Ohnehin erscheint der Monolog wie ein entspanntes Gespräch mit guten Bekannten. Gelegentlich blättert der Missionar in einem Heft mit Aufzeichnungen, so als sei er auf der Suche nach Stichworten für die Fortführung seiner Rede. Offensichtlich liest er jedoch nichts ab, und alles, was er sagt, erscheint improvisiert, spontan hervorgebracht für dieses ganz spezielle Publikum.
Diese direkte Form des Theaterspielens, bei der Intimität mit dem Publikum entsteht, und die „vierte Wand“ völlig verschwindet, wurde in den 80er Jahren auch in Deutschland vielfach praktiziert, hat sich hier jedoch kaum durchsetzen können.
Es gehört eine ganz besondere Ausstrahlung und künstlerische Technik dazu, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum zu überwinden, ohne allzu privat und langweilig zu werden. Bruno Vanden Broecke beherrscht diese Technik meisterhaft, und er ist ein Magier der Szene, der es versteht, die volle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Mit ganz sparsamen Gesten und einer hinreißend ausdrucksvollen Mimik zieht der flämische Schauspieler die ZuschauerInnen in seinen Bann, und wenn er spricht, verwandeln sich seine Worte in Bilder, und das Beschriebene wird sichtbar.
Vanden Broecke interpretiert „Mission“, ein Stück des belgischen Autors David Van Reybrouck, der für diese Arbeit zahlreiche belgische Missionare im Kongo interviewt hat. Van Reybrouck ist überzeugter Atheist. Dennoch war es ihm wichtig, die Vorurteile auszuräumen, nach denen Missionare nicht nur fanatische Seelenfänger, sondern dazu noch Handlanger des westlichen Imperialismus sind. Bis vor fünfzig Jahren entsprach das vielfach den Tatsachen, mittlerweile jedoch hat sich vieles geändert.
Der Missionar in David Van Reybroucks Stück ist als Siebzehnjähriger nach Afrika gegangen und hat dort 50 Jahre in der Mission gearbeitet. Jetzt ist er auf Heimaturlaub in Belgien, zu Besuch bei seinem jüngeren Bruder. Er hat bereits 120 Besuche absolviert, bei denen er über seine Arbeit im Kongo gesprochen hat, wobei er immer wieder feststellen konnte, dass Menschen interessiert fragend auf ihn zukamen, dann aber nicht lange zuhören konnten, sondern lieber von ihren eigenen Angelegenheiten erzählten, von den modischen Umbauten in ihren Häusern und von ihrem Stress, dem Zeitdruck, unter dem sie leiden, obwohl die meisten von ihnen doch viel länger leben als die Menschen in Afrika, die sehr viel mehr Geduld aufbringen als die ewig gehetzten Europäer.
Der 36jährige Bruno Vanden Broecke ist ganz und gar überzeugend als Mann von 67 Jahren. Vanden Broecke präsentiert sich mit so selbstverständlicher Sicherheit, dass sich nichts an seiner Darstellung oder an dem, was er tut oder sagt, in Frage stellen lässt.
Der Missionar zieht das linke Bein etwas nach, Folge der vielen Stürze mit dem Motorrad auf unwegsamem Gelände in Afrika. Darüber berichtet er launig, im Plauderton wie auch über vieles Andere, wobei er oft genug Trauer und Verzweiflung mitschwingen lässt.
Er ist ein seltsamer Heiliger, offen, wahrhaftig, kommunikativ und doch auch in sich gekehrt. Er erzählt von den Kriegen, die er erlebt hat, von Hunger, Elend, Zerstörung und Gewalt. Wichtiger, als das Evangelium zu verkünden, war es ihm häufig, Menschen in ihrem Alltag beim Überleben zu helfen.
Fünfzig Jahre hat er im Kongo gelebt ohne dort wirklich heimisch geworden zu sein. Aber auch Belgien, wo er alljährlich seinen Urlaub verbracht hat, ist ihm fremd geworden. Er ist ein Wanderer zwischen den Welten, der viel Leid gesehen und erduldet hat, ohne abgestumpft zu sein. Seine politischen Anschauungen und historischen Einschätzungen sind manchmal fragwürdig, und in seinen Aussagen werden auch rassistische Tendenzen deutlich.
Vollkommen ist dieser Mensch nicht, aber er ist einer, der mit wachen Augen um sich schaut und nicht müde geworden ist in seinem, oft vergeblichen, Bemühen, Not zu lindern. Resignieren und alles hinwerfen kann er nicht. Er hat vor fünfzig Jahren eine Entscheidung gefällt, an die er sich unverbrüchlich gebunden fühlt.
Manchmal, während er Ungeheuerliches berichtet, kocht der Zorn in ihm hoch, den er dann sofort wieder besänftigt. Erst ganz am Schluss bricht eine Anklage gegen Gott aus ihm heraus, gefolgt von einem entsetzlichen Schrei, in dem sein ganzes Unglück, seine Verzweiflung und Hilflosigkeit enthalten sind.
Und dann – und das ist wirklich ein genialer Einfall des Regisseurs Raven Ruell – fällt auf die Bühne die Regenwand herunter, die der Missionar vorher beschrieben hatte. Als sie endlich verschwunden ist, scheint die Sonne. Der Missionar wringt sein nasses Hemd aus, birgt einen toten Geier und geht zurück an seine Arbeit.
„Mission“ von David Van Reybrouck, aus dem Niederländischen übersetzt von Rosemarie Still, eine Produktion der Koniklijke Vlaamse Schouwburg, Brüssel, war, im Rahmen der spielzeit’europa, am 5. und 6.12. auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.