Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es war abzusehen, daß das Versäumnis, den Zusammenbruch des „Realsozialismus“ zu analysieren, seinen Tribut fordern wird. Mit dem Eintritt Deutschlands in den Balkan-Krieg war es soweit. Die Linke ist orientierungslos geworden. Sie nimmt hin, was geboten wird;sie biedert sich an – um auf verbogene Weise auch ein bißchen Stärke zu ergattern. Möglicherweise hat Jürgen Elsässer recht, wenn er in seinem Artikel „Kommunismus – was sonst?“ meint, die Linke gebe es nicht mehr. Tatsächlich ist das Niveau grauenhaft.
Da begründen führende Leute der Grünen allen Ernstes ihre Zustimmung für das Eingreifen der Nato auf dem Balkan damit, daß den von den Serben begangenen Greueln ein Ende bereitet werden müsse und berufen sich dabei auf das Fernsehen als Quelle ihres Wissens. Nicht einen Strich geistreicher gebärden sich andere Linke, die Sozialismus als Perspektive mit der Begründung aufgeben, er habe existiert und schließlich seine Untauglichkeit bewiesen. Den Modernisten, Drittweglern und Linksmoralisten mag das recht sein. Die Anhängerinnen und Anhänger der „Strategie des verlorenen Paradieses“ dürften noch mehr in Bedrängnis geraten: Sie müssen ihren „Sozialismus“ post festum verteidigen – seine „demokratischen Errungenschaften“ und seine „planwirtschaftlichen Erfolge“. Sie werden dabei das Wasser auf die Mühlen derer sein, die Marx endgültig unter dem Staub der Geschichte wähnen und sich vor Lachen den Bauch halten, kommt ihnen da jemand mit Verratsgeschichten und tückischen Strategien des Westen.
Nicht von außen, mitten aus der Linken heraus ist zu hören, der Kapitalismus sei eine immense Entwicklungspotentiale in sich bergende moderne Gesellschaft. Klassenkampf gebe es nicht mehr. Der Marxsche Klassenkampfbegriff sei überlebt und das Proletariat als revolutionäres Subjekt verschwunden. An seine Stelle seien allenfalls andere Subjekte getreten und der Klassenwiderspruch durch Drei- und Mehrfachunterdrückung verdrängt worden. Garniert wird dieses Geistesleben mit immer neuen Benimmregeln, die wie Bleiplatten auf die Gehirne drücken und die abstruse Vorstellung nähren, schwere Kasteiungen öffneten den Weg zum besseren Menschen.
In diesem Klima reinsten Subjektivismus hat die „Politische Ökonomie“ ihre Bedeutung verloren. Mitleid zeichnet sich auf den Gesichtern ab, versucht mal ein „Orthodoxer“ von der „Analyse ökonomischer Prozesse“ zu reden und verständnisvolles Nicken kommt auf, wenn dann ein Schlauberger dem „ollen Marx“ schon die richtige Sicht für seine Zeit bescheinigt. Heute aber sei er nicht mehr zu gebrauchen, was die „Orthodoxen“ mit ihren Betonschädeln nicht begriffen.
Sofern also die Linke von solchen Phrasen beherrscht wird und sich lieber die Hacken nach ökologisch einwandfreier Ziegenmilch abrennt, hat sie zumindest im geistigen Sinne aufgehört zu existieren. Doch unabhängig davon, ob es sie noch gibt oder nicht, muß der noch einigermaßen intakte Rest aus diesem Sumpf heraus, will er nicht unter der Last dieses Gerümpels vollends versacken. Es ist doch ein Unding, gibt sich der linke Rand des bürgerlichen Lagers als die Linke im weitesten Sinne aus, reduziert alle Bestrebungen auf sein Niveau und der ohnehin schrumpfende sozialistische Teil läßt sich das auch noch gefallen.
Es ist an der Zeit Bilanz zu ziehen. Die Reihenfolge „Gedanken zur Strategiediskussion“ soll ein Beitrag zu dem Versuch sein, eine originäre Politik der sozialistischen Bewegung zu begründen. Ausgangspunkt ist die These, daß bisher eine sozialistische Gesellschaft noch nicht existiert hat (Rote Luzi Nr. 22, „Industriefeudalismus“). Darauf begründet ist die weiterführende These, daß der Kapitalismus im Begriff ist, aus seiner historisch positiven Funktion der Entwicklung der Produktivkräfte herauszutreten und zunehmend in Destruktivität fällt, die in diesem Beitrag vertreten wird. Beide Thesen bilden eine Linie, die der reformistischen gegenübergestellt werden soll.
Bestandsaufnahme
Es geht nicht darum, wieder einmal das Ende des Kapitalismus zu prophezeien. Er ist möglicherweise fähig, sich noch sehr lange zu behaupten. Die Frage ist nur: Mit welchen Mittel und zu welchem Preis? Diese Frage ist umso entschiedener zu stellen, als sich ein neuer Typ „linken Vordenkens“ herausgebildet hat und die Linke von der Behauptung beherrscht wird, das kapitalistische System stehe vor einer weiteren Modernisierung und lasse sich in einen sozial- und ökologieverträglichen Zustand bringen. Die Konsequenz daraus ist eine Politik, deren innere Logik eine kritische Analyse des Kapitalismus ausschließt und damit Sozialismus als Ziel aufgibt.
Es kann auch nicht darum gehen, Kapitalismus und Sozialismus als Glaubenssätze gegenüber zu stellen und jeweils ein Bekenntnis für das eine oder das andere abzugeben. Die Streitlinie verläuft zwischen zwei Positionen, wobei die eine darin besteht, daß der Sozialismus existiert und vor der Geschichte versagt hat und folglich eine konstruktive gesellschaftliche Gestaltung nur noch auf der Basis kapitalistischer Produktionsweise möglich ist. Dies wird hier bestritten.
Diese Sicht bildet den psychologischen Hintergrund der „modernen Sozialisten“- wie sie sich neuerdings nennen -, andere, die immer noch für eine sozialistische Alternative eintreten, als Nostalgiker, Orthodoxe, Stalinisten, Sektierer und Altdenker einzustufen.
Ihr erster und zugleich entscheidender Irrtum besteht darin, daß sie glauben, einen als „Realsozialismus“ etikettierten Industriefeudalismus rückwirkend zum Sozialismus erklären zu können. Sie machen das, weil von dieser Behauptung ihre ganze Theorie abhängt. Sie ist ihre tragende, unabdingbare Prämisse. Ohne sie wären sie nicht „moderner“ als andere, hätten nicht die Argumente, Sozialismus auf indirektem Weg abzulehnen. Mit dieser mehr dreisten denn intelligenten Rabulistik versuchen sie zu suggerieren, wer heute noch Sozialismus anstrebt wolle nichts anderes als ein neues stalinistisches Regime.
Nun ist es wenig sinnvoll, die Vielzahl linker Strömungen hier in diesem Rahmen zu behandeln. In den vergangenen 5 Jahren hat sich die oben erwähnte Linie voll herausgebildet, wobei nach quantitativen Gesichtspunkten das reformistische Lager im Verhältnis zum marxistischen riesenartig angewachsen ist. Ein Grund mehr, sich intensiver mit den Theorien seiner Vordenker zu beschäftigen.
Daher soll gleich erwähnt werden, daß diese modernen Sozialisten und ihre Vordenker die Last ihrer Prämisse selber schleppen müßten, gäbe es da nicht diese Zeugen, die sprichwörtlich unter schwerer Prügel diesen Unsinn beschwören. Es sind die Märtyrer der „realsozialistischen Auferstehungsbewegung“, die auch noch unter Anwendung öffentlicher Seelenfolter vom verlorenen Paradies künden. Ohne deren Zeugnis ständen sie nicht als „moderne Sozialisten“, sondern eher als Deppen da, die offenkundig nicht imstande sind, ein nicht einmal auf die Höhe des Kapitalismus gelangtes Gebilde von einer über ihn hinausweisende Formation unterscheiden zu können. Und wendeten sie ein, das eine sei real gewesen, das andere Utopie: es wäre nur umso schlimmer für sie.
Der zweite, nicht minder schwere Irrtum der Modernisten liegt in dem Glauben, ihre Politik ließe sich dauerhaft ohne ökonomisch Analyse begründen. Diesem Mangel begegnen sie nicht etwa mit dem Versuch ihn zu beseitigen, sondern halten es für klüger, ihn zu kaschieren. Kritiker, die darauf hinweisen, werden präventiv als Ökonomisten denunziert. Auf diese Weise ergibt sich zwar ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen eigenen Fehlern und der Beschimpfung anderer, aber noch lange keine tragfähige Politik.
Daher ist zu fragen, was aus dieser Politik entsteht, worauf sie hinausläuft, welche Antworten sie gibt. Grob umrissen tritt als ihr signifikantes Merkmal eine systemintegrierende Funktion hervor. Modelle ihrer Problemlösungsvorschläge sind durchweg Ausdruck systemimmanenten Denkens. Ihres moralisierenden, linksverbrämten und permanent bemühten Betroffenheitskults entkleidet zeigt sie sich als staatskonform. Originäre Züge sind grundsätzlich nicht vorhanden. Diese Merkmale kennzeichnen immer mehr die PDS, während der Anspruch eines „linken Profils“ bei SPD und Grünen im Verschwinden begriffen ist.
Es geht hier aber weniger um einzelne Parteien, sondern um die Vordenkerei und ihre Ergebnisse im sogenannten linken Spektrum, zu dem auch die PDS gehört und die gegenwärtig zwar nicht alle, aber im Verhältnis die meisten Vordenker stellt. Einer von ihnen, und zwar der in der PDS als oberster Vordenker gehandelte André Brie, trat am 11. September 95 in einer Veranstaltung des „Marxistischen Forums“ in der PDS auf und erklärte die herrschenden Verhältnisse nicht nur als modern und entwicklungsträchtig.
Interessanter war, daß er den Widerspruch zwischen steigender Produktivität und abnehmender Konsumptionsfähigkeit bestritt und das Gegenteil behauptete: Der Markt expandiere weltweit, die Produktion wachse an. Und weiter: Der Stellenwert der Ökonomie dürfe nicht mehr so hoch eingeschätzt werden. Dies führe nur zu einem Ökonomismus, der kulturelle und andere zivilisatorische Faktoren mißachte.
Das hätte er mal Vertretern der westdeutschen Wirtschaft sagen sollen, aber es paßt ins Bild. Zu den schon erwähnten Behauptungen fügte Brie nun die wohl brisanteste hinzu, an der sich die Auseinandersetzung aller Wahrscheinlichkeit nach bis auf das äußerste zuspitzen wird. Von ihrem Ausgang wird ein wesentlicher Teil der Orientierungsfrage abhängen; denn nicht mehr SPD und Grüne sind die Exponenten des Reformismus. Diese Parteien befinden sich längst in einem Fusionsprozeß mit Liberalen und Konservativen. Es ist damit zu rechnen, daß die PDS die letzte Bastion des untergehenden Reformismus einnehmen wird und Vordenker wie Brie nicht nur auf die angestammte Gemeinde einwirken werden. Es könnte aber sein, daß sich diese These als folgenschwerer Irrtum erweist. Sie könnte die PDS den Einfluß auf eine künftig sozialistisch orientierte Linke kosten.
Schauen wir uns die Bemühungen im Dienste der PDS stehender Wissenschaftler auf der „Suche nach postfordistischen Optionen“ (Prof. Dr. Dieter Klein) an, so liefern sie oft richtige Beschreibungen des kapitalistischen Systems. Doch immer wieder verblüffen sie mit Schlußfolgerungen, die ihren Beschreibungen zuwiderlaufen. Regelmäßig bleiben sie die Antwort schuldig, wie ihre Forderungen realisiert werden sollen. Um diese Hilflosigkeit zu verdecken, werden Programme formuliert, die sich wie bereits gefundene Antworten lesen. Geht es aber um die entscheidende Frage ihrer Umsetzung, tritt leer und fahl der tote Punkt hervor, den Prof. Dr. Dieter Klein in die geradezu klassische Form der Nullaussage gebracht hat: „Der Postfordismus wird solche oder andere Wege aus der Krise des Fordismus nicht hervorbringen können, wenn der Druck der globalen Fragen und der ungelösten spezifischen inneren Plobleme der OECD-Welt nicht zu neuen Antworten auf die Sinnfragen unserer Zeit führte.“ 1) Das hätte der Vordenker A. Brie nicht besser sagen können!
Wendepunkt der ökonomischen Entwicklung
Wer sonst als die sozialistische Linke sollte damit aufhören, sich etwas vorzumachen? Wer gegen das herrschende System ist,sollte das begründen. Bleibt die Begründung oberflächlich, bewegt sie höchstens marginale Gruppen, erlangt aber keine gesellschaftliche Relevanz. Allein mit der moralischen Verurteilung kapitalistischer Auswüchse ist sozialistische Politik nicht zu gestalten; schon deswegen nicht, weil es keine überzeugenden Gegenbeispiele gibt. Es bedarf also nicht nur der Beschreibung der Erscheinung, sondern der Erkenntnis ihres Wesens und ihrer Ursachen. Von dieser Grundlage ist zu bestimmen, in welchem Zustand sich der Kapitalismus aktuell befindet und welchen Weg der Entwicklung er nehmen wird. Nur aus der Gesamtanalyse wird es möglich sein, der sozialistischen Idee eine faßbare Gestalt zu geben, sie als kühnen Entwurf so überzeugend zu umreißen, daß sie in das geistige Leben der Gesellschaft dringt.
Nach ständig anwachsender Massenarmut sowohl weltweit als auch in den Metropolen selbst, nach ständig zunehmenden Pleiten, Mafiotisierung der Wirtschaft, Rückgang der realen Investitionen, Zunahme spekulativer Geldgeschäfte, Verdrängungswettbewerb, Umweltzerstörung und vieles mehr, stellt sich drängender denn je die Frage nach den Ursachen, die diese Entwicklung hervorgebracht haben. Wirken diese Ursachen weiter, verdichten sich und treiben destruktive Prozesse unaufhörlich voran, gilt zu fragen, ob sie systembedingt sind oder nur eine vorübergehende Erscheinung sind.
Sozialistische Politk kann dieser Frage nicht ausweichen, sonst läuft sie Gefahr,leerzulaufen. Entweder ist das kapitalistische System zu reparieren oder aber es hat seinen Kulminationspunkt in der ökonomischen Entwicklung erreicht, so daß es im herkömmlichen Sinne nicht mehr zu reparieren ist. So oft aber moderne Sozialisten wie A.Brie von den „enormen Entwicklungspotentialen“ des Kapitalismus reden, so oft unterlassen sie zu erklären, in welche Richtung sich diese Potentiale bewegen. Man fragt sich, wie sie dazu kommen, diese von ihnen nicht näher definierten Potentiale ohne nachvollziehbare Begründungen einfach ihrer Politik einzuverleiben.
Sprechen wir Marx weder heilig noch legen wir ihn ungeprüft beiseite, sondern knüpfen an die Ergebnisse seiner Kapitalanalyse an und erweitern sie um die Erkenntnisse von heute zeigt sich, daß er eine immer noch gültige Grundlage geliefert hat, auch den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Kapitalakkumulation begegnen zu können.
Wenn gegenwärtig von der Krise des Postfordismus die Rede ist, entsteht häufig das Bild, es sei bisher nur versäumt worden, ein adäquates Akkumulationsregime zu installieren, das verhältnismäßig so erfolgreich wirke wie der vorhergegangene Fordismus. Zugleich entsteht der weitere Eindruck, der fordistisch-tayloristische Akkumulationstyp sei das Produkt keynesianischer Steuerungsmethoden gewesen und nicht umgekehrt: daß diese Methoden vorübergehend und nicht durchgängig geeignete Mittel waren, ihn zu regulieren. In dieser umgekehrten Sicht mag der Grund liegen, sie nun in einer Art Neuauflage auf den sogenannten Postfordismus anwenden zu wollen.
Diese Annahme ist ungeeignet, der Problematik näher zu kommen, die sich aus dem hier zunächst behaupteten Widerspruch zwischen steigender Arbeitsproduktivität und schrumpfendem Markt ergibt. Die Kapitalseite hat ihr neues „Akkumulationsregime“ nämlich schon längst etabliert, und das heißt Rationalisierung und damit verbunden Deregulierung. Die Folgen sind zunehmende Massenarmut und Beseitigung demokratischer Errungenschaften. Und weil es infolge dieser Entwicklung immer weniger zu verteilen gibt, zerfällt auch die Partei der großen Verteilung, in der die Keynesianer längst verstummt sind.
Kommen wir auf Marx zurück, so liefert seine Kapitalanalyse dafür eine schlüssige Erklärung: Nach dieser Analyse ergibt sich aus dem „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ und dem „Schema der erweiterten Reproduktion“ ein objektiv wirkender Zwang zur permanenten Steigerung der Arbeitsproduktivität. Dieser Zwang bewirkte die gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus. Akkumulation des Kapitals und permanente Steigerung der Arbeitsproduktivität bedeuten aber zugleich ständige Expansion des Marktes. Stagniert die Marktexpansion, wird die Reproduktion des Kapitals gehemmt.
Diese Situation ist eingetreten. Darum ist die Marxsche Kapitalanalyse auch von aktueller Bedeutung für die Beurteilung der eingetretenen Krise. Der Ära des Fordismus nun eine Ära des Postfordismus folgen zu lassen erklärt nichts. Während Fordismus noch einen begrifflichen Inhalt bietet, gerät Postfordismus zur Leerformel.
Als Leerformel jedoch erscheint sie den modernen Sozialisten geeignet, ihre im Grunde uralten paternalistischen Versorgungsmodelle auf der Grundlage extensiver Wirtschaftsweise unterzubringen. Diese Wirtschaftsweise aber wurde genau in der gewaltigen Produktivkraftentwicklung des Fordismus dialektisch aufgehoben. Das vorherrschende Element ist nicht mehr die extensive, sondern die intensive Investition. Damit ist die Ära der Rationalisierung gekommen. Der Trend geht in Richtung „absolute Überproduktion“(s. Rote Luzi Nr. 20, 21).
Stellen wir nun diese Entwicklung der oben erwähnten These von A. Brie gegenüber, zeigt sich ein diametraler Unterschied der Auffassungen. Wenn also der objektive Zwang zur permanenten Steigerung der Arbeitsproduktivität besteht, stellt sich die Frage, wie das Problem der Aufnahmefähigkeit der Märkte und der schwindenden Massenkaufkraft bei gleichzeitiger Verschärfung der internationalen Konkurrenz gelöst werden soll.
Nun war es seit jeher für Linke besonders schwierig, zwei Probleme zugleich lösen zu wollen: das Problem der Kapitalisten und das des Proletariats. Bei diesem schon immer untauglich gebliebenen Versuch hat sich der sattsam bekannte Sozialdemokratismus herausgebildet, der am Ende dann doch dazu übergegangen ist, sich mit den Problemen des Kapitals zu beschäftigen. Die sozialistische Linke sollte diesen Versuch nicht wiederholen. Er ist schon aus dem Grunde sinnlos, weil es in der Ära der Rationalisierung keine neuen Verteilungen mehr geben wird. Ihre Aufgabe bestände zunächst darin, die kritische Analyse voranzutreiben, um auf der Grundlage ihrer Ergebnisse eine originäre Politik zu entwicklen.
Die Entwicklungstendenz zeigt, daß das kapitalistische System in Richtung Widerspruchsverschärfung marschiert und im Begriff ist, seine objektiven Grenzen zu erreichen. Dafür mehren sich die Anzeichen. Rationalisierung ist nicht nur schlechthin eine Verbesserung der Produktionsmethoden. Sie bedeutet heute, daß ein kaum noch vorstellbarer Produktionsausstoß auf immer enger werdende Märkte trifft, so daß sich dieser Ausstoß nicht mehr in der notwendigen Menge als Ware realisieren läßt. Das ist die Ursache der Verwerfungen. Verdrängungswettbewerb, Rückgang der realen Investition zugunsten spekulativer Bankgeschäfte, Kriminalisierung der Wirtschaft usw. sind Ausdruck dafür. Das heute herrschende und dieser Entwicklung Rechnung tragende „Akkumulationsregime“ basiert auf der Systemlogik, daß Kapitalismus ohne Wachstum nicht existieren kann.
Hier sind wir bei der Frage, ob er im Sinne von A. Brie wächst, oder jenseits seines Kulminationspunktes nur noch als Krebsgeschwür. Am Beispiel des galloppierenden Sozialabbaus ist seine destruktive Tendenz sehr deutlich zu erkennen. Trennt man diesen Abbau von seiner ideologischen Ummäntelung in Form der Standort-Deutschland-Debatte, tritt deutlich hervor, daß diese Einsparungen für Subventionen gebraucht werden, die in weitere Rationalisierung fließen, um die Konkurrenz vom Markt zu fegen. Diese Strategie löst aber das Problem nicht, sondern verschärft es. Und illusionär ist dabei die Hoffnung, für die Geschröpften falle wieder etwas ab, nachdem sich die deutsche Wirtschaft auf dem Weltmarkt durchgesetzt habe. Die Wüsten,die das Kapital im Trikont hinterlassen hat, wird es künftig in den eigenen Metropolen schaffen.
„Ökologischer Umbau“ und neue „arbeitspolitische Maßnahmen“ sind die Begriffe, die den modernen Sozialisten besonders flüssig von den Lippen gehen. Beides soll unter anderem einer großen Zahl jetzt arbeitsloser Menschen die Möglichkeit neuer Beschäftigung bringen. Dabei wird unterschlagen, daß diese Arbeitslosen immer weniger Bestandteil der alten industriellen Reservearmee als Resultat periodischer Disproportionen zwischen den beiden Abteilungen der Produktion, sondern immer mehr Opfer der Rationalisierung sind.
Das Unsinnige an diesen Modellen erhellt die Frage, was geschieht, werden diese Umbauten vorgenommen: Erfolgen sie auf der Basis intensiver oder extensiver Investition? Es ist kaum denkbar, daß ein ökologischer Umbau, sollte er jemals Wirklichkeit werden, mit vorsintflutlichen Mitteln vorgenommen wird. Denkbar ist hingegen, daß er dann unter den Bedingungen der Rationalisierung,also des Einsatzes von Hochtechnologie und damit produktiv erfolgte. Eine größere Anzahl Arbeitsloser ließe sich aber nur auf der Basis extensiver Investition, also unproduktiv unterbringen.
Sei es nun Ausdruck etatistischen Wahns oder schlichte Einfallslosigkeit, bei allen Modellen, die von dieser Seite als Lösung angeboten werden, stellt sich derselbe Widersinn ein: der Staat erhebt Steuern – notgedrungen von den Schwächeren – und investiert unproduktiv, um möglichst viele Leute zu beschäftigen. Die Kaufkraft wird dabei nicht erhöht, sondern nur innerhalb eines schrumpfenden Gesamtrahmens mit dem Bügeleisen behandelt. Der Abbau von Massenarbeitslosigkeit unter Zuhilfenahme extensiver Ausgaben wäre ökonomisch ein absoluter Rückschritt und daher eher geeignet, ordnungspolitische Obzessionen auszutoben.
Obwohl die Modernisten und Vordenker A. Brie ständig mit dem Begriff „Kapitallogik“ arbeiten, scheinen sie zu übersehen, daß es die tatsächlich gibt: daß der Zwang zu permanenter Steigerung der Produktivität und Expansion des Marktes dazugehören. Und wenn die Märkte enger werden – das gehört auch zu dieser Logik! -, wird zu immer brutaleren Methoden nach innen und nach außen gegriffen.
Der Theoretiker A. Brie hat sich ja im Laufe seines Wirkens schon so einiges geleistet. Daß er nun den Widerspruch zwischen steigender Produktivität und abfallender Konsumptionsfähigkeit bestreitet und der Ökonomie ein minderes Gewicht beimißt, zeigt nur, daß er sein ML-Studium gründlich absolviert hat und in seinem voluntaristischen Denken ein treuer Sohn von Väterchen J. W. geblieben ist.
Politische Schlußfolgerungen
Nocht scheint alles zu blühen. Noch haben die objektiven Veränderungen in der ökonomischen Entwicklung nicht voll durchgeschlagen. Zeiträume sind nicht genau vorauszusagen. Viele Prozesse überlagern sich, laufen mit verschiedenen Geschwindigkeiten und haben sich noch nicht in einem klar bestimmbaren Gesamtstrom getroffen, der allgemein als schlechte Aussicht zu vermitteln wäre. Die komplizierten und komplexen Strukturen des Überbaus reagieren träge. Anzunehmen ist, daß auch linke Politik vorerst weiter an den aufgeworfenen Fragen vorbeisteuert.
Es wäre aber notwendig, diese Fragen aufzugreifen, obwohl sie zugegebenermaßen nocht nicht scharf genug herausgearbeitet sind. Noch ist das herrschende System in der Lage, Hoffnung zu verbreiten und Kritiker an sich selber irre werden zu lassen. Und das nicht nur durch subtile Züge seiner Politik. Die kapitalistische Wirtschaft zeigt immer noch Dynamik. Aber die Haarrisse dringen tiefer in die Strukturen des Systems. Es gleitet, es stürzt nicht in die Destruktivität. Möglich ist jedoch, daß dieser Prozeß an Geschwindigkeit zunimmt und es zwar nicht durch abrupten Fall in die Schieflage gerät, sondern sich ihr mit immer schnelleren Schritten nähert.
Vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Systemwiderspruchs wird die Sozial- und Demokratiefrage sich nicht ohne größeren Schaden von der ökonomischen abkoppeln lassen. Daß diese Gefahr besteht und daß es Bestrebungen des finalen Reformismus gibt, die Diskussion ohne ökonomische Analyse zu führen, stellt gegenwärtig die PDS unter Beweis. Sollte sich diese Intentention im Ergebnis durchsetzen,fände sich die Linke endgültig in jenem Subjektivismus wieder, in dem die SED geistig verendet ist. Die Diskussion muß auf eine qualitativ höhere Ebene gebracht werden.
Wie zu einem späteren Zeitpunkt die Auseinandersetzung mit SPD und Grünen aussehen wird, ist jetzt noch nicht zu sagen. Zu rechnen ist damit, daß sich sämtliche Parlamentsparteien langfristig zu einer staatlichen Einheitspartei verschmelzen.
Dieser Prozeß wird Teile der Basis von SPD und Grünen wegsprengen, denen gegenwärtig jedoch nichts geboten werden kann. Der Dialog mit ihnen wird erst dann möglich und fruchtbar sein, wenn die sozialistische Linke geistige Anziehungskraft gewonnen hat. Um diese Ebene zu erreichen, muß sie eigene Wege gehen. Sie muß sich nicht gegen die PDS stellen. Auch deren Basis muß differenziert beurteilt und ihr mit einem qualifizierten Diskussionsangebot gegenübergetreten werden. Mit der Führung und dem Funktionärsapparat dieser Partei wird ein neuer Anfang allerdings immer schwerer vorstellbar. Eine neue sozialistische Bewegung kann sich nicht mehr unter die Fuchtel überkommener Parteistrukturen begeben, deren geisttötender Innendruck von der wichtigsten Aufgabe der Gegenwart abhält: der Theorieerneuerung und der Organisierung der inhaltlichen Diskussion.
Parlamentarismus und Parteiensystem müssen neu bewertet werden, um zu einer wirkungsvollen politischen Praxis zu kommen. Bisher sind alle linken Parteien in den Sog der „institutionellen Strategie“ (Johannes Agnoli) des bürgerlichen Systems geraten und zu staatstragenden Hierarchien verkommen. Ein wesentlicher Grund dafür besteht darin, daß ihr eigener hierarchischer Aufbau das parlamentarische System widerspiegelt und permanent reproduziert.
Genauso wie es darauf ankommt, die Lücke theoretischer Fragen zu schließen ist es vordringlich, die politische Praxis zu überdenken. Wo das Diskussionsniveau ständig fällt, wird auch die Atmosphäre immer dröger. Das ist aber typisch für Wahlvereine. Kostbare Zeit muß zurückgewonnen werden. Zurückgewonnen werden muß auch ein marxistischer Praxisbegriff. Die Linke als institutionalisierte Sittenkommission, die sich selbst ständig moralisch unter Druck setzt, alle Untaten dieser Welt registriert und in ritualisiertem Protest verarbeitet, bewirkt weniger, als ihr lieb sein dürfte. Viel eher bildet sie so eine systemlegitimierende außerparlamentarische Scheinopposition, die objektiv in die institutionelle Strategie eingebunden ist.
Überboten wird der ritualisierte Protest nur noch vom Leerlauf der Wahlkampfbeschäftigung. Parlamentarische und außerparlamentarische Scheinopposition erzeugen in sich ergänzender Weise den Effekt einer Mäusetrommel. Immer noch verbreitet unter Linken und besonders in der PDS ist die Annahme, das Parlament lasse sich als „Tribüne des Klassenkampfes“ benutzen. Obwohl die Vordenker offiziell mit solchen Begriffen nichts zu tun haben wollen, freuen sie sich insgeheim darüber.
Diese Annahme verleitet nämlich viele Mitglieder, sich für ihre Stellvertreter selbstlos einzusetzen. Daß sie keinen Einfluß auf deren Auswahl haben, ist nur ein Teil des Problems. Unreflektiert bleibt auch, daß eine Vorsortierung erfolgt, die ganz anderen Kriterien folgt. Nicht die Interessen der Basis, der Wähler, die Funktionalität des parlamentarischen Systems steht im Vordergrund. Die Struktur der Partei sorgt dafür, daß marxistische Kräfte nicht auf diese Bühne gelangen -oder wieder von ihr verschwinden, sollten sie durch Zufall hinaufgelangt sein. Wer diesen kostbaren Platz erreicht hat, steht bald vor der Entscheidung, Opposition zu mimen oder sie tatsächlich auszuüben. Von dieser Entscheidung hängt die Dauer seines parlamentarischen Auftritts ab. Interessant wäre auch, einmal grundsätzlich zu klären, was diese Stellvertreter so auszeichnet.
Genauer betrachtet setzt ihr Stellvertretungsanspruch die Unmündigkeit der Vertretenen voraus. Und genau dafür wird in der Regel gesorgt. Wenn aber solche Leute auf der „Tribüne des Klassenkampfes“ stehen, drängt sich doch die Frage auf, worin ihre Nützlichkeit tatsächlich besteht. Vor diesem Hintergrund sollte doch einmal ernsthaft geprüft werden, ob das Thema Wahlkampf überhaupt noch in der althergebrachten Weise behandelt werden kann, wobei noch einmal deutlich auf den Medienfilter hinzuweisen wäre, der jedem „Tribüneneffekt“ erst einmal vorgelagert ist.
Nachbemerkung
Die Sprache der Bilder war schon immer mächtiger als das Wort. Seit Mitte des Sommers hat sich der Berliner Wahlkampf wie ein nasser Lappen über die Stadt gelegt. Unzählige Papptafeln bedrängen die Einwohner. Nirgendwo ist auch nur der geringste Versuch einer politischen Aussage zu finden. Auf den Tafeln prangen Spinnen, Kröten, Bären, Lebensmittelgesichter und die ewigen Kindl-Pils-Erscheinungen der CDU.
Nie zuvor war ein Wahlkampf von derartiger Leere und unverfrorener Geistlosigkeit gekennzeichnet wie dieser. Die repräsentative Demokratie hat die Ära der Versprechungen hinter sich gelassen. Die Parteien zeigen nur noch an, daß sie sich nicht mehr voneinander unterscheiden wollen. Ob Spinne, Kröte oder Bär, Milchflasche oder Spinatpackung: die Symbole sind austauschbar. Wer wählt, wählt ab jetzt eine Gliederung der alldeutschen Gesamtpartei… Bliebe noch die Sehnsucht nach der „Tribüne“.
Ebenfalls Mitte des Sommers prangte ein Plakat in Potsdams Straßen, wie es seit den Tagen von Bischofferode verheißungsvoller nicht sein konnte. „Gysi kommt!“ war in fetten Lettern unter dem Konterfei des Angekündigten zu lesen, das ihn mit vor der Brust verschränkten Armen in kämpferischer Pose zeigte. Trotzig dreinschauend schien er entschlossen, den Angriff auf ostdeutsche Biographien an der Havel zum Stehen zu bringen. Doch in einer Welt der Werbung ist eben alles dicht beieinander. So hing Gysi auf kleiner Papptafel an einer Stelle unter einer viel mächtigeren, auf der Potsdams Großer für „Rex Pils“ ritt.
Nicht etwa, daß nun Gysi unter Friedrich nicht mehr zu sehen war. Die königliche Bierreklame inspirierte viel eher zu näherem Blick. Genauer betrachtet hielt ja Gysi seine Arme nicht vor der Brust verschränkt, sondern preßte sie eng an den Körper. Dadurch erschien die Opposition eingezwängt. Ritt nun die Majestät für Bier, litt Gysi für das andere Grundelement aller „Einheizmärkte“ – denn unter den Hufen des Rosses wirkte er prallerweise wie in ein Bockwurstglas gestopft, dessen röhrenförmige Enge einfach gebietet, die Arme dicht an die Brust zu pressen.
Den PR-Leuten der PDS muß die Potsdamer Kreation im nachhinein dennoch zu fleischfresserisch und sexistisch vorgekommen sein; denn inzwischen ist Gysi aus seinem Wurstglas wieder raus. Für den Berliner Wahlkampf mit seinen feministischen Gefahren galt es wohl den weiteren Eindruck zu vermeiden, dem Spitzenmann sei eigens ein strammsitzendes Kondom übergezogen worden,um ihn in phallischer Aufmachung als König der Männer erscheinen zu lassen. „Gysi und sein Trupp“, heißt es nun listig auf der Pappe. Die Hände sind zwar wieder frei und konziliant geöffnet.Die Geste aber erinnert nicht an Timur, sondern an einen flinken katzenfreundlichen Frühstücksdirektor.
Umwerfend auch die Verpappung der Petra Pau, die sinnigerweise als „Berliner Pflanze“ offensichtlich einem Gemüseglas entschlüpft. So fröhlich ragt ihr Rotkopf in die Welt, daß nur noch ein Maggywürfel politisch überzeugender wäre.
Old Bisky ist überhaupt nicht zu sehen. Im Juni hielt J. Agnoli einen Vortrag an der HU, in dem er diese Art „oppositionellen“ Treibens als „Opposition Seiner Majestät“ bezeichnete. Das ist zwar sachlich richtig, doch immer noch zu schmeichelhaft. Angesichts der jüngsten Entwicklung wäre es angemessener, von einer „Rummelbude Seiner Majestät“ zu reden. Die „Tribüne des Klassenkampfes“ erscheint so gesehen nur noch für besondere Possen geeignet.
Anmerkungen:
(1) Dieter Klein, Wechselwirkungen. Östliche Transformation und westliche Suche nach postfordistischen Optionen.
Vorstehender Beitrag von Willi R. Gettél wurde 1995 erstveröffentlicht.
Siehe auch die Beiträge
- Sozialismus oder Industriefeudalismus? – Serie: Gedanken zur Strategiediskussion (Teil 1/3) von Willi R. Gettél
- Freiheit statt Kapitalismus – Serie: Gedanken zur Strategiediskussion (Teil 3/3) von Willi R. Gettél
im WELTEXPRESS.
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