Berlin, Deutschland (Weltexpress). Das heute an Hand der unterschiedlichen Haltung von EU- und NATO-Staaten zum Krieg in der Ukraine aktuelle Thema ist so neu nicht: Imperialistische Interessengegensätze bei der Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen, Einflusssphären, Rohstoffressourcen haben eine lange Geschichte. Auch die Beziehungen zwischen den faschistischen Regimes unter Hitler und Mussolini waren davon nicht ausgeschlossen. Erstmals brachen sie vor 90 Jahren offen aus, als am 25. Juli 1934 die Wiener SS-Standarte mit der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß einen Putsch auslösen und damit das Signal zum Einmarsch der Wehrmacht in Österreich geben sollte.
An diesem Tag fuhren gegen Mittag etwa 150 Angehörige der Wiener SS-Standarte in Uniformen des Heeres und der Polizei in Lastwagen in das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz, wo sie in das Arbeitszimmer von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß vordrangen. Während der Regierungschef versuchte zu fliehen, wurde er von zwei Schüssen getroffen. Die Mörder verweigerten dem Schwerverletzten ärztliche Hilfe und ließen ihn verbluten. Gegen 15.45 Uhr trat der Tod ein. Die Putschisten besetzen die Zentrale der Rundfunkgesellschaft Ravag (Radio Verkehrs AG) und verkündeten über das Radio den Rücktritt der Regierung und die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den früheren steirischen Landeshauptmann Anton Rintelen. Der Landwehr-Oberleutnant war 1932/33 Bildungsminister gewesen.
In Rom sicherte der faschistischen Diktator Mussolini sofort nach Bekanntwerden des Mordes Österreich Unterstützung zu und setzte vier Divisionen an die Brennergrenze in Marsch. In Berlin übergab Mussolinis Botschafter, Vittorio Cerruti, Außenminister von Neurath eine scharfe Protestnote. In der offiziösen Presse Roms wurde Berlin für die Ermordung von Dollfuß verantwortlich gemacht und von einer „Clique von Mördern und Päderasten“ gesprochen. Hitlers Botschafter von Hassel berichtete nach Berlin, dass „die Atmosphäre so gefährlich sei wie beim Kriegsausbruch 1914/15“.1 Der SS-Putsch in Wien sollte das Signal zum Einmarsch der Wehrmacht in Österreich geben. Angesichts der Haltung des „Duce“ musste Hitler davon absehen. Es kam, vor allem in der Steiermark und Kärnten, zu bewaffneten Auseinandersetzungen der SS mit Heeres- und Polizei-Einheiten. In Wien hatte Justizminister Kurt Schuschnigg die Amtsgeschäfte übernommen. Am 28. Juli war der Putsch dann überall zusammengebrochen. Bei den Kämpfen gab es etwa 170 Tote. Angesichts des Ausbleibens des Eingreifens der Wehrmacht legten die Putschisten in Wien, nachdem ihnen freies Geleit versprochen worden war, noch am 25. Juli ihre Waffen nieder. Die Zusage wurde jedoch mit Bezug auf den Mord an dem Bundeskanzler widerrufen. Der als Anführer des Putsches ausgegebene SS-Unterführer und NSDAP-Gauleiter, Fridolin Glass, konnte fliehen. 13 Putschisten wurden von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und am 31. Juli hingerichtet, darunter Dollfuß‘ Mörder Otto Planetta, der maßgeblich die Wiener SS-Standarte mit aufgestellt hatte.
Mussolinis Vorreiterrolle in Europa
Bevor Hitler 1933 in Deutschland an die Macht kam, fühlte sich Mussolini als der unbestrittene „Führer des Faschismus“ über Italien hinaus. In den 20ern und bis in die 30er Jahre hinein spielte sein Regime ja auch eine internationale Vorreiterrolle. Sein Machtantritt 1922 wirkte sich auf das 1920 in Ungarn an die Macht gekommene Horty-Regime und 1923 in Bulgarien auf die Etablierung der Zankow-Diktatur ebenso aus wie 1926 auf die Errichtung der militärfaschistischen Diktatur unter General de Fragoso Carmona in Portugal. Die Putschpläne Francos wurden 1936 unter Leitung italienischer und deutscher Militärs und der Nutzung der militärischen Erfahrungen vor allem der Mussolini-Faschisten ausgearbeitet.
Hitlers Vorbild
Besonders nachhaltig wirkten sich Beispiel und Erfahrungen des römischen Faschismus auf die Formierung des deutschen unter Hitler bis zu dessen Machtantritt in Deutschland aus. Das zeigte sich im direkten Einfluss der „Führerpersönlichkeit“ Mussolinis auf Hitler, im Entstehen der Strukturen seiner Bewegung und ihrer Kampfmethoden, besonders der sozialen Demagogie und des Terrors. Führende Kreise des deutschen Industrie- und Finanzkapitals beeindruckte, wie es dem „Duce“ gelang, dem italienischen Imperialismus in Gestalt der faschistischen Bewegung eine Massenbasis zu verschaffen, über die er vorher nie verfügt hatte. Hitler nannte seine SA wörtlich nach den von Mussolini geschaffenen Squadre d’Azione (Sturmabteilungen). Er übernahm den von Mussolini erfundenen Führertitel „Duce“ und den „römischen Gruß“, mit dem sich dieser mit erhobenem rechten Arm grüßen ließ. Ein unwesentlicher Unterschied bestand in dieser Zeit nur in der Farbe der Uniformhemden, die bei den italienischen Faschisten schwarz war, bei den deutschen braun. „Das Braunhemd“, so räumte Hitler in seinen „Monologen im Führerhauptquartier“ noch 1941 ein, „wäre vielleicht nicht entstanden ohne das Schwarzhemd“. Er gestand ebenso, dass Mussolini einmal für ihn „eine ganz große Persönlichkeit“ darstellte. 2
Es gab in Deutschland keine andere Partei, die der Mussolini-Partei in allen Belangen in gleicher Weise entsprochen hätte wie die NSDAP. Nach dem „Marsch auf Rom“ begann die Mehrheit der deutschen Kapitalkreise, die bis dahin dazu geneigt hatte, gestützt auf die Rechtsparteien und die militaristischen Verbände wie den Stahlhelm, die Monarchie wieder zu errichten, sich auf eine andere Erfolg versprechende Möglichkeit hin zu orientieren – auf eine bürgerliche Partei faschistischen Typs, wie sie Hitler im Begriff war aufzubauen. Nach dem erfolgreichen „Marsch auf Rom“ begannen dann Ruhrschwerindustrielle um Thyssen und Stinnes, Hitler und Ludendorff finanziell kräftig zu unterstützen, damit es diesen gelinge, an der Spitze der bayrischen Reaktion nach dem Vorbild Mussolinis einen ebenso erfolgreichen „Marsch auf Berlin“ durchzuführen. Die führenden Kreise des deutschen Kapitals orientierten sich in Auswertung der 1922 praktizierten römischen Kombination von Putsch mit anschließender „legaler“ Machtübergabe dahingehend, Hitler auf einem ähnlichen Weg an die Macht zu verhelfen, wobei der Schwerpunkt auf den SA-Terror zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung gelegt wurde. 3 Hitler und die deutschen Faschisten konnten, als sie dann 1933 an die Macht kamen, nicht nur auf ein Jahrzehnt Erfahrungen der Mussolini-Diktatur zurückgreifen, sondern auch deren Schwächen und Fehler auswerten.
Widerstreitende Interessen
Nach Hitlers Machtantritt zeigten sich die widerstreitenden Interessen als erstes in der Österreichfrage. Der von Berlin angestrebte „Anschluss“ beunruhigte Rom, das im Falle einer gemeinsamen Grenze um das deutschsprachige, früher österreichische, Südtirol, seine Kriegsbeute aus dem Ersten Weltkrieg, fürchtete. Außerdem lag von Wien aus der Balkan in greifbarer Nähe, eine Einflusssphäre, die Italien ebenfalls für sich beanspruchte. Mussolini, der sich gern mit Cäsar verglich und entsprechende geschichtliche Vergleiche liebte, versäumte nicht, deutlich zu machen, dass er Hitler in die Schranken gewiesen hatte, und führte die „historische Überlegenheit Italiens“ ins Feld. Auf einer Kundgebung am 6. September 1934 in Bari verkündete er: „Dreißig Jahrhunderte Geschichte erlauben uns, mit einem souveränen Mitleid auf gewisse Ideen von jenseits der Alpen zu blicken, die von einer Brut vertreten werden, welche wegen Unkenntnis der Schrift unfähig war, Dokumente ihres Vorhandenseins zu hinterlassen, als Rom einen Cäsar, Vergil und Augustus besaß.“ 4
Mussolinis Großmachtpläne
Mussolini fürchtete Hitlers Konkurrenz auch in Afrika und darüber hinaus weltweit. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts suchte das italienische Großkapital den Ausbruch aus seiner „Gefangenschaft im Mittelmeer“, dessen Ausgänge andere Großmächte besetzt hielten. Die Straße von Gibraltar kontrollierten die Engländer. Zusammen mit Frankreich desgleichen den Suezkanal. Die Dardanellen überwachten die Türken. Um sich ein Sprungbrett für eine expansive Mittelmeerpolitik zu schaffen, wollte Rom vor allem an der nordafrikanischen Küste Fuß fassen. Es liebäugelte mit dem von der Türkei beherrschten Tunis, der „alten römischen Provinz Karthago“.
Auf der Berliner Konferenz 1878 konnte Italien seine Ansprüche auf türkische Gebiete jedoch nicht durchsetzen. Es versuchte, über eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie nach Tunis zum Ziel zu kommen, wurde aber von Frankreich ausgebootet, das 1881 Tunis okkupierte, um seine „Rechte“ zu sichern. Rom reagierte ein Jahr später mit dem Beitritt zum Dreibund mit Deutschland-Österreich/Ungarn. Von den neuen Verbündeten erhoffte es sich mehr Unterstützung für seine kolonialen Ambitionen. Es erhielt zwar freie Hand für die noch wenigen „weißen Flecken“ in Nord- und Ostafrika, jedoch nicht die von Umberto I. während eines Staatsbesuches in Berlin angesprochene militärische Rückendeckung. Bismarck entgegnete schroff: „Der Dreibund ist keine Gesellschaft für Eroberungen im Interesse Italiens.“ 5
Die Mitgliedschaft im Dreibund hatte für Rom den Nachteil, dass es die Irredenta, 6 die sich auf die größtenteils italienischsprachigen Gebiete im Trentino, auf Triest und an der dalmatischen Küste richtete, zügeln musste. So wandte es sich Afrika und Kleinasien zu. Die äußeren Bedingungen waren günstig. Der antiägyptische Mahdistenaufstand im Sudan 1881-85 und die britische Intervention 1882 zwangen Kairo zum Rückzug von der Küste des Roten Meeres. London war an einer Ausdehnung Französisch-Somalilands südlich seines eigenen Besitzes nicht interessiert und favorisierte den weniger starken Konkurrenten Italien. Zunächst scheiterte Rom, als es 1887 versuchte, von Dogali im nördlichen Eritrea aus ins äthiopische Hochland vorzustoßen.
Die Wurzeln der faschistischen Rassenideolgie
Nachdem Missionare, Forschungsreisende der 1867 gegründeten Afrikagesellschaft und Kaufleute mit Besitzergreifungen die übliche Vorarbeit geleistet hatten, nahm Rom 1889/90 das Küstengebiet am Roten Meer zwischen den Häfen Assab und Massaua in Besitz und bildete die erste Kolonie Eritrea. Danach annektierte es den Südteil der Somalia-Halbinsel. Der geraubte Besitz am Durchgang zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean war vor allem von strategischer Bedeutung und wertete die Rolle Italiens gegenüber den Großmächten auf. Am 1. März 1896 scheiterte es dann aber ein weiteres Mal, Äthiopien als Kolonie zu unterwerfen. Bei Adua, einer kleinen Stadt im nordäthiopischen Hochland in der Provinz Tigre, wurde die 18.000 Mann und 56 Geschütze zählende Kolonialarmee von 60.000 Kriegern mit 42 Geschützen der vereinigten äthiopischen Stämme vernichtend geschlagen. Es war die erste Niederlage einer Kolonialmacht in Afrika. Nur 2.500 Kolonialsoldaten entkamen.7
Mit dem Übergang des Kapitals ins imperialistische Stadium begann der Kampf der Großmächte um die Neuaufteilung der Welt, in dem Italien seinen Großmachtanspruch anmeldete. Es suchte Rohstoffreservoire, Anlagefelder und Absatzmärkte. Zu Kernsätzen der imperialistischen Propaganda wurden die Losungen von „La Grande Italia“ (Großitalien) und dem Mittelmeer als „Mare Nostrum“ (unserem Meer). Die Ideologen des Kolonialismus traten als Interessenvertreter der „Erben des antiken Rom“ auf, die dazu berufen seien, die italienische Zivilisation in die Welt zu tragen. Forschungsreisende halfen mit verlogenen Reiseberichten, die kolonialen Eroberungen vorzubereiten. Obwohl sich die entstehende Rassenideologie graduell von der späteren der Hitlerfaschisten unterschied, gingen die in dieser Zeit geborenen Theorien von der generellen Überlegenheit der europäischen Völker aus und klassifizierten die Afrikaner als „minderwertige Menschengruppe“, als eine verwandte Form von Anthropoiden oder Affen, die eine besondere Neigung zur Kriminalität und zu Lug und Trug hätten. Angehörige „farbiger Rassen“ wurden entwicklungsgeschichtlich mit „Wilden“ auf eine Stufe gestellt. Afrika wurde als ein dunkler Kontinent mit wilder Bevölkerung und Angehörigen „minderwertiger Rassen“ dargestellt. Während der kolonialen Eroberungsfeldzüge in den folgenden Jahrzehnten dienten die rassistischen Theorien zur Rechtfertigung des barbarischen Terrors. 8 Parallel dazu wurde der Mythos vom „guten Italiener“ in die Welt gesetzt, der sich durch seine „humanen Züge“ deutlich von den Praktiken der übrigen Kolonialmächte unterscheide.
Der Überfall auf Libyen
Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien und die Herzegowina annektierte, erhielten die italienischen Großmachtambitionen neuen Auftrieb. 1911 setzte Rom an, seine Forderungen nach der Vorherrschaft im Mittelmeer und der Besitzergreifung von Kolonien in Nordafrika in die Tat umzusetzen. Die Türkei, das historische Osmanische Reich, befand sich seit der Niederlage im Krieg 1877/78 mit Russland in einer Zerfallskrise. So überfiel Italien das von ihr abhängige Tripolitanien und die Kyrenaika. Durch den erstmaligen Einsatz von Luftschiffen und Flugzeugen für Bombardements gelang es, Tripolis, Bengasi und das Küstengebiet rasch einzunehmen. In der „Prawda“ vom 28. September 1912 schrieb Lenin, der Krieg werde fortdauern, „denn die Araberstämme im Inneren des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht unterwerfen. Man wird sie noch lange ‚zivilisieren‘ – mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen.“
Lenins Voraussicht bewahrheitete sich, die Partisanen brachten den weiteren Vormarsch in den Wüsten zum Stehen. Den Widerstand in der Nähe der Oasen von al-Dschaghbub und Siwa sowie im Fessan konnten die Italiener nie völlig brechen. Die Oasen von Kufra im Süden der Kyrenaika erreichten sie erst Anfang der dreißiger Jahre.
Mit stillschweigender Billigung Russlands, Großbritanniens und Frankreichs besetzte Italien noch den Dodekanes. Die Entente-Mächte ließen Rom gewähren, um es dem Dreibund zu entzweien. Die Türkei anerkannte im Friedensvertrag von Lausanne am 18. Oktober 1912 die Eroberungen, die Rom zur Kolonie Libyen zusammenschloss. Als die italienische Flotte auch noch zum Überfall auf die Dardanellen ansetzen wollte, geboten London, Paris und Petersburg jedoch Einhalt. Das Geschwader musste abdrehen. Auf der Londoner Konferenz vom Dezember 1912 konnte Italien am Tisch der Großmächte Platz nehmen. Zusammen mit Deutschland, Österreich/Ungarn, Russland, Frankreich und Großbritannien erhielt es das Mandat über Albanien. Das Londoner Geheimabkommen der Entente von 1915 legte die Aufteilung Albaniens unter Italien, Griechenland, Serbien und Montenegro fest. Nach dem Ende des Krieges übergab die Friedenskonferenz 1919 in Saint-Germain-en-Laye Italien das alleinige Mandat. Es erhielt außerdem Südtirol bis zur Brennergrenze und das Küstenland Venezia-Giulia mit Triest, Istrien und der Insel Cherson. Ferner wurde der Besitz des Dodekanes, darunter Rhodos, bestätigt. Hoffnungen auf verlorene Kolonien Deutschlands erfüllten sich nicht.
Der Balkan, eine Einflusssphäre Mussolinis
Die 1922 unter Mussolini errichtete faschistische Diktatur wurde in Italien, wie später in Deutschland, zur wesentlichen Grundlage einer Politik, welche die Expansionsziele unter günstigeren Voraussetzungen in Angriff nehmen konnte. Zunächst dehnte das faschistische Italien seine Einflusssphären auf dem Balkan aus. Nachdem Mussolini der albanischen Reaktion geholfen hatte, die 1920 begonnene bürgerlich-demokratische Revolution niederzuschlagen, unterwarf er 1926 das Land seiner Vorherrschaft und annektierte es 1939 als Kolonie.
Nach Afrika die Frage der Neuaufteilung der Welt stellen
1925 wurde die Eroberung Tripolitaniens und 1929 des Fessan vollendet, 1930 folgte die Kyrenaika. Der Historiker Eric Salerno schrieb, dass während der massiven Bombardements gegen die Zivilbevölkerung bereits in der Kyrenaika Giftgas eingesetzt wurde. 9
Nach der Unterwerfung Libyens bereitete Mussolini die Eroberung Äthiopiens vor. Die Schaffung eines Kolonialreiches in Afrika sollte Basis und Ausgangspunkt weiter reichender Weltherrschaftspläne werden. Die in dieser Zeit erreichte Zustimmung von Massen der Bevölkerung steigerte den Größenwahn Mussolinis und die Weltmachtambitionen des Regimes. Zum 10. Jahrestag des Marsches auf Rom führte er am 16. November 1932 in der Abgeordnetenkammer aus: „In dieser düsteren, verstörten und schon wankenden Welt kann das Heil nur von den in Rom verkündeten Wahrheiten kommen und wird auch von Rom kommen.“ Am 28. Dezember 1932 kündigte er in Littoria (heute Latina), der ersten in den Pontinischen Sümpfen neu gegründeten Stadt, an: „Eines Tages, wenn wir die Zeit für gekommen halten, werden wir über die Alpen gehen und den Ozean überqueren.“ 10
Während sich Hitlerdeutschland auf einen neuen Waffengang zur Eroberung der Weltherrschaft vorbereitete, schritt Mussolini am 3. Oktober 1935 zur Eroberung Äthiopiens (damals Abessinien). Faktisch begann mit dieser Aggression der Zweite Weltkrieg. IKP-Generalsekretär Palmiro Togliatti sprach in seiner Rede auf dem VII. Weltkongress der Komintern vom „Hineinschlittern in einen neuen Weltkrieg“. 11 Der Überfall wurde außenpolitisch dadurch begünstigt, dass die Weltöffentlichkeit vor allem auf Hitlerdeutschland sah, das 1935/36 den Versailler Vertrag zerriss, die allgemeine Wehrpflicht einführte und in die entmilitarisierte Rheinzone einmarschierte. Mit Äthiopien wollte Italien zunächst sein ostafrikanisches Kolonialreich vollenden, um dann „die Kolonialkarte Afrikas zu ändern und damit die Frage der Neuaufteilung der Welt praktisch zu stellen“.
Die Stresa-Front gegen Hitlerdeutschland
Die Konfrontation mit Berlin führte zu einer zeitweiligen Annäherung an Paris und London, was die Vorbereitung des Überfalls weiter begünstigte. Während eines Besuchs des französischen Außenministers Pierre Laval am 7. Januar 1935 in Rom sprachen sich beide Seiten für die Wahrung der Unabhängigkeit Österreichs aus. Paris und London versuchten, die Interessengegensätze zu nutzen, um Mussolini in ein Bündnis gegen Hitler einzubeziehen. Am 11. bis 14. April 1935 trafen sich Frankreichs Regierungschef Pierre-Étienne Flandin, Großbritanniens James Ramsey MacDonald mit Mussolini im norditalienischen Stresa am Lago Maggiore und vereinbarten, die Ostgrenzen Frankreichs und Belgiens sowie die Unabhängigkeit Österreichs zu garantieren.
Das gegen Deutschland gerichtete Bündnis ging als Stresa-Front in die Geschichte ein. Am 28. und 29. Juni schlossen die Generalstabschefs der drei Staaten ein Geheimabkommen über ihre Zusammenarbeit im Falle einer deutschen Invasion in Österreich. Weiter sagte Rom zu, die französische Mittelmeerpolitik zu unterstützen, während Paris „Cart blanche“ für das italienische Vorgehen in Äthiopien gewährte. London, das um seiner angrenzenden Kolonien Kenia und Uganda sowie den anglo-ägyptischen Sudan fürchtete, ließ sich von Mussolini beruhigen, dass „seine Interessen in Ostafrika nicht beeinträchtigt würden“. 12 Es begann die so genannte Politik des Appeasement, die Täuschung der Öffentlichkeit über die Aggressionsabsichten Mussolinis. Die Ablehnung der Einbeziehung der UdSSR und ihrer Vorschläge zu einer Politik der „kollektiven Sicherheit“ verdeutlichten die von Paris und vor allem London ausgerichtete antisowjetische Stoßrichtung der Stresa-Front.
In Stresa stand auch die „Äthiopienfrage“ trotz der bekannten italienischen Kriegsvorbereitungen nicht auf der Tagesordnung. Mussolini konnte das als einen weiteren Beweis dafür werten, dass Großbritannien und Frankreich seinen Ansprüchen keinen ernsthaften Widerstand entgegen setzen würden, wenn sie ihre eigenen Positionen nicht bedroht sahen. Mussolinis Vorbehalte gegenüber Hitler entsprangen den Befürchtungen, Deutschland könnte rasch eine starke Militärmacht und Italien bei seinen eigenen Expansionsplänen ein ernsthafter Konkurrent werden. Insgesamt dürfte es sich jedoch um taktische Ambivalenz gegenüber Großbritannien und Frankreich gehandelt haben, um sie zum Wohlwollen gegenüber seinen eigenen Plänen zur Eroberung Äthiopiens zu veranlassen. 13
Die britische Position gegenüber Italien wurde, wie gegenüber Deutschland, von der antisowjetischen Stoßrichtung bestimmt. Die Konservativen hatten Mussolini schon seit seinem Machtantritt unverhohlene Sympathien dafür bekundet, dass er das Land vor dem „Bolschewismus gerettet“ und es „erneuert“ habe. Dem faschistischen Italien wurde das „Recht auf Expansion“ zugebilligt und ihm die Wahrnehmung einer „zivilisatorischen Mission“ in Afrika bescheinigt. Ein interministerieller Ausschuss hielt im Juni 1935 fest, dass es „keine vitalen britischen Interessen“ gebe, die erforderten, „sich einer italienischen Eroberung Äthiopiens zu widersetzen“. Im Rahmen der bekannten Vorbereitung des Überfalls beschäftigten London allen Ernstes andere Sorgen. Angesichts der beträchtlichen Kampfkraft der äthiopischen Armee befürchtete man, der Feldzug könnte die militärischen Potenzen Italiens überfordern. Es könnte zu einem „erschöpfenden afrikanischen Abenteuer“ kommen und das gar zu einem Zusammenbruch des Faschismus führen. 14
Als nach dem Beginn der Aggression wirksame Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien ausblieben, wurde Außenminister Lord John Simon nach einem Bericht des englischen Historikers A. L. Rowse folgende Frage gestellt: Warum die Engländer nicht irgendeinen Zwischenfall arrangierten, zum Beispiel ein Schiff im Suezkanal versenkten, was die Verbindung zwischen Italien und seinen Armeen in Äthiopien unterbrechen würde. Simons Antwort lautete: „Wir können das nicht tun, weil das Mussolinis Sturz bedeuten würde.“ 15
Deutsche Waffen für den Negus 16
Der von Paris und London beherrschte Völkerbund verurteilte Italien am 7. Oktober 1935 als Aggressor, verhängte aber vier Tage darauf nur weitgehend wirkungslose Sanktionen. Den begangenen Völkermord und den anhaltenden barbarischen Kolonialterror ignorierend hob der Völkerbund die Sanktionen bereits am 16. Juli 1936 auf. Italien stellte seine Mitarbeit nach der Verurteilung ein, erklärte jedoch erst am 11. September 1937 seinen Austritt. Hitlerdeutschland, das die Organisation bereits nach dem faschistischen Machtantritt verlassen hatte, erklärte sich formell neutral und verweigerte Zwangsmaßnahmen. Die deutschen Exporte nach Italien stiegen bei Kohle, Koks, Maschinen, Chemieerzeugnissen sowie Eisen- und Stahlprodukten bis Ende 1935 um etwa ein Drittel an. Ein höherer Zuwachs war auf Grund der eigenen ungünstigen Rohstofflage nicht möglich. Berlin interpretierte die italienische Aggression als einen „Rassenkonflikt“ und „gerechten Kampf“.
Hitler versuchte zunächst, Mussolini die ein Jahr vorher beim Versuch, in Österreich einzumarschieren, für Wien bezogene Position heimzuzahlen. So habe er Äthiopien in geringem Umfang Waffen geliefert. Im Auftrag des Heereswaffenamtes gingen im Juli 1935 über anonyme Kanäle nach Addis Abeba 10.000 Mausergewehre, Maschinengewehre und -pistolen, 10 Milionen Patronen, Handgranaten sowie Medikamente. Ferner 30 Panzerabwehrkanonen Kaliber 3,7 cm mit Munition. Das Kriegsgerät stammte aus der Produktion von Rheinmetall-Borsig. Von den Waffen wurden die Firmenzeichen entfernt. In der Schweiz ließ das Heereswaffenamt 36 Örli-Kanonen kaufen und nach Äthiopien verschicken. Die Lieferungen umfassten einen Wert von drei Millionen Reichsmark. Später folgten noch kleinere Lieferungen als Geschenke. 17Das sei, heißt es bei Mantelli, unter dem Aspekt geschehen: „Je schwieriger es für Italien würde, seine Eroberungsträume zu verwirklichen, umso notwendiger würde es, sich auf Deutschland zu stützen.“ Offiziell wurde Italien versichert, dass „die Reichsregierung weder Waffenlieferungen an den Negus noch die Anwerbung deutscher Freiwilliger für Abessinien zulassen würde“.
Nach dem Scheitern der italienischen Offensive, über die der deutsche Botschafter in Rom, Ulrich von Hassel, am 17. Januar 1936 Hitler informierte, kam es jedoch zu einem Meinungsumschwung in Berlin. Er war auch eine Reaktion auf das Angebot Mussolinis vom 6. Januar, die Meinungsverschiedenheiten über die Österreichfrage beizulegen. Nach der Niederschrift Hassels habe der „Führer“ danach erklärt, dass „ein Zusammenbruch des Faschismus in Italien (…) im höchsten Grade unerwünscht“ sei und „wir müssten alles tun, um zu vermeiden, dass sich die mannigfache Gegnerschaft der Welt gegen das autoritäre Regierungssystem auf uns als einzigen Gegenstand konzentriere.“ Es läge „auch in unserem Interesse, dass Italien als Faktor im europäischen Spiel nicht allzu sehr geschwächt würde. Eine Zeitlang hätte man vielleicht, besonders nach den bekannten Demonstrationen Mussolinis am Brenner, von uns durchaus wünschen können, dass Italien nicht allzu groß und erfolgreich aus dem Konflikt hervorgehe, indessen sei diese Gefahr wohl heute nicht mehr in sehr hohem Grade vorhanden. Vielmehr sei umgekehrt zu befürchten, 18 dass der Faschismus und überhaupt Italien aus der Prüfung zertrümmert und schwer beschädigt hervorginge. Wir könnten daher deutscherseits nur das Bestreben haben, unsererseits das Mögliche zu tun, um einen solchen Zusammenbruch zu verhindern.“ 19
Kommunisten solidarisch mit Äthiopien
Das Engagement der italienischen Kommunisten dagegen ging von der Solidarität mit Äthiopiens Widerstand gegen den faschistischen Überfall aus. Der rassistischen Losung von der „zivilisatorischen Mission“ setzte Togliatti die der „Vereinigung der Proletarier und unterdrückten Völker“ entgegen. „Wenn der Negus von Abessinien durch die Vereitelung der Eroberungspläne des Faschismus dem italienischen Proletariat helfen wird, dem Regime der Schwarzhemden einen Schlag aufs Haupt zu versetzen, (wird) niemand ihm seine Rückständigkeit zum Vorwurf machen. (…) Das abessinische Volk ist der Verbündete des italienischen Proletariats gegen den Faschismus und wir versichern (…) das abessinische Volk unserer Sympathien.“ 20 Das blieben keine Lippenbekenntnisse. 38 italienischen Kommunisten gelang es, nach Äthiopien durchzukommen, wo sie in den Reihen der Armee Selassies gegen die Truppen Mussolinis kämpften. Unter ihnen befand sich der spätere Kommandeur der internationalen Garibaldi-Brigade in Spanien, Ilio Barontini, der nach dem Sturz Mussolinis 1943 an der Formierung und Leitung des bewaffneten Widerstandes gegen Hitlerdeutschland beteiligt war. 21
Mussolini lenkte ein
Noch während die Eroberung Äthiopiens im Gange war, ergriff Mussolini die Initiative zur Normalisierung der Beziehungen mit Berlin. Am 6. Januar 1936 schlug er Hitlers Botschafter in Rom vor, „die italienisch-deutschen Beziehungen von der österreichischen Hypothek zu befreien.“ 22 Damit hatten sich in der faschistischen Partei jene Kräfte durchgesetzt, die – nicht zuletzt angesichts der Entwicklung in Spanien – für ein enges Bündnis von Berlin und Rom eintraten. Ihr Exponent war der Schwiegersohn des „Duce“, Graf Galeazzo Ciano, ein Interessenvertreter der Finanzoligarchie, der am 11. Juni 1936 das Außenministerium übernahm, das bis dahin Mussolini selbst innehatte. Am 25. Oktober 1936 bildeten beide Regimes die Achse Berlin-Rom. Am 6. November 1937 trat Italien dem Antikominternpakt bei. Das bedeutete auch das Ende der Stresa-Front.
So konnte Mussolini vorerst triumphieren. Am 1. Juni 1936 schloss er Äthiopien mit Eritrea und Italienisch-Somaliland zur Kolonie Italienisch Ostafrika zusammen. Vittorio Emanuele III. setzte sich die äthiopische Kaiserkrone auf und der römische Klerus feierte Mussolini als „einen wunderbaren Duce, der das Kreuz Christi in alle Welt trägt.“ Pius XI. zwang den Äthiopiern auf den Trümmern der koptischen Kirche eine ihnen fremde Religion auf. Der Mailänder Kardinal Ildefonso Schuster feierte im Dom der Stadt in einer Messe die Heldentaten des italienischen Heeres, das in seiner Pflichterfüllung das „Licht der Zivilisation nach Äthiopien getragen“ habe. 23
Für das Kapital waren reiche Rohstoffquellen erobert worden: Eisen, Kupfer, Mangan, Schwefel, Nickel, Platin und Gold. Während für unzählige Äthiopier ein Hungerdasein begann, transportierten Frachter das Getreide des Landes nach Italien. Es gelang indessen nicht, Äthiopien völlig zu unterwerfen. Die verschiedenen Stämme unter Führung ihrer Ras (Fürsten), aber auch selbständige Partisanenabteilungen aus früheren Soldaten und Offizieren kontrollierten die schwer zugänglichen Bergregionen und Wüstengebiete. Um den Widerstand zu zerschlagen, führten Abteilungen der Schwarzhemden „Strafexpeditionen“ durch. Ein Augenzeuge schilderte, wie in Addis Abeba italienische Zivilisten in „echter SA-Manier“ herumliefen und „mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet“ die Einheimischen, die sich noch auf der Straße befanden, erschlugen. Die Straßen um die Hütten seien „von Toten übersät.“ 24
Gegen den Widerstand wurde erneut Giftgas eingesetzt. Nach einem erfolglosen Attentat gegen sich befahl Graziani, nunmehr Marschall und Generalgouverneur von Italienisch-Ostafrika, am 19. Februar 1937 ein Massaker, dem nach äthiopischen Angaben allein in der Hauptstadt 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Er ordnete an, die äthiopische Intelligenz als einen potentiellen Oppositionsherd zu liquidieren. Unzählige christlich-koptische Geistliche und alle Kadetten der Militärakademie von Addis Abeba wurden umgebracht. Nur auf den Verdacht hin, dass sie an dem Attentat beteiligt gewesen sein könnten, ließ Graziani im Mai 1937 nahezu 300 Ordensbrüder des Klosters Debre Libanos erschießen. Unzählige Äthiopier sperrte das Kolonialregime in Konzentrationslager, wo die meisten elendiglich zu Grunde gingen. 25 Insgesamt kamen unter der faschistischen Herrschaft etwa 750.000 Äthiopier ums Leben.
Rassenideologie durchgesetzt
In Äthiopien wurde unverzüglich die römische Rassenideologie durchgesetzt. Sie zielte darauf ab, den Geist des Herrenmenschen und der Herrenrasse zu züchten, die Italiener auf ihre Rolle als künftige Eroberer des ganzen Kontinents vorzubereiten. Graf Ciano, Schwiegersohn des „Duce“, zu dieser Zeit Propagandaminister, betonte in einer Weisung die „klare Trennung“ der Rassen und keinerlei Annäherung „der italienischen Rasse (…) an die schwarze Rasse“, um die „Reinheit“ der italienischen absolut zu wahren.
Eine maßgebliche Grundlage des römischen Rassismus bildeten die Schriften des faschistischen Ideologen Julius Evola. Als Anhänger des in der Weimarer Republik berüchtigten Deutschen Herrenklubs, eines Wegbereiters des Machtantritts Hitlers, und nach 1933 des Freundeskreises Himmlers, schrieb er unter dem Einfluss von Nietzsche, der deutschen Mystik, dem SS-Totenkult und anderem reaktionären deutschen Gedankengut sein Hauptwerk „Die Söhne der Sonne“. In ihm verherrlichte er die Überlegenheit der arischen Rasse, Führerkult, soldatische Disziplin und den Ordensstaat. Angelo Del Boca und Mario Giovana haben in einem Buch „I Figli del Sole“ Evolas Rassismus analysiert und geschrieben: Evolas „Söhne der Sonne“ seien Herrenmenschen, die gegenüber „jeglicher Schwäche unerschütterlich“ seien, für die „nichts wahr und alles erlaubt ist“. Außer den „Herren“ würden nur Sklaven existieren. Die Masse bestehe nur aus Dienern, aus „Leuten, die überhaupt keine Rechte haben“, auch nicht das auf Leben, und über deren Vernichtung „man keine Träne zu vergießen braucht“. 26
Mit den rassistischen Instruktionen wurde der Boden bereitet für das im Juli 1938 verkündete „Rassenmanifest“, mit dem Mussolini grundsätzlich und wesentlich die faschistischen Rassengesetze Hitlerdeutschlands übernahm. „Die gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertretene Hypothese, die italienischen Rassengesetze seien auf Druck des deutschen Bündnispartners eingeführt worden, entbehrt jeglicher Grundlage“. 27
Italiens Eintritt in den Zweiten Weltkrieg
Am 12./13. März 1938 musste Mussolini die Annexion Österreichs hinnehmen. In Berlin war man sich bewusst, dass Rom äußerst reserviert, wenn auch schweigend zuschaute. Das verdeutlichte Hitlers Reichstagsrede am 18. März. Der „Führer“ dankte dem „Duce“ ausdrücklich für seine Haltung, die er „nie vergessen werde“ und versicherte: „Das Land und die Grenzen dieses Freundes aber sind für uns unantastbar“. 28 Die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols (Alto Adige, Oberetsch) begrüßte mehrheitlich die Einverleibung Österreichs. Mussolini stimmte deshalb am 21. Oktober 1939 einem Abkommen mit Deutschland zu, das allen Einwohnern, die es wünschten, die Aussiedlung gestattete. 86 Prozent entschieden sich für Deutschland. 80.000 von damals 300.000 „Reichs- bzw. Volksdeutschen“ verließen bis 1940/41 Südtirol. Unter den Bedingungen des Krieges wurde die Aussiedlung dann abgebrochen.
Auf der Münchener Konferenz am 29. und 30. September 1938 schlossen Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich das berüchtigte Abkommen, welches Hitler zur Annexion tschechoslowakischer Gebiete ermächtigte und zu weiteren Aggressionen im Osten ermunterte. Mussolini überfiel am 7. April 1939 Albanien und annektierte es als Kolonie. Viktor Emanuel III., bereits äthiopischer Kaiser, ernannte sich noch zum albanischen König. Am 22. Mai 1939 schloss Italien mit Deutschland einen „Stahlpakt“ genannten „Freundschafts- und Bündnisvertrag“. Er legte den gegenseitigen Beistand im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen mit einer anderen Macht oder anderen Mächten fest.29
Wachsende Gegensätze
Als die Wehrmacht zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Blitzsiege gegen Polen, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Norwegen erzielte, die britisch-französischen Truppen am 4. Juni 1940 eine Niederlage erlitten und die Wehrmacht ihre Offensive in Frankreich fortsetzte, meinte Mussolini, „im September ist alles vorbei“ und trat in den Krieg ein, um sich einen Anteil an der Beute zu sichern. Am 10. Juni 1940 gab er vom Balkon des Palazzo Venezia in Rom die Kriegserklärung an Großbritannien und Frankreich bekannt: „Volk Italiens! Zu den Waffen! (…) Wir wollen die Ketten der territorialen und militärischen Ordnung, die uns in unserem Meer erwürgen, sprengen, weil ein 45-Millionen-Volk nicht wirklich frei ist, wenn es keinen freien Zugang zum Ozean hat.“ 30
Die von Italien an der Alpenfront eröffneten Angriffe zeitigten jedoch kaum Erfolge und übten keinen Einfluss auf die Kampfhandlungen in der Endphase des Frankreichfeldzuges der Wehrmacht aus. Bei den Waffenstillstandsverhandlungen mit Frankreich am 24. Juni 1940 in Rom konnte Mussolini seine Ansprüche auf Korsika, Tunis und Djibouti nicht durchsetzen. Hitler billigte ihm nur einen kleinen Küstenstreifen an der Côte d’Azur bis Mentone zu.
So versuchte Mussolini seine Großmachtansprüche auf dem Balkan und in Nordafrika zur Geltung zu bringen. Im Oktober 1940 fiel er von Albanien aus in Griechenland ein. Hitler war über den Angriff nicht informiert worden. Die italienische Offensive scheiterte an der unerwartet starken Abwehr der griechischen Armee, welche die Italiener in ihre Ausgangsstellungen zurückwarf. Am 9. März 1941 startete der „Duce“ den zweiten Versuch, Griechenland zu erobern. Eine Woche nach ihrem Beginn brach auch diese Offensive zusammen. Berlin war wiederum nicht informiert worden. Hitler soll, als er von dem Überfall erfuhr, „einen Tobsuchtsanfall erlitten haben“. 31
Die Aggressionsplanung der Wehrmacht gegen die UdSSR sah zur Absicherung der Südostflanke den Überfall auf Jugoslawien und Griechenland vor. Hitler wartete zunächst ab. Dann zeichnete sich jedoch britische Unterstützung ab und die Griechen setzten zu Gegenangriffen an. Da sein Achsenpartner vor aller Welt „richtiggehend verprügelt“ wurde, startete die Wehrmacht im Vorfeld der Aggression gegen die UdSSR am 6. April von Bulgarien und Ungarn aus zum geplanten Überfall auf Jugoslawien und Griechenland. Die italienischen Truppen wurden von nun an dem Oberbefehl der Wehrmacht unterstellt.
In völliger Verkennung der militärischen Möglichkeiten startete Mussolini im Sommer 1940 mehrere Angriffe in Nord- und Ostafrika. Im Juli stießen seine Truppen nach Sudan und Kenia vor. Am 3. August fielen sie in Britisch-Somaliland ein, das sie am 19. August mit der Einnahme von Berbera fast vollständig eroberten. Im September drangen sie von Libyen aus in Ägypten bis Sidi Barrani vor. Die abenteuerlichen Vorstöße scheiterten binnen kurzer Zeit. Sidi Barrani wurde am 10. Dezember von den Briten zurückerobert. Am 22. Januar 1941 nahm die 8. britische Armee Montgomerys Tobruk ein, am 8. Februar Marsa el Brega und El Agheila. Die Briten zerschlugen zehn italienische Divisionen, machten 130.000 Gefangene, erbeuteten zahlreiche Panzer und Geschütze.
Am 18. Januar 1941 begann in Ostafrika unter britischem Oberbefehl zusammen mit äthiopischen Truppenteilen unter dem Kommando von Kaiser Selassie der Angriff auf Äthiopien, Eritrea und Italienisch-Somaliland. Am 18. Mai 1941 kapitulierte Italien in Ostafrika. In Nordafrika wurde der völlige Zusammenbruch vorerst durch das ab 6. Februar 1941 zu Hilfe geschickte deutsche Afrikakorps abgewendet.
Keine Unterschiede im Klassencharakter des italienischen Faschismus
Konservative Historiker nahmen die Interessengegensätze zwischen Hitler und Mussolini gelegentlich zum Anlass der Meinung, der italienische Faschismus sei im Vergleich mit dem deutschen weniger grausam, weniger barbarisch und auch nicht so aggressiv gewesen. Das entspricht mitnichten den Realitäten. Bereits die Kolonialverbrechen zeigen, dass es vom Wesen her zwischen beiden Regimes keine Unterschiede gab. Noch bevor unter Hitler in Deutschland Konzentrationslager errichtet wurden, wandte Mussolini diese barbarische Praxis der Unterdrückung des Volkswiderstandes
bereits bei der Eroberung von Libyen an. Bei der Durchsetzung seiner kolonialen Expansionspläne beging der italienische Faschismus Völkermord und setzte in Äthiopien die international vertraglich geächtete damalige chemische Massenvernichtungswaffe Yperit ein. Unterschiede im Grad der Unterdrückung im Inneren oder in der mit Beginn des Zweiten Weltkrieges einsetzenden Begrenzung der italienischen Aggressionsziele änderten nichts am Klassencharakter des italienischen Faschismus.
Nach dem Scheitern des italienischen Überfalls auf Griechenland im Oktober 1940 zeigte sich jedoch, dass Italien seine Expansionsziele nur noch mit deutscher Hilfe in Angriff nehmen konnte. Mussolini musste seine Pläne den deutschen unterordnen, wobei sich Hitlerdeutschland die günstige strategische Lage Italiens als Sprungbrett für seine eigenen Kriegsziele auf dem Balkan, in Nordafrika und im Nahen Osten zunutze machte.
Derartige Unterschiede des italienischen gegenüber dem deutschen Faschismus, die in gewisser Weise auch im Grad der Unterdrückung oder in den begrenzten Aggressionszielen zum Ausdruck kamen, änderten indessen nichts am Klassencharakter des Faschismus als solchen. Sie ergaben sich wesentlich daraus, dass der wirtschaftlich und militärisch schwächere römische Imperialismus dem raffinierteren, rücksichtsloseren und in Aggressionskriegen erfahreneren deutschen unterlegen war.
Anmerkungen:
1 Manfred Funke: Brutale Freundschaft und Legendenschleier. Marginale zur Vorgeschichte der Achse Rom-Berlin. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, München, Heft 12/1972, S. 716.
2 Gerhard Schreiber: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, München 1996, S. 13.
3 Kurt Gossweiler: Kapitel, Reichswehr und NSDAP, Berlin/DDR 1984, S. 304, 320 f.
4 Giorni, della Storia d’Italia. Dal Risorgimento a Oggi. Novarra 1997, S. 453; Elisabeth Wiskemann: The Rom-Berlin Axis, London 1949, S. 40.
5 Heinz Meinicke-Kleint: Algerien, Marokko, Tunesien. Unterjochung und Befreiung, Berlin/DDR, 1965, S. 25 f.; Dietmar Stübler: Geschichte Italiens, 1789 bis zur Gegenwart, Berlin 1987, S. 59 ff.
6 Unerlöstes Italien. Bezeichnung für die nach der Einigung Italiens seit 1861 entstandene Bewegung in den genannten Gebieten, die den Anschluss dieser „terre irredente“ (unerlösten Gebiete) an Italien forderte, darunter in den Alpen als natürliche Grenze den Brenner und Sankt Gotthard.
7 Heinrich Loth: Geschichte Afrikas. Afrika unter imperialistischer Kolonialherrschaft und die Formierung der antikolonialen Kräfte 1884-1945, Berlin/DDR 1976, S 24 f. Die offiziellen italienischen Angaben bezifferten die italienischen Verluste auf 4.000 Tote. Giorni, S. 252 f.
8 Schon unter diesem Gesichtspunkt entbehren die Auffassungen des konservativen Faschismusforschers Renzo De Felice, dass der Rassismus dem italienischen Faschismus im Grunde fremd gewesen sei, jeder historischen Grundlage. Siehe Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936-1941, Köln 2000, S. 12.
9 Eric Salerno: Genocidio in Libia 1911-1931, Mailand 1979, S. 48
10 Stübler, S. 140.
11 Togliatti in: Wilhelm Pieck, Georgi Dimitroff, Palmiri Togliatti: Die Offensive des Faschismus. Referate auf dem VII. Kongress der Kommunistischen Internationale, Berlin/DDR, S. 198.
12 Marco Palla: Mussolini e il Fascismo, Florenz 1993, S. 102; Giorni, S. 456 ff.
13 Kurt Pätzold/Erika Schwarz: Europa vor dem Abgrund. Das Jahr 1935 – eine nicht genutzte Chance. Köln 2005, S. 82 ff.
14 Siegfried Bünger: Großbritannien. Konturen der
Deutschlandpolitik, in: Pätzold/Schwarz, S. 82 ff.
15 Alfred Leslie Rowse: All souls and Appeasement, London 1961, S. 26.
16 Der äthiopische Kaiser Haile Selasie führte den Titel Negus Negest (König der Könige).
17 Manfred Funke: Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinien-Konflikt, Düsseldorf 1970, S. 45 ff. ; Brunello Mantelli: Kurze Geschichte des italienischen Faschismus, Berlin 1998, S. 110.
18 Nachdem die Kolonialarmee zunächst gescheitert war, hatte Mussolini im November 1935 befohlen, das Giftgas Yperit einzusetzen. Nach dem Abwurf von wenigstens 350 Tonnen gelang der Durchbruch. Angelo Del Boca, Le Guerre coloniale del Fascismo; Rom/Bari 1991, S. 232 ff.
19 Zit. in Loth S. 213 f.
20 Togliatti in: Pieck u. a., S. 217.
21 Aginform. Foglio di Corrispondenza comunista, Rom, Nr. 51 – Novembre 2005.
22 Stübler, S. 152 f.
23 Giorni, S. 461 f.
24 Ciro Poggiali: Appunti segreti dell Inviato del Corriere della Sera, Mailand 1977, S. 182. Es handelt sich um den Bericht des Korrespondenten des Mailänder Blattes, den dieser erst 1971 veröffentlichte.
25 Del Boca La Conquista dell Impero, Rom/Bari 1979, S. 96 ff.
26 Angelo Del Boca/Mario Giovanna; I Figli del Sole. Mezzo Secolo di NaziFascismo nel Mondo, Mailand 1965, S. 130 ff.
27 Zit. in: Gabriele Schneider, a. a. O., S. 76,
28S. 21.
29 Giorgio Candeloro: Storia dell Italia moderno, Bd. 10, Mailand 1995, S. 52f.; Giorni, S. 475 f
30 Stübler, S. 162.
31 Pietro Badoglio: Italien im Zweiten Weltkrieg, München/Leipzig 1947, S. 47, 52; Schreiber, S. 17.
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