ein Land, in dem alle Dinge perfekt und giftig sind.“ – Oscar Wilde
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Sven Marquardt, Heiland, mit einem Beitrag von Konstantin Kessidis, Mitteldeutscher Verlag, März 2011, 32 €