Berlin, Deutschland (Weltexpress). Mit der leidenschaftlichen Teilnehmerin an der deutschen Revolution 1848/49, Mathilde Franziska Anneke, die danach eine herausragende Persönlichkeit der amerikanischen Demokratie- und Frauenbewegung war, soll eine Persönlichkeit revolutionärerer Gestalten gewürdigt werden.
Sie wurde 1817 im westfälischen Sprockhövel, einer heute 25.000 Einwohner zählenden Kleinstadt, geboren. Sie war das, was man eine „Tochter aus gutem Hause“, nannte, dennoch eine hungernde Poetin, revolutionäre Journalistin, Schriftstellerin und politisch verfolgte Asylantin. Die frühe Feministin und Sozialistin ließ sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden und schlug sich von der sogenannten besseren Gesellschaft verachtet mehr schlecht als recht als alleinerziehende Mutter mit einer kleinen Tochter durchs Leben.
Mit ihrem zweiten Mann Fritz Anneke, einem ehemaligen preußischen Artillerieoffizier und Mitglied der Kölner Gemeinde des Bundes der Kommunisten, nahm Mathilde in der letzten Etappe der deutschen Revolution 1849 an den Kämpfen in den Reihen der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee teil.1 Bereits 1853 erschien in den USA, wohin die Annekes nach der Niederlage der Revolution mit unzähligen anderen flüchteten, die Erstausgabe ihrer „Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Kriegszug“2
Noch heute widerspiegeln diese Erinnerungen die leidenschaftliche Anteilnahme, den Schmerz über die Niederlage, die Trauer über den Verlust so vieler, die ihr Leben hingaben. Sie gibt zu, dass sie auch aus Liebe mit ihrem Mann in den Krieg zog, um dann zu gestehen: „der Hass, der glühende, im Kampf des Lebens erzeugte Hass gegen die Tyrannen und Unterdrücker der heiligen Menschenrechte“ habe sie getrieben. Ihre Aufzeichnungen endeten mit den Worten: „Lebe wohl, deutsche Erde! Lebe wohl, mein armes unglückliches Mutterland“.
Mathilde war im badisch-pfälzischen Feldzug als Ordonanzreiterin auch bei den Gefechten des Freikorps von Oberst August Willich zugegen, in dem Friedrich Engels Stabschef und Adjutant war. Ihre Memoiren enthalten detaillierte Schilderungen der Gefechte, so auch wie Engels bei Rinnthal als Kommandeur eines Seitendetachements mehrere Stunden „zeitweise im dichtesten Feuer“ stand. „Sein Eifer und sein Mut wurden von seinen Kampfgenossen ungemein lobend hervorgehoben“, schrieb sie. 3
Unterhalb der Festung Rastatt an der Murg stellten sich am 28./29. Juni 1849 noch 13.000 Kämpfer der Revolutionsarmee der Übermacht von über 40.000 Mann des preußischen Interventionskorps zur letzten Schlacht. Mathilde verfolgte die zweitägigen erbitterten Kämpfe vom Wall der Festung aus, während ihr Mann unten an der Murg die Artillerie kommandierte. Nach der Niederlage gelang es ihnen zu entkommen, bevor die Preußen den Belagerungsring um die Festung schlossen. So entkam Fritz der standrechtlichen Erschießung durch die Preußen, der der Festungskommandant Oberst Tiedemann und 27 seiner Offiziere noch am Tage der Kapitulation am 23. Juli zum Opfer fielen. „Ich habe fast alle gekannt“, scheibt Mathilde in ihren Memoiren. Die Henkersknechte nennt sie „preußische Standrechtsbestien“. Über Straßburg und die Schweiz fliehen sie in die USA, wo sie sich zunächst in Milwaukee/Wisconsin, einer Stadt mit zahlreichen Deutschstämmigen, niederlassen. Fritz kämpfte später, wie viele aus der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee, im Bürgerkrieg als Oberst in den Reihen der Unionstruppen.
In Deutschland von bourgeoisen Schreiberlingen als „Flintenweib“ diffamiert, galt Mathilde in den USA „als die bedeutendste Frau der Forty-Eighters, die sich und ihre demokratischen Ideen ans andere Ufer gerettet hatten.“ Ihr Wirken für politische und soziale Gerechtigkeit“ fand große Achtung und Anerkennung. Sie hielt Vorträge über die deutsche Revolution, über Literatur des Vormärz (Heine, Herwegh, Freiligrath, Sallet), engagierte sich in fortschrittlichen und politisch radikalen Gruppen, trat der Gemeinde der Freidenker bei und wurde später Gründungsmitglied der Frauensektion der I. Internationale.
Mit bekannten Persönlichkeiten führte Mathilde über Jahre einen intensiven Briefwechsel. Herausragend die Briefe an ihre Freundin und Kusine Franziska Hammacher und ihren Ehemann Friedrich, einen bürgerlichen Revolutionär von 1848/49. 4 Nicht nur Historiker oder Literaturwissenschaftler, sondern auch allgemein Interessierte lernen in diesen Briefen auf spannende Weise eine große Zahl ihrer Freunde und Bekannten kennen. So die Aktivistinnen der US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung Susan Brownell Anthony, die sie „eine der größten Frauen unsers Jahrhunderts, meine geliebte und sehr verehrte Freundin“ nennt, und die Bürgerrechtlerin Elizabeth Cady Stanton. „Die Namen dieser beiden Frauen gehören der Geschichte an, Du wirst Dich erfreuen an ihrem Klange, aber an ihren Werken erst wird die ganze Frauenwelt sich erheben“, schreibt sie im März 1883 an ihre Kusine Franziska. 5
Sie äußert sich sachkundig, auch mit manchem kaum oder nicht bekannten Detail. Zu nennen ist der Kampfgefährte aus der Revolutionsarmee Carl Schurz, der in den USA wie kein anderer der 1848/49er Revolutionäre eine steile politische Karriere machte, was nicht ohne Kompromisse von statten ging. 6 Des Lobes voll über den „Sprung eines talentvollen und kühnen Plebejers“ vermerkt Mathilde denn, auch General Schurz sei „seiner Lorbeeren schnell bar geworden“. 7 In Georg Herwegh, der in vielen Briefen erwähnt wird, hat sie „einen sehr lieben Freund“, der für sie als „Poet dennoch so gewissenlos faul ist“, was sie darauf zurückführt, dass er ein „reiches Weib“ geheiratet hat. Im Nachruf nach seinem Tod am 7. April 1875 ergreift sie aber Trauer und Wehmut und sie schreibt nun, „ich hielt ihn für unsern größten Genius“. Erstaunt teilt Mathilde ihrer Freundin mit, dass der am 4. August 1877 verstorbene, in die USA emigrierte Anhänger der deutschen Sozialdemokratie, der ostpreußische Landwirt Ferdinand Lingenau, ihr in seinem Testament zusammen mit August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Karl Marx „eine angemessene Summe vermacht hat“. 8
Viele Namen wären zu erwähnen: August Willich, der im Bürgerkrieg ein Regiment kommandierte, die amerikanische Schriftstellerin Mary Booth, Georg und Emma Herwegh, Gottfried Keller, der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Rüstow, Teilnehmer an der März-Revolution 1848, später Stabschef in der Revolutionsarmee Giuseppe Garibaldis, Gräfin Sophie von Hatzfeld, die deutsche Schriftstellerin Ludmilla Assing, der deutsche jüdische Philosoph Moses Heß, Mitbegründer der „Rheinischen Zeitung“.
Mathilde erkannte, dass vielen der demokratischen Ideale, für die sie 1848/49 in Deutschland gekämpft hatte, auch in den USA kein Erfolg beschieden war. 1862 kritisierte sie Lincolns „fehlerhafte weichherzige Politik“, darunter, dass er „die verrufenen Kerle der Korruption an die Spitze“ ließ. Ihre Worte: „Ich gestehe, die Herrschaft der fluchwürdigen ‚Demokratie‘ dieses Landes macht mich betrübt“, hat Kiehnbaum ihren Briefen vorangestellt. Sie arbeitete dennoch unermüdlich, um Veränderungen zu bewirken. Ab 1852 gab sie die „Deutsche Frauenzeitung“ heraus, die sie zweieinhalb Jahre leitete und zu einer für diese Zeit erstaunlichen Auflage von 2.000 Exemplaren brachte. 1865 gründete sie mit der Schweizer Lehrerin Cäcilie Kapp ein Mädchen-Internat. Orientiert an Friedrich Fröbels Pädagogik wurde eine Lebenssicht vermittelt, die aus dem Kreis „Kinder, Kirche, Küche“ herausführen sollte. Das angesehene Institut zählte bis zu 65 Schülerinnen. „Wir sind jetzt so weit, dass wir nach den furchtbarsten Anstrengungen sagen können, das Unternehmen ist ein gelungenes und wird im ersten Jahr schon ein hübsches Resultat aufweisen“, schreibt sie ihrer Kusine.
In diesem kampferfüllten Leben gebar Mathilde sieben Kinder, von denen sie fünf begraben musste. Sie verstarb am 25. November 1884 in Milwaukee. Zu einer großen Zahl von Nachrufen gehörte auch der in der „New Yorker Zeitung“, den in ihrer Heimatstadt die „Hattinger Zeitung“ unter der Überschrift „Eine berühmte Deutsch-Amerikanerin“ abdruckte. Dass Mathilde eine ehemalige Bürgerin der Stadt war, geriet jedoch bald wieder in Vergessenheit. Erst über ein Jahrhundert später sollte sich das ändern. So erschienen von und über Franziska Anneke neben ihren Memoiren über den badisch-pfälzischen Kriegszug mehrere weitere Publikationen, darunter von Klaus Schmidt „Mathilde Franziska und Fritz Anneke. Eine Biographie“ (Köln 1999). Das ausführliche Literaturverzeichnis enthält ihre zahlreichen Bücher und Schriften. Im gleichen Jahr erschien in Münster ein Bericht von Wilfried Reininghaus: „Die Revolution 1848/49 in Westfalen und Lippe“, über die Tagung der Historischen Kommission für Westfalen am 18./19 Februar 1999 in Iserlohn mit dem Beitrag von Franz-Werner Kersting „Das Weib in Conflict mit den socialen Verhältnissen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49“. Eindrucksvoll die 2004 von Erhard Kiehnbaum „Bleib gesund mein liebster Sohn Fritz“ veröffentlichten Briefe Mathilde Franziska Annekes an Friedrich Hammacher, 1846-1849, denen 2017 die bereits erwähnten Briefe Mathildes an Franziska und Friedrich Hammacher 1860-1884 folgten. Nachdem 1976 in Bochum ein Nachdruck ihrer Memoiren erschien, wurde auch an ihrem Geburtshaus in Overleveringhausen in Sprockhövel eine Gedenktafel angebracht. 1988 widmete die Bundespost ihr in der Reihe „Frauen in der deutschen Geschichte“ eine Briefmarke. In den 1980er Jahren fand sie Aufnahme in das Figurenprogramm des Kölner Rathausturmes. Auskunft über Leben und Wirken Mathildes gibt auch das 1986 eingerichtete Stadtarchiv von Sprockhövel, für das der damalige Archivar, Martin Sturm, Kopien des Nachlasses der Familie Anneke aus den USA beschaffte und damit den Grundstein für einen Bestand legte, der seitdem ständig erweitert wurde. Die Leiterin des Archivs ihrer Geburtsstadt, Karin Hockamp, hat 2012 Unter dem Titel „Von vielem Geist und großer Herzensgüte“ eine eindrucksvolle Biografie verfasst. 9 Es ist eine fundierte Publikation, gut mit Quellen belegt, einprägsam und menschlich einfühlsam geschrieben, mit zahlreichen Abbildungen illustriert.
Anmerkungen:
1 Beitrag des Autors: „Mit dem Fall der Festung Rastatt am 23. Juli 1849 endete die deutsche Revolution von 1848/49 – Die Niederlage war nicht unausweichlich“, Weltexpress, 12. Juli 2024.
2 Newark, New Jersey, später eine Wiedergabe in den „German American Annals“ (Philadelphia 1918), Nachdruck Bochum 1976.
3 Ihr Mann Fritz Anneke kommandierte als Oberst die pfälzische Artillerie. Franziska selbst war bei ihm Ordonanzoffizier und Kurierreiter.
4 Erhard Kiehnbaum: „Ich gestehe, die Herrschaft der fluchwürdigen ‚Demokratie‘ dieses Landes macht mich betrübt…“. Mathilde Franziska Annekes Briefe an Franziska und Friedrich Hammacher 1860-1884. Hamburg 2017.
5 Ebd., S. 307-308.
6 Beitrag des Autors „Gestalten der deutschen Revolution von 1848/49: Carl Schurz, von der badisch-pfälzischen Revolution in den nordamerikanischen Bürgerkrieg, Weltexpress 5.Juni 2024.
7 Kiehnbaum, a. a. O., S. 63, 177.
8 Ebd., S. S. 269.
9 Karin Hockamp : Mathilde Franziska Anneke – „Von vielem Geist und großer Herzensgüte“ Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum 2012
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