Berlin, BRD (Weltexpress). Studien, die auf Umfragen und statistischen Werten beruhen, sind längst das übliche Handwerkszeug sowohl der Sozialpolitik als auch der politischen Einflussnahme durch Konzerne. Bei diesem Beispiel wird ein eigentlich erschreckendes Ergebnis am Ende „verbertelsmannt“.

Wenn Bertelsmann zu einem Thema eine Studie macht, drängt sich unwillkürlich die Frage auf: Was wollen sie damit verkaufen? Schließlich wurde der Kahlschlag im deutschen Sozialsystem, der vor bald 20 Jahren unter dem Titel „Agenda 2010“ stattfand, ebenso von einer Studie der Bertelsmann-Stiftung eingeläutet wie die Zerschlagung des deutschen Gesundheitswesens, die gerade der Gesundheitsminister Karl Lauterbach umsetzt.

Die jüngste Veröffentlichung der Stiftung befasst sich mit der Einsamkeit junger Menschen. Es ist eine Auswertung einer Umfrage auf der Plattform Europinions, die zwischen dem 15. Juni und dem 1. Juli dieses Jahres mit insgesamt 23.536 Teilnehmern in der gesamten EU durchgeführt wurde und Zusatzfragen zum Thema Einsamkeit enthielt.

Das auffälligste Ergebnis ist dabei, dass sich nicht länger, wie lange üblich, vor allem ältere Menschen einsam fühlen. Jetzt sind Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren einsamer als ältere von 36 bis 69. Dabei handelt es sich ursprünglich um einen Einbruch, der durch die Coronamaßnahmen ausgelöst und der bis heute nicht gänzlich aufgehoben wurde.

Für diesen Einbruch wird auf Daten Bezug genommen, die das Einsamkeitsbarometer für Deutschland ermittelte, auf Grundlage des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).

Die Studie belegt, dass Einsamkeit im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie in allen Altersgruppen deutlich stieg: von 7,6 Prozent im Jahr 2017 auf 28,2 Prozent im Jahr 2020. Besonders stark war dieser Anstieg in der Gruppe der 18- bis 30-Jährigen (von 8,6 Prozent auf 31,8 Prozent). Im Jahr 2021 gingen die Werte in allen Altersgruppen insgesamt zurück – auf 11,3 Prozent über alle Altersgruppen hinweg – doch junge Menschen waren auch 2021 mit einem Anteil von 14,1 Prozent die am stärksten betroffene Gruppe.“

Die Kontaktbeschränkungen erzeugten einen sozialen Schaden, der nach dem Ende derselben eben nicht einfach verschwindet.

„So schätzte eine im Sommer 2023 in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Studie, dass etwa 17 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren stark emotional und/oder sozial einsam waren.“

Emotionale und soziale Einsamkeit werden aufgrund einer in mehreren Studien verwandten Definition ermittelt. Emotionale Einsamkeit wird durch die Zustimmung zu folgenden drei Aussagen ermittelt: „Ich empfinde ein allgemeines Gefühl der Leere“, „Ich vermisse es, Menschen um mich zu haben“, „Ich fühle mich oft zurückgewiesen“. Die Aussagen zur sozialen Einsamkeit lauten: „Es gibt viele Menschen, auf die ich mich verlassen kann, wenn ich Probleme habe“, „Es gibt viele Menschen, denen ich voll und ganz vertrauen kann“ und „Es gibt genug Menschen, denen ich mich nahe fühle“. Zur Beantwortung gab es drei Stufen: „ja“, „mehr oder weniger“ und „nein“.

Wie man aus der Frage bereits erkennen kann, ist die ermittelte Information relativ unscharf. Was noch einmal dadurch erhöht wird, dass in der Auswertung ein „mehr oder weniger“ nicht getrennt gezählt, sondern der „stärkere Einsamkeit“ signalisierenden Antwort zugeschlagen wurde.

Das Ergebnis lautet, bezogen auf die jungen Erwachsenen in Deutschland, dass sich insgesamt 51 Prozent einsam fühlen. In der Altersgruppe von 36 bis 69 sind es nur 37 Prozent. Allerdings ist schon die Feststellung, dass sich mehr als ein Drittel einsam fühlt, eigentlich erschreckend; bei mehr als der Hälfte ist das längst ein Anzeichen eines größeren gesellschaftlichen Problems. Nur, dass sich dieses Problem in den Altersgruppen unterschiedlich artikulieren dürfte – bis durch Einsamkeit verursachte physische Störungen auftreten, braucht es nun einmal einige Zeit, während andererseits psychische Folgen, darunter auch ausweichendes und ablenkendes Verhalten, wie Drogenkonsum oder exzessives Computerspielen eher bei den Jüngeren zu finden sein dürften (das ist allerdings eine Frage, mit der sich diese Studie gar nicht befasst).

Aufgrund der unterschiedlich großen Stichproben gibt es nicht für alle EU-Länder eine Auswertung. Das Ergebnis lautet jedoch, dass auch im EU-Vergleich die Jungen (57 Prozent) einsamer sind als die Älteren (47 Prozent), und Deutschland noch vergleichsweise gut abschneidet. Den Spitzenwert hält Frankreich mit 63 Prozent bei den jungen Erwachsenen, den es übrigens auch in Bezug auf den Anteil „stark Einsamer“ hält – mit 23 Prozent (als stark einsam gilt jemand, der in keiner der sechs Fragen eine positive Antwort gab).

Dann gibt es noch eine Auswertung nach Bildungsabschluss, die ergeben hat, dass sich die befragten jungen Erwachsenen insgesamt mit einem gehobenen Bildungsstand in Deutschland am wenigsten einsam fühlen. Am einsamsten sind jene mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss. Interessanterweise stiegen bei den deutschen Befragten die Werte der Einsamkeit bei Universitätsabschluss und Promotion wieder an, ein Phänomen, das sich im europäischen Durchschnitt nicht findet, wo die Werte erst von „kein Schulabschluss“ auf „Grundständig“ steigen, dann aber von Stufe zu Stufe sinken.

Wobei, und das ist ein Indiz für die begrenzte Wissenschaftlichkeit der Studie, in Deutschland beispielsweise nur 1,2 Prozent eines Jahrgangs promovieren, und das mit einem Durchschnittsalter von 30,4 Jahren. Und nun die Zahlen, auf denen die Auswertung beruht: Von den 2.848 in Deutschland befragten Personen gehörten 17 Prozent zur Gruppe der jungen Erwachsenen, das wären also 484 Personen. Da die Aussagen zur Einsamkeit Promovierter nur von jenen stammen können, die tatsächlich eine Doktorarbeit abgeschlossen haben, und die Gesamtgruppe der jungen Erwachsenen sich auf die Spanne von 18 bis 35 Jahre verteilt (wobei wir hier einmal so tun, als wäre jeder Jahrgang gleich stark vertreten), umfasst die Gruppe der möglicherweise Promovierten, auch wenn man sie mit 28 Jahren beginnen lässt, nur noch 215 Personen. Wenn sich darunter der statistische Anteil von Promovierten befindet, nämlich 1,2 Prozent, dann sind das etwas irreale 2,5, in Wirklichkeit also zwei oder drei Personen. Bei korrekter wissenschaftlicher Arbeit werden derartige Werte ausgeschlossen, weil sie keine statistisch verlässliche Aussage mehr treffen.

mmerhin wird das bei den europäischen Zahlen zumindest statistisch signifikante Ergebnis eines Zusammenhangs zwischen Bildung und Einsamkeit nicht gleich unmittelbar individualisiert: „Während einige Studien zeigen, dass Personen mit einem höheren Bildungsabschluss häufiger über ein geringeres Stresserleben, ein besseres soziales Netzwerk und qualitativ hochwertigere Beziehungen verfügen – Faktoren, die eher mit weniger Einsamkeit zusammenhängen – zeigen andere Studien, dass der Zusammenhang besser über das mit einer höheren Bildung einhergehende höhere Einkommen und die damit verbundenen größeren Möglichkeiten der sozialen Teilhabe erklärt werden kann.“

Nun, das ließe sich durch eine Abfrage der Einkommen verifizieren. Diese Frage scheint aber in der zugrunde liegenden Europinions-Umfrage (ebenfalls ein Produkt der Bertelsmann-Stiftung) gar nicht gestellt worden zu sein. So wie überhaupt weder der Einfluss der konkreten Gegebenheiten des Umfeldes (wie: Gibt es in meiner Gegend Vereine oder kulturelle Angebote etc.?) noch die Frage, ob das subjektive Einsamkeitsempfinden mit einer objektiven Isolation korreliert, überprüft wird – was die Schlussfolgerungen, die die Studie zieht, letztlich sehr problematisch macht.

Wenngleich es kein Wunder ist, dass ein zutiefst neoliberales Projekt wie die Bertelsmann-Stiftung, die noch dazu mithelfen soll, allerlei Dienstleistungen zu verkaufen, nur das „sich einsam fühlen“ aufgreift, und nicht eine ganz reale soziale Isolation und deren Ursachen, obwohl der konstatierte Einbruch durch die Coronamaßnahmen ja das Ergebnis einer sehr konkreten, noch dazu strafbewehrten Zwangsisolation war, also weniger mit Fühlen, sondern viel mehr mit Sein zu tun hatte.

Was also will Bertelsmann? Ein regelmäßiges Monitoring und „Maßnahmen zur Förderung der sozialen und emotionalen Kompetenzen“, die auch „präventiv eingesetzt werden können“. Man müsse „Risikogruppen identifizieren und die Problemlage besser einschätzen“ können, und „spezifische Angebote“ für Jugendliche und junge Erwachsene entwickeln.

„Neben der Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen haben sich vor allem solche Interventionen als besonders wirksam herausgestellt, die auf die Veränderung negativer Gedanken, Wahrnehmungen und Emotionen durch kognitiv-behaviorale Techniken fokussieren.“

Genau. Nachdem erst ein gesellschaftliches Problem zu einem individuellen gemacht wird, kann man nun „Angebote“ entwickeln, die dieses individuelle Problem eindämmen sollen – unter gründlicher Beobachtung, „Monitoring“ eben.

Da kann man auch zum Dorfschamanen gehen, das wäre vermutlich sogar wirkungsvoller. Denn ob man das jetzt „kognitiv-behaviorale Technik“ oder Wunderheilung nennt, an den objektiven, materiellen Faktoren der Einsamkeit ändert das gar nichts.

Da wirken beispielsweise die Tatsachen, dass die Coronamaßnahmen – vermutlich nicht nur in Deutschland – viele der noch vorhandenen Vereinsstrukturen geschreddert haben, durch die Schließungen von Gaststätten noch verbliebene Treffpunkte verschwanden (öffentliche Räume wie beispielsweise Jugendzentren wurden ja schon in den Jahrzehnten davor immer weiter ausgedünnt), und die sich verschlechternde Einkommenssituation die Nutzung solcher, mit Verzehrzwang versehenen, privaten Räumlichkeiten noch weiter erschwerte. Oder dass die monatelange Isolierung die in jugendlichem Alter zur Persönlichkeitsbildung wichtigen Peergroups zerbrach und auch andere kollektive Strukturen wie Kirchengemeinden sowohl ökonomisch als auch durch die ideologische Individualisierung unter Druck stehen. Sprich, dass nicht nur subjektive, sondern objektive Einsamkeit ein Ergebnis dieser gesellschaftlichen Entwicklung ist, und sich nicht wegbeten lässt.

Bei genauerer Betrachtung bleibt also eigentlich nur das Fazit des Corona-Dauerschadens übrig, der sich, wenn man die Zahl von 51 Prozent „einsamen jungen Erwachsenen“ ernst nimmt, auch in der Entwicklung von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen widerspiegeln wird. Aber in Bezug auf eine Lösung dieser gesellschaftlichen Problemlage ist Bertelsmann genau die falsche Adresse, was damit beginnt, dass wichtige Fragen gar nicht erst gestellt werden, und damit endet, dass mit dem Stichwort „Monitoring“ schon die Spur zu einer bei Bertelsmann buchbaren Dienstleistung gelegt ist. Die Einsamen bleiben aber weiter einsam.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde unter dem Titel „Die Einsamkeit junger Erwachsener – und was Bertelsmann daraus macht“ am 24.12.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS

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