Berlin, Deutschland (Weltexpress). Pars pro toto, der Teil steht für das Ganze, schrieben die alten Lateiner, und es gibt wirklich diese Momente, an denen in einem einzelnen Fragment ein viel größeres Problem kenntlich wird. So in einem unschuldigen, alltäglichen Artikel der Zeit über die Versteigerung eines Zweispitzes, der Napoleon gehört haben soll.
Die Versteigerung und die Höhe des Gebots werden ordentlich abgehandelt, es wird noch ein bisschen mit anderen Versteigerungen von Erinnerungsstücken rund um Napoleon ergänzt, bis dahin ein konventionelles, aber ordentliches Stück journalistisches Alltagshandwerk. Am Schluss aber schlägt die Befürchtung zu, die Leser der Zeit (also jenes Blatts, für dessen Lektüre das Abitur als Voraussetzung galt) könnten nicht wissen, wer Napoleon denn gewesen sei. Also wird am Schluss eine Erläuterung angefügt: „Der gebürtige Korse Napoleon Bonaparte starb 1821 im Alter von 51 Jahren in der Verbannung auf der Atlantik-Insel Sankt Helena. In Frankreich gilt er für einige als Reformer und Gründer wichtiger Institutionen. Kritikerinnen und Kritiker werfen ihm jedoch eine autoritäre Herrschaft und die Wiederherstellung der Sklaverei in den Kolonien im Jahr 1802 vor.“
Wir reden hier von der überragenden historischen Gestalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Deren Bedeutung man im Grunde nicht entgehen kann, wenn man irgendeines der großen Kunstwerke, die aus jener Zeit stammen oder sich mit ihr befassen, auch nur ansatzweise mitbekommen hat. Wir reden von der Ägypten-Mode, vom Code Civil, von einer endlosen Reihe von Schlachten wie Borodino, Leipzig, Waterloo. Von Beethovens Eroica und Hegels „Weltseele zu Pferde“, von der spanischen Guerilla und Andreas Hofer, von der Landreform des Grafen Montgelas, den Reformen des Freiherrn von Stein und dem Wiener Kongress. Ob man nun die Beschreibung der Schlacht von Waterloo in Zolas Les Miserables liest, Robert Schumanns Vertonung von Heines „Die Grenadiere“ lauscht oder die Verfilmung von Krieg und Frieden schaut, Napoleon ist die Gestalt, um die alle Widersprüche des beginnenden 19. Jahrhunderts kreisen wie ein Wirbelsturm um sein Auge.
Der Code Civil, das erste vereinheitlichte Zivilrecht eines modernen Nationalstaates, stand an der Wiege auch des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs. Wir messen heute noch mit Metern, Litern und Kilogramm; Maßeinheiten, die in den Tornistern der französischen Armee verbreitet wurden.
Aus diesem gewaltigen Drama macht die Zeit zur Belehrung ihrer Leserschaft „in Frankreich gilt er für einige als Reformer und Gründer wichtiger Institutionen.“ Widersprüchlichkeit ist nicht vorgesehen; es gilt, ein endgültiges Urteil über eine historische Figur zu fällen, nötigenfalls auch bar jeder Sachkenntnis.
Und selbst bei Napoleon wird es für nötig gehalten, den üblichen Einordnungsschwanz mit „Kritikerinnen und Kritiker werfen ihm vor“ anzufügen. „Autoritäre Herrschaft“ und „Wiederherstellung der Sklaverei in den Kolonien im Jahr 1802“ sind also die Sünden, die ihm vorgehalten werden.
Die „Autoritäre Herrschaft“ ist besonders lustig. Schließlich fanden sich unter den Gegnern Napoleons auch keine Demokratien, immerhin befinden wir uns in einer Zeit, in der Feudalherrschaft noch die Norm, und ein bürgerlicher Staat die große Ausnahme ist. Man kann sich damit beschäftigen, ob Napoleon die Ideale der Französischen Revolution verraten hat, aber das ist eine völlig andere Frage. Wenn „autoritäre Herrschaft“ der Vorwurf ist, der es rechtfertigt, eine historische Gestalt zu verdammen, dann bleibt von Julius Caesar bis kurz vor der Gegenwart nicht mehr viel von der europäischen Geschichte übrig.
Die Vorhaltung, er habe die Sklaverei wieder hergestellt, springt ebenfalls zu kurz. Zum einen war das insbesondere im Falle Haitis nicht erfolgreich, man könnte also bestenfalls sagen, er habe versucht, die Sklaverei wiederherzustellen. Man muss bei einer derartigen Bewertung aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Vereinigten Staaten die Sklaverei immerhin bis 1865 fortsetzten, Brasilien gar bis 1888. Andererseits hatte Napoleon Bonaparte einen schwarzen Kollegen und Konkurrenten, General Thomas Dumas, den Vater des Schriftstellers Alexandre Dumas. Der ranghöchste Schwarze in westlichen Armeen, bis fast 200 Jahre später Colin Powell Oberbefehlshaber der US-Armee wurde, wie die Welt noch 2013 anmerkte, anlässlich der deutschen Veröffentlichung einer Biografie von Dumas. Übrigens eine sehr lesenswerte Biografie.
Der große Vorteil, wenn man sich mit historischen Zusammenhängen befasst, besteht darin, dass man eben nicht bewerten muss. Man kann Widersprüchlichkeiten einfach zur Kenntnis nehmen. Man kann wahrnehmen, mit welchen Mühen sich die Zeitgenossen durch diese Widersprüchlichkeiten bewegten, wie Beethoven, der seine Eroica erst nach Napoleon benannte, die Widmung aber strich, als sich Napoleon 1804 zum Kaiser erklärte. Man kann wahrnehmen, wie gleichzeitig mit dem Code Civil eine Vorstellung von Recht entsteht, die auf Gleichheit beruht, und andererseits die Vorstellung einer deutschen Nation gegen die napoleonischen Truppen gebildet wird. Man hat den Luxus, keine Seite beschönigen, aber auch keiner Seite ihre Größe absprechen zu müssen. Und bei all dem kann man sogar noch das Zitat des chinesischen Premiers Tschou En-lai beherzigen, der einmal auf die Frage von Henry Kissinger, was er von der Französischen Revolution halte (für Zeit-Autoren: Diese begann am 14. Juli 1789), erwidert haben soll, es sei noch zu früh, um darüber zu urteilen.
Man hätte diese angehängte Erläuterung auch schlicht unterlassen können. Schließlich müsste man bei Zeit-Lesern zumindest davon ausgehen, dass sie notfalls ein Lexikon oder das Internet nutzen können. Aber hier schlug der Zeitgeist zu. Eine historische Gestalt nicht „einzuordnen“ scheint mittlerweile unmöglich, gleich, wie peinlich und verzerrend diese Einordnung gerät.
Und hier ist nun der Punkt, an dem das Teil für das Ganze steht. Denn derartige zwanghaft moralisierende Urteile durchziehen auch die Äußerungen zur Gegenwart, und Widersprüchlichkeiten werden dort ebenso wenig zugelassen wie in der Sicht auf die Vergangenheit; als wäre es leichter, da ein Urteil zu fällen, und nicht schwerer. Mehr noch. Dieses fast zwanghafte Bemühen, den Lesern vorzugeben, was sie von Napoleon zu halten haben, findet sich bei der Darstellung aktueller Ereignisse noch um ein Vielfaches verstärkt, und ebenso schwach begründet.
Auch die nicht allzu subtile Lenkung ist gleich. „In Frankreich gilt er für einige als Reformer und Gründer wichtiger Institutionen“ ist eine Formulierung, die diese Sicht als eine zwar existente, aber randständige darstellt, noch dazu auf Frankreich begrenzt. Viel bedeutender sind die „Kritikerinnen und Kritiker“, auch wenn man in diesem konkreten Fall gerne eine genaue Quellenangabe für diese Kritik hätte, um zukünftig jedes weitere Werk der betreffenden Personen meiden zu können. Man hat fast das Gefühl, der Verfasser dieser Zeilen, der mit Sicherheit kein sonderliches Interesse an Geschichte besitzt, habe sich einfach irgendetwas aus jenen Details gezimmert, die noch in seinem Gedächtnis vergraben waren. Wobei es schon eine besondere Leistung darstellt, sich nicht an die napoleonischen Kriege zu erinnern.
Was besagt es über den gesamten Rest der Berichterstattung, wenn es erforderlich scheint, noch Napoleon in ein heutiges Schema einzusortieren? Vielleicht war das ja nur Füllsel, um eine Zeilenvorgabe zu erfüllen. Aber es erweckt eher den Eindruck, als wäre da einer inhaltlichen Vorgabe Folge geleistet worden, die sich in alles hineindrängt, selbst in Wetterberichte und Sportreportagen, und eben in Berichte über die Versteigerung eines Huts, den Napoleon einmal getragen haben soll.
Wie groß muss die Angst vor jeder Unklarheit, jeder Abweichung sein, wenn es erforderlich ist, noch der banalsten Meldung eine sichtbare Imprimatur zu erteilen? Man konnte ja schon lange sehen, dass Journalismus in Deutschland nur noch mit Scheuklappen erlaubt ist, aber inzwischen hat die Ideologisierung eine Tiefe angenommen, die man nur noch mit einer Zwangsstörung vergleichen kann. Es gibt Menschen, die alles, was sie berühren, mit Putzlappen abwischen müssen. Und dann gibt es Menschen, die können über kein Thema schreiben, ohne ihre Tugend hervorkehren zu müssen. Zum Glück sind Zwangsstörungen meist heilbar.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 26.11.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht.