Wenn Obama einer neuen Situation gegenüber steht, ist seine erste Reaktion gewöhnlich wunderbar.
Dann hat er es sich anscheinend anders überlegt. Und drittens. Und viertens. Das Endergebnis ist eine Wendung um 180 Grad.
Als sich die Massen auf dem Tahrir-Platz versammelten, reagierte er genau wie jeder anständige Mensch in den USA und in der ganzen Welt. Da gab es grenzenlose Bewunderung für diese tapferen jungen Männer und Frauen, die der gefürchteten „Muhabarat“ (Geheimpolizei) gegenüber standen und Demokratie und Menschenrechte forderten.
Wie sollte man sie nicht bewundern? Sie waren nicht gewalttätig; ihre Forderungen waren vernünftig; ihre Aktionen waren spontan; offensichtlich drückten sie die Gefühle der großen Mehrheit der Menschen aus. Ohne eine nennenswerte Organisation, ohne Führung. Sie sagten und taten genau das Richtige.
Solch ein Anblick ist selten in der Geschichte. Keine Sansculottes (wie in der Französischen Revolution), die nach Blut schreien, keine gefühlskalten Bolschewiken, die im Schatten lauern, die keine Ayatollahs diktieren Taten im Namen Gottes.
Obama liebte es. Er versteckte seine Gefühle nicht. Er rief praktisch den Diktator dazu auf, aufzugeben und zu verschwinden.
Wenn Obama bei diesem Kurs geblieben wäre, könnte das Ergebnis historisch gewesen sein. Die USA, die in der arabischen Welt am meisten gehasste Macht, hätten die arabischen Massen, den muslimischen Raum, ja, tatsächlich einen großen Teil der sogenannten 3. Welt elektrisiert. Es hätte der Anfang eines vollkommen neuen Zeitalters sein können.
Ich glaube, dass Obama genau dies fühlte. Seine ersten Instinkte sind immer richtig. In solch einer Situation zeigt sich, wer ein wirklicher Führer ist.
Aber dann kamen andere Überlegungen. Kleine Leute begannen ihn zu bearbeiten. Politiker, Generäle, ’Sicherheitsexperten’, Diplomaten, Pundits, (Besserwisser), Lobbyisten, Geschäftsführer, all die ’erfahrenen’ Leute – erfahren in Routineangelegenheiten – begannen, sich einzuschalten. Und natürlich die unglaublich mächtige Israel-Lobby.
„Bist Du verrückt?“ – sagten sie ihm. Einen Diktator aufgeben, der unser Hurensohn ist? All unseren Diktatoren in aller Welt zu sagen, dass wir sie in ihrer Stunde der Not im Stich lassen?
Wie naiv kann man sein? Demokratie in einem arabischen Land? Dass wir nicht lachen! Wir kennen die Araber. Man zeigt ihnen Demokratie auf einem Silberteller, und sie sind nicht in der Lage, diese von gebackenen Bohnen zu unterscheiden. Sie brauchen immer einen Diktator. Speziell diese Ägypter! Frag die Engländer!
Die ganze Sache ist wirklich eine Verschwörung der Muslimbruderschaft. Schau sie dir bei Google an! Sie sind die einzige alternative Kraft. Entweder Mubarak oder sie. Sie sind die ägyptischen Taliban, noch schlimmer: die ägyptischen el-Qaida. Hilf den wohlmeinenden Demokraten, das Regime zu stürzen, und man hat einen zweiten Iran mit einem ägyptischen Ahmadinejad an Israels Südgrenze, dem sich dann Hisbollah und Hamas anschließen. Die Dominosteine werden anfangen, zu fallen und mit Jordanien und Saudi Arabien beginnen
Während Obama sich all diesen Experten gegenüber sah, knickte er ein.
Natürlich kann jeder einzelne Punkt dieser Argumente leicht widerlegt werden.
Beginnen wir mit dem Iran. Die naiven Amerikaner – heißt es – gaben den Schah und seine in Israel trainierte Geheimpolizei auf, um Demokratie einzuführen, aber die Revolution wurde von den Ayatollahs übernommen. Eine grausame Diktatur wurde von einer noch grausameren abgelöst. Dies ist es, was Binyamin Netanyahu in dieser Woche sagte, um davor zu warnen, dass dasselbe jetzt in Ägypten geschehen würde.
Aber die wahre iranische Geschichte ist völlig anders.
1951 wurde ein patriotischer Politiker mit Namen Mohammad Mossadegh in demokratischen Wahlen gewählt – die erste ihrer Art im Iran. Mossadegh, weder ein Kommunist noch ein Sozialist, führte drastische soziale Reformen ein, befreite die Bauern und arbeitete kräftig daran, den rückständigen Iran in einen modernen, demokratischen, säkularen Staat zu verwandeln. Um dies zu ermöglichen, verstaatlichte er die Erdölindustrie, die einer habgierigen britischen Gesellschaft gehörte, die dem Iran lächerliche Tantiemen zahlte. Riesige Demonstrationen in Teheran unterstützten Mossadegh.
Die britische Reaktion war schnell und entschlossen. Winston Churchill überzeugte Präsident Dwight Eisenhower, dass Mossadeghs Kurs zum Kommunismus führen würde. 1953 organisierte der CIA einen Staatsstreich, Mossadegh wurde verhaftet und bis zu seinem Tod 14 Jahre später in Isolationshaft gehalten; die Briten bekamen das Öl zurück. Der Schah, der geflohen war, wurde wieder auf seinen Thron gesetzt. Sein Terrorregime dauerte bis zur Khomeini-Revolution 26 Jahre später.
Ohne diese amerikanische Intervention hätte der Iran sich wahrscheinlich in eine säkulare, liberale Demokratie entwickelt. Kein Khomeini. Kein Achmadinejad. Kein Gerede über Atombomben.
Netayahus Warnungen vor der unvermeidlichen Übernahme Ägyptens durch die fanatische Muslim-Bruderschaft, falls demokratische Wahlen abgehalten würden, klingen logisch, aber sie gründen sich ebenfalls auf Ignoranz.
Würden die Muslim-Bruderschaft an die Macht kommen? Sind sie talibanartige Fanatiker?
Die Bruderschaft wurde vor 80 Jahren gegründet, lange bevor Obama und Netanyahu geboren wurden. Sie sind im Laufe der Zeit reifer geworden – mit einem moderaten Flügel, sehr ähnlich der moderaten, demokratisch islamischen Partei, die die Türkei so gut regiert und die ihr Vorbild ist. In einem demokratischen Ägypten würden sie eine legitime Partei darstellen und am demokratischen Prozess teilnehmen.
(Dies wäre übrigens auch in Palästina geschehen, als die Hamas gewählt wurde – wenn die Amerikaner unter israelischer Führung die Einheitsregierung, die sie errichtet hatte, nicht gestürzt und die Hamas auf einen anderen Kurs gebracht hätte.)
Die Mehrheit der Ägypter ist religiös, aber ihr Islam ist weit entfernt von der radikalen Art. Es gibt keine Anzeichen, dass die Mehrheit des Volkes, die durch die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz vertreten wird, ein radikales Regime tolerieren würde. Der islamische „schwarze Mann“ ist gerade das – ein „schwarzer Mann“.
Was hat Obama nun tatsächlich getan? Seine Schritte waren erbärmlich – um es milde auszudrücken.
Nachdem er sich am Anfang gegen Mubarak gewandt hatte, meinte er plötzlich, er müsse doch an der Macht bleiben, um demokratische Reformen einzuleiten. Da sein Vertreter, den er nach Ägypten sandte, ein Diplomat i.R. ist, dessen augenblicklicher Arbeitgeber eine Anwaltsfirma ist, die die Mubarakfamilie vertritt – so wie Bill Clinton einen engagierten jüdischen Zionisten zu senden pflegte, um zwischen engagierten jüdischen Zionisten und den Palästinensern zu „vermitteln“.
Der verabscheute Diktator soll also die Demokratie einführen, eine neue liberale Verfassung erlassen, genau mit den Leuten zusammen arbeiten, die er ins Gefängnis geworfen hat und die systematisch gefoltert wurden.
Mubaraks erbärmliche Rede am Donnerstagabend war der Strohhalm, der dem ägyptischen Kamel den Rücken brach. Sie zeigte, dass er jeden Kontakt mit der Realität verloren hatte oder noch schlimmer, geistig gestört ist. Aber selbst ein verwirrter Diktator würde nicht solch eine blöde Rede gehalten haben, wenn er nicht geglaubt hätte, dass Amerika noch auf seiner Seite ist. Die Schreie der Empörung auf dem Platz, während Mubaraks aufgezeichnete Rede noch ausgestrahlt wurde, waren Ägyptens Antwort. Dazu waren keine Interpreten nötig.
Aber Amerika hatte sich schon bewegt. Sein Hauptinstrument in Ägypten ist die Armee. Es ist die Armee, die jetzt den Schlüssel für die nächste Zukunft hält. Als der „Oberste Militärrat“ am Donnerstag zusammen kam – kurz vor jener skandalösen Rede – ein „Kommunique Nr.1“ veröffentlichte, war Hoffnung mit einem unguten Gefühl verbunden.
„Kommunique Nr.1“ ist in der Geschichte ein wohlbekannter Begriff. Er bedeutet, dass eine Militärjunta die Macht übernommen hat, die gewöhnlich Demokratie, baldige Wahlen, Wohlstand und den Himmel auf Erden verspricht. In sehr seltenen Fällen erfüllen die Offiziere diese Versprechen. Aber im Allgemeinen folgt eine Militärdiktatur der schlimmsten Sorte.
Dieses Mal sagte die Erklärung gar nichts aus. Es zeigte im Fernsehen nur, dass sie da waren – alle leitenden Generäle minus Mubarak und seinen Handlanger Omar Suleiman.
Jetzt haben sie die Macht übernommen. Ruhig, ohne Blutvergießen. Das 2. Mal innerhalb von 60 Jahren.
Es lohnt sich, sich an das erste Mal zu erinnern. Nach einer Periode voller Unruhen gegen die britischen Besatzer führte eine Gruppe junger Offiziere, (Veteranen des 1948er Israel-Arabischen Krieges), die sich hinter einem älteren General verbargen, einen Staatsstreich aus. Der verachtete Herrscher, König Faruk, wurde vertrieben. Er verließ mit seiner Jacht Alexandria. Nicht ein Tropfen Blut wurde vergossen.
Die Menschen jubelten. Sie liebten die Armee und den Staatsstreich. Aber es war eine Revolution von oben. Keine Menschenmengen befanden sich auf dem Tahrir-Platz.
Die Armee versuchte zuerst, durch zivile Politiker zu regieren. Sie verloren bald die Geduld mit ihnen. Ein charismatischer junger Oberstleutnant, Gamal Abd-al-Nasser, tauchte als Führer auf, führte umfassende Reformen ein, stellte die Ehre Ägyptens und der ganzen arabischen Welt wieder her – und gründete die Diktatur, die gestern ihr Leben aushauchte.
Wird die Armee diesem Beispiel folgen oder wird sie das tun, was die türkische Armee mehrfach getan hat: die Macht ergreifen und diese in eine gewählte zivile Regierung übergeben ?
Vieles hängt von Obama ab. Wird er den Schritt zur Demokratie unterstützen, wie es seiner Neigung zweifellos entspricht, oder wird er auf die „Experten“ – einschließlich der Israelis – hören, die ihn drängen, sich auf eine Militärdiktatur zu verlassen, wie es amerikanische Präsidenten bis jetzt getan haben.
Aber die Chance der USA und Barack Obamas persönlich, die Welt vor 19 Tagen in einem historischen Augenblick durch eine großartige Führung zu leiten, ist versäumt worden. Die schönen Worte verpufften.
Für Israel ist es eine andere Lektion. Als die „freien Offiziere“ 1952 ihre Revolution in Ägypten durchführten, erhob sich in ganz Israel nur eine einzige Stimme (und zwar die von Haolam Hazeh, des Nachrichtenmagazins, das ich damals herausgab), die die israelische Regierung dazu aufrief, sie zu unterstützen. Die Regierung tat das Gegenteil, und eine historische Chance, Solidarität mit dem ägyptischen Volk zu zeigen, war vertan.
Jetzt fürchte ich, dass dieser Fehler wiederholt wird. Der Tsunami wird in Israel als eine erschreckende Naturkatastrophe gesehen, nicht als eine wunderbare große Gelegenheit.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de am 12.02.2011 erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.