So etwas hatte Ägypten bereits 2005 und 2008 erlebt. Damals waren aber die Proteste nicht so massiv und konnten schnell eingedämmt werden.
Jetzt hat die Zahl der Protestierer aber mehrere Zehntausende erreicht. Das ist wirklich viel. Die erste Reaktion der Behörden auf die Ausschreitungen, die für das Land der Pharaonen überhaupt nicht typisch waren, war eher träge – die Demonstranten wurden nicht einmal von der Polizei auseinander getrieben. Dann jedoch folgten scharfe Gegenmaßnahmen, bei denen vier Menschen getötet wurden.
Für einen Staat, der bereits seit nahezu 30 Jahren in der „Zwangsjacke“ lebt und wo erst im Mai 2010 der 1981 (gleich nach der Ermordung des Präsidenten Anwar as-Sadat) verhängte Ausnahmezustand teilweise aufgehoben wurde, ist der Ausbruch von Protesten ein schlimmes Zeichen, besonders wenn man bedenkt, dass in Ägypten im kommenden September die Präsidentenwahl stattfindet. Die Abwahl Mubaraks scheint (bzw. schien vor den Massenunruhen) nicht ausgeschlossen.
Tausende Menschen sind auf die Straßen gegangen mit Plakaten wie „Mubarak, Saudi-Arabien wartet auf dich!“ (dort hat Tunesiens geflüchteter Präsident Ben Ali Asyl gefunden) oder „Nieder mit Hosni! Revolution bis zum Sieg!“
Kein „zweites Tunesien“ in Ägypten
Ägypten ist allerdings nicht Tunesien. Das Land mit mehr als 80 Millionen Einwohnern spielt die Führungsrolle in der arabischen Welt, egal ob aus geografischer, strategischer, demographischer, politischer oder wirtschaftlicher Sicht.
Ägypten bestimmt den „Lebensrhythmus“ im Nahen Osten. Wenn es Ägypten (bzw. in Ägypten) schlecht geht, dann bekommen das alle zu spüren.
Eine weitere Revolution nach dem tunesischen Vorbild ist am Nil aber unwahrscheinlich. Hosni Mubarak kann man nicht mit seinem ehemaligen Amtskollegen Ben Ali vergleichen – zu groß ist der Unterschied zwischen diesen zwei Persönlichkeiten.
Um 30 Jahre lang an der Macht zu bleiben, muss man besondere Eigenschaften haben – eine Kombination aus Diktatur, Tyrannei, Härte, aber auch Flexibilität und politischer Intuition. Hinzu kommt, dass Mubarak alle Nuancen des ägyptischen Charakters kennt und im Ausland einen guten Ruf genießt. Außerdem bekommt er die volle Unterstützung der Polizei und Armee.
Äußerst wichtig ist auch die kolossale Hilfe, die Ägypten aus dem Ausland erhält. Es ist der zweitgrößte (nach Israel) Empfänger wirtschaftlicher und militärischer Hilfe aus den USA, die jedes Jahr auf drei Milliarden Dollar beläuft. Amerika, das selbst einst nach einer Revolution als Staat entstanden ist, mag es nicht, wenn seine Verbündeten von Revolutionen erschüttert werden. Zumal Kairo für Washington ein sehr wichtiger Verbündeter ist.
Man kann sich kaum vorstellen, was im Nahen Osten passieren könnte, wenn in Ägypten eine Revolution triumphieren und Instabilität einkehren würde. Die Folgen wären für alle Seiten schmerzlich.
Dann würden in Kairo höchstwahrscheinlich anti-westliche und radikal-islamistische Stimmungen die Oberhand gewinnen, was seinerseits eine Anspannung der Beziehungen mit Israel (Ägypten ist derzeit Tel Avivs größter Partner und Friedensstifter) provozieren und den Friedensprozess zum Scheitern bringen würde. Möglich wäre auch eine Radikalisierung der Stimmung im Iran.
US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte direkt nach den Massenprotesten in Ägypten, die USA verlassen sich auf die Weisheit der Regierung in Kairo und rechnen damit, dass sie „die gesetzlichen Bedürfnisse und Interessen des ägyptischen Volkes berücksichtigt.“ Ähnlich hatte sich die US-Diplomatie auch vor der Revolution in Tunesien geäußert.
Ist „Pharao“ Mubarak „unsterblich“?
Im Oktober dieses Jahres wird der 82-jährige Hosni Mubarak sein 30-jähriges Amtsjubiläum als Präsident begehen. Er hält schon länger die Fäden der Macht zusammen als der einstige KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew (18 Jahre) und sogar als Chinas großer Steuermann Mao Zedong (27 Jahre).
Als Nachfolger wurde von ihm sein 41-jähriger Sohn Gamal Mubarak auserkoren, der jetzige Kovorsitzende der regierenden Nationaldemokratischen Partei und Wirtschaftsberater seines Vaters. Diese Pläne scheinen nicht aufzugehen.
Gamal ist offenbar nicht in der Lage, die vor Wut schäumende ägyptische Gesellschaft zu besänftigen.
Im Grunde eignet sich Gamal Mubarak als Nachfolger: Sein Alter und seine Kenntnisse würden ihm das gestatten. Auch der im Westen eher unbeliebte Begriff „Vetternwirtschaft“ ruft in der arabischen Welt keine negative Reaktion hervor. Das ist aber nur in „stabilen Zeiten“ so. Wenn sich am Horizont ein Sturm abzeichnet, könnte eine solche Machtübergabe sehr gefährlich werden. Deshalb ist auch vorstellbar, dass Mubarak auf den baldigen Wahlkampf verzichtet. Bisher hat er übrigens weder ja noch nein gesagt.
Allgemein lassen sich im Nahen Osten derzeit Tendenzen beobachten, die vom „tunesischen Feuer“ ausgelöst wurden. So verkündete Syrien nach dem Aufstand in Tunesien Mitte Dezember die Errichtung einer sozialen Sonderstiftung für die Unterstützung von Armen und Arbeitslosen. Für diese Zwecke sind 300 Millionen Dollar vorgesehen.
Ein solches Projekt hatte nahezu zehn Jahre in der Diskussion gestanden, kam aber erst jetzt zustande. Aus dieser Stiftung darf jede mittellose syrische Familie jeden Monat zwölf bis 35 Dollar für die Beheizung ihrer Wohnung bekommen. Auch in Jordanien befasst sich die Regierung mit ähnlichen Maßnahmen.
In vielen Ländern der Region verfolgen die Monarchen, Premierminister und Diktatoren mit großer Besorgnis die jüngsten Ereignisse in Tunesien. Denn Ben Ali ist ein arabischer Diktator, der nicht von den Islamisten oder äußeren Feinden (USA oder Westeuropa), sondern von seinem eigenen Volk gestürzt wurde. Tunesien ist immerhin einer der weltlichsten und fortgeschrittensten Maghreb-Staaten.
Jetzt richtet die ganze Welt ihren Blick nach Ägypten. Denn falls das Land der Pharaonen in Flammen aufgehen sollte, dann würde es überall brennen.
RIA Novosti