Berlin, Deutschland (Weltexpress). Andernorts passiert es schon – einen als Frau verkleideten Mann falsch anzusprechen, kann bis ins Gefängnis oder zu einem Entzug des Sorgerechts für die eigenen Kinder führen. Das deutsche Selbstbestimmungsgesetz ist auch für Deutschland der erste Schritt in diese Richtung.
Jetzt tritt also im August dieses Selbstbestimmungsgesetz in Kraft, und mit ihm Bußgeldvorschriften, deren Reichweite noch nicht abzuschätzen ist. Klar ist jedenfalls, wer Herrn Ganserer Herr Ganserer nennt, sorgt künftig für das Einkommen von Rechtsanwälten. Unklar ist noch, ob der ganze Pronomensalat, den die Sekte der Genderbesessenen angerichtet hat, ebenfalls Grundlage eines Bußgelds sein kann. Nun, mir persönlich könnte es gleich sein, solange ich mich nicht im Westen bewege. Aber es sind mir einige Dinge in den Kopf gekommen, als ich meine instinktive Reaktion beobachtete, die darin bestand, möglichen Sektenangehörigen sicherheitshalber ganz auszuweichen.
Das ist nämlich eine Reaktion, die gar nicht selten sein dürfte. Ausweichen, oder, falls das nicht möglich ist, schlicht schweigen. Und das wirft eine ganz andere Frage auf, bis hin zu dem Punkt, ob nicht auch hier die vermeintliche Nebenwirkung die eigentlich beabsichtigte Wirkung ist. Denn eine tatsächliche Umsetzung ist derart tief destruktiv, dass menschliche Kommunikation insgesamt in Frage gestellt wird.
Woher rührt dieser Widerwillen? Klar, das Erlernen völlig anderer grammatikalischer Formen ist oberhalb eines gewissen Alters eine Zumutung, und eine Strafbewehrung ist dann implizit auch eine Altersdiskriminierung, aber da findet noch etwas ganz Anderes statt. Etwas, das im Kern einen pubertären Zustand verewigt, ein Zustand, den man als erwachsener Mensch hofft, für immer hinter sich gelassen zu haben.
Wir Menschen bewegen uns unser ganzes Leben lang in den Widersprüchen zwischen Selbstwahrnehmung und Außenwahrnehmung, zwischen dem Bild, das wir selbst, und dem, das andere von uns haben. Die einander ähneln können, aber nicht müssen, und sich in extremen Fällen sogar völlig voneinander unterscheiden. Die menschliche Kultur reagiert auf dieses Problem und auf die wechselnden Lebensphasen des Menschen, indem sie mit gewissen Ritualen immer wieder versucht, eine Übereinstimmung zwischen diesen beiden Bildern herzustellen. Das sind aber, insgesamt gesehen, Ausnahmemomente; der Alltag besteht darin, mit dem begrenzten Wissen darüber, was die anderen von einem denken, klarzukommen und irgendwie zu einem realistischen Selbstbild zu gelangen.
Dieses Bild, das andere von einem haben, ist fast etwas Lebendiges, Unabhängiges, das sich unter Umständen völlig der eigenen Kontrolle entziehen kann. Das ist beängstigend und kann zu allerlei krankhaften Erscheinungen führen. Der ganze Markenkult der Gegenwart beruht auf nichts anderem als dem Wunsch, diese Außenwahrnehmung kontrollieren zu können, dem Gegenüber (oder vielmehr der Masse an Gegenübern) diktieren zu können, wie dieses Bild aussehen soll, im Bestreben, auf diese Weise diesen komplizierten, in sich beweglichen und widersprüchlichen Cluster des Selbst in eine feste Gestalt bannen zu können.
Der ursprüngliche Prozess, zum eigentlich angestrebten Ziel eines stabilen Selbst zu kommen, ist kein individueller, sondern ein kollektiver; eine Art Aushandlungsprozess, bei dem das eigene Handeln immer von einer Gruppe erwidert wird, widergespiegelt, kommentiert, bis letztlich geklärt ist, ob und inwieweit man nachgiebig, mutig, fordernd, loyal oder liebevoll ist, weil es sich auch bei den Erwartungen, die man an sich selbst hat, um Hypothesen handelt, die erst einmal im Kontakt mit der Wirklichkeit bewiesen werden wollen. Durch Versprechungen, die beispielsweise über Automarken, Turnschuhe oder andere Moden gegeben werden, wird die Kontrolle über diesen Prozess übernommen. Durch das ständige Signalisieren der Hypothesen („ich bin cool“) wird dabei eine Abkürzung ermöglicht, die den mühsamen Prozess von Antwort und Reflexion überflüssig macht.
Die eigentlich entscheidenden Momente in diesem Spiel des „wer bin ich, wer bist du“ bedürfen der Sprache. Wobei natürlich auch die Sprache selbst ein Feld ist, auf dem Versuche der Kontrolle stattfinden. Wenn ich besonders kompliziert formuliere, versuche ich damit ebenso sehr, beim Gegenüber ein bestimmtes Bild entstehen zu lassen, wie wenn ich meine Sätze mit Schimpfworten spicke, und in keinem der beiden Fälle muss dies mit der realen Person verbunden sein. Aber diese sprachlichen Prozesse sind in der Regel subtil, und selten massiv genug, um die Funktion selbst zu verhindern.
Keine menschliche Gesellschaft reagiert freundlich auf Versuche, das eigene Selbstbild absolut zu setzen. Jemand, der erklärt, er sei der Kaiser von China und erwarte, mit einem neunfachen Kotau angesprochen zu werden, wird entweder Gegenstand allgemeiner Belustigung oder erhält Besuch von den Jungs mit den langärmligen Jacken. Auch wenn die extreme soziale Ungleichheit es aufzwingt, die Wahnvorstellungen von Milliardären so zu behandeln, als wären sie keine – der Unterschied zwischen Selbstbild und Außenwahrnehmung wird sehr wohl gesellschaftlich erkannt, und selbst wenn die Grenzen sich deutlich in Richtung einer zu starken Kontrolle verschoben haben, bleibt sozialer Kontakt nach wie vor das Feld dieses Aushandelns.
Aber der Irrglaube, der Mensch sei ein autarkes Konstrukt und sein Selbst sei von der Gesellschaft unabhängig, diese Leugnung des Widerspruchs zwischen Innensicht und Außensicht, verbreitet sich immer weiter. Und weil er genau das Feld negiert, in dem sich die Dynamik ereignet, in dem Entwicklung und Veränderung möglich sind, erzeugt er ein seltsam starres Ego, eine Art überdimensioniertes Trotzalter, das neben der Absolutheit des Selbstbildes gleichzeitig die Verweigerung der Kommunikation signalisiert. Diese Absolutheit erfordert allerdings auch, dass einige wenige Eigenschaften als einzig bedeutsame gesetzt werden, weil die Vielfalt der menschlichen Emotionen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen sonst dieses störende Feld der Widersprüche wieder öffnet.
Wirkliche Kommunikation hat eine Voraussetzung: Gleichheit. Wenn man Verhandlungen will, ist Posieren ungünstig. Das ist im ganz alltäglichen Aushandeln, bei dem wir unsere Identität zusammenpuzzeln, nicht anders; die bedeutungsvollsten Gespräche finden in einer Atmosphäre der Zurückhaltung statt, nicht, wenn beide Seiten einander ihre Forderungen vor die Füße werfen, wofür man sie zu halten hat. Es gibt genug Bereiche im Leben moderner Gesellschaften, in denen nicht Personen, sondern Rollen einander begegnen, in denen eher eine festgelegte Choreografie präsentiert wird und keine offene Begegnung stattfinden kann. Einer der Gründe für die Erfindung des Privaten durch die bürgerliche Gesellschaft ist die Ausweitung des Bereichs, der von Rollen beherrscht wird, so wie die Entstehung von Naturschutzgebieten zeigte, dass die Erschließung des Landes abgeschlossen war.
Wenn eines die Veränderung der deutschen Gesellschaft (und nicht nur der deutschen) in den letzten Jahrzehnten kennzeichnet, dann das Verschwinden kollektiver Räume und Strukturen, von Kirchengemeinden über Vereine hin zur Eckkneipe mit Stammtisch. Das bedeutet gleichzeitig, es wird immer mühsamer, die Umgebungen zu finden, in denen dieses Aushandeln der Balance zwischen Innen- und Außenwahrnehmung möglich ist. Und da auch die Zeit, in der eigene Kinder aufgezogen werden, sofern überhaupt, immer weiter nach hinten rückt, fehlt auch diese Möglichkeit, durch die Beobachtung dieses Prozesses bei jemand anderem zu erkennen, dass das eigentliche Selbst nur in diesem Zwischenraum von Innen und Außen existiert.
Das Setzen von sprachlichen Tabus ist nicht neu, und sie erschweren stets die Kommunikation. Das, was mit dieser vermeintlich unschuldigen Mode der unzähligen Pronomen passiert, ist aber etwas Anderes. Da wird nicht nur versucht, die Kontrolle über das Außenbild zu erlangen; da wird die Unterwerfung unter die Selbstwahrnehmung eines anderen zur Voraussetzung der Kommunikation gemacht, und mehr noch, da wird die Verweigerung dieser Unterwerfung sanktioniert.
Niemand käme auf den Gedanken, die berühmte Szene mit dem Gesslerhut in Wilhelm Tell als Einleitung einer erfolgreichen Kommunikation zu bezeichnen. Allerdings ist selbst diese Unterwerfung ein einzelner Akt. Die Pronomenmode macht daraus eine stetig zu wiederholende Handlung. Sie macht es unmöglich, auf die Behauptung „ich bin non-binär“ schlicht mit, „danke, schön für dich, mich interessiert aber viel mehr, ob du Heine magst oder auf welchen Fußballverein du stehst“ zu antworten. Dieser einzelne Punkt, diese eine menschliche Eigenschaft unter vielen anderen, wird so überhöht und zudem völlig der Aushandlung entzogen, dass das wahrscheinlichste Ergebnis der völlige Abbruch der Kommunikation ist. Man muss sich schon sehr für einen Menschen interessieren, um bei jedem einzelnen Satz durch ein Minenfeld laufen zu wollen. Genau dieser Punkt, die Verabsolutierung des Selbstbilds über das Außenbild, wird instinktiv als Wahn wahrgenommen (wie das andere Extrem auch), sodass die einzigen Personen, die sich dann noch auf die Kommunikation einlassen, jene sind, deren berufliche Aufgabe es ist.
Eine juristisch festgelegte Verpflichtung, die Selbstwahrnehmung einer Person wie eine objektive Realität zu behandeln, ist eigentlich eine völlig absurde Konstruktion, da das Recht sozial betrachtet die geronnene Gestalt der Außensicht ist, die körperlichste Manifestation des Gegenpols dieser Selbstwahrnehmung. Ein Recht, das die subjektive Sicht eines Einzelnen, gleich wessen, absolut setzt, negiert im Kern sich selbst, da die Vorstellung des Rechts in einer Gesellschaft, in der nur absolute Selbstbilder aufeinanderprallen, nicht mehr existieren kann.
Das Selbstbestimmungsgesetz ist eine gesetzliche Bestimmung, die die schiere Existenz einer objektiven Wirklichkeit verleugnet. Eine Wirklichkeit, die aber die Grundlage jedes rechtlichen Verfahrens ist. Soll man nun auch einen Mörder nicht mehr verurteilen, weil er sich nicht als solchen wahrnimmt? Wie soll man noch Recht und Unrecht definieren, wenn Gesellschaft als Maßstab eliminiert wird?
Und wie soll es jungen Menschen gelingen, die Klippen der Adoleszenz zu umschiffen, wenn ihnen eingeredet wird, sich in ihrer notwendigerweise unklaren, erst im Werden begriffenen Selbstwahrnehmung gleichsam auf ein Podest zu stellen und den Austausch mit der Außenwahrnehmung zu verweigern? Sicher, Menschen in der Pubertät sind die besten Werbekunden, und in vielfacher Hinsicht beeinflussbar. Aber selbst eine von Konzernen dominierte Gesellschaft braucht einen gewissen Anteil Erwachsener, die für ihr Selbstbild nicht länger auf ein überdimensioniertes Ego angewiesen sind.
Es ist nicht nur einfach der Horror davor, mir bei der Verwendung dieser eigenartigen Vokabeln die Zunge zu verknoten, warum es mir davor graust, mit einem dieser Pronomengläubigen sprechen zu müssen. Es ist mit Sicherheit nicht die Androhung von Bußgeldern. Es ist das gesamte Paket, das sich in dieser Auseinandersetzung um Worte widerspiegelt, die Feindseligkeit gegenüber jeder Form von Gesellschaft, jeder Form von Kollektivität, und die stetige Forderung nach Unterwerfung, die eine tiefe Abscheu auslöst. Es ist die Menschenfeindlichkeit, die sich darin zeigt, denn Menschenfreundlichkeit ist eine Errungenschaft, die mit Glück am Ende der Reise im Zwischenraum von Innen und Außen erlangt wird. Menschenfeindlichkeit gibt es billiger. Sie braucht kaum mehr als ein besonders großes ICH.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn mit dem Titel „Selbstbestimmungsgesetz: Die menschenfeindliche Welt der neuen Pronomen“ wurde am 13.7.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.
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