Roll over, Beethoven! – Aaron Johnson ist „Nowhere Boy“ John Lennon in Sam Taylor-Woods Biopic

Irgendein Jugendlicher in irgendeiner öden englischen Kleinstadt. Die detailgetreue Szenerie und der Soundtrack zwischen Rock ´n Roll und Country beschwören den Zeitgeist der Fünfziger. Noch scheinen die grell-bunten Swinging Sixties eine ferne Utopie. Wie viele seiner Altersgenossen ist John begeistert von Rock ´n Roll. Den Blues wird er im doppelten Sinne erst später für sich entdecken. Er raucht, flirtet und quält sich durch die Schule. Wie viele seiner Altersgenossen rebelliert er mit Regelbrüchen gegen die verkrampfte Enge der öden Arbeiterstadt. Wie viele gründet er eine zusammengewürfelte Schülerband. Der unspektakuläre Auftakt von „Nowhere Boy“ ist zugleich Schwäche und Stärke der beschwingten Tragikkomödie der englischen Künstlerin Sam Taylor-Wood. Insbesondere die konventionell inszenierte Rebellion des späteren Beatles gleitet oft in die Stereotypen eines beliebigen Coming-of-Age-Dramas ab. Johns strenge Tante Mimi (Kristin Scott Thomas) ist wenig begeistert von den musikalischen Ambitionen ihres aufmüpfigen Neffen. Der Tod seines geliebten Onkels George (David Threlfall) lässt John begreifen, wie einsam und unerfüllt sein Leben tatsächlich ist. Ausgerechnet auf Georges Beerdigung begegnet John zum ersten mal seit frühester Kindheit seiner Mutter Julia (Anne-Marie Duff). In der jungen Frau erkennt er die Seelenverwandte, die er unbewusst zeitlebens suchte.

Die eindringliche Darstellung Anne-Marie Duffs treibt die bis dahin nur zaghaft knospende Dramatik endlich zur Blüte. Zu gerne lässt sich John von der lebenssprühenden Julia mitreißen, die seiner kreativen Energie eine Richtung gibt. Seinen Halt hat er durch den Tod des Onkels verloren, umso begieriger klammert er sich an einen neuen. Dass Julia selbst ihn hauptsächlich als Chance sieht, ihrem erstickenden Familienalltag zu entfliehen, dass ihr unbändiges Temperament die Rastlosigkeit eines gehetzten Tieres ist, erkennt er spät. So spät, dass die seelische Verletzung ihn für immer prägen wird. Den doppelten Verlust seiner Mutter, die ihm einmal als Kleinkind und ein zweites mal als Jugendlichen verlassen musste, hat der reale John Lennon wohl nie völlig verwunden. Die tiefe dieser Verletzung jedoch deutet „Nowhere Boy“ nur an, ebenso die schwere der psychischen Erkrankung von der keineswegs nur neurotischen Julia. Duffs nuanciertes Charakterporträt und das dem ebenbürtige der unterkühlten Kristin Scott-Thomas können das schwache Spiel von „Kick Ass“-Hauptdarstellers Aaron Johnson jedoch kaum ausgleichen.

Enttäuschend Taylor-Woods zartbitteres Biopic, weil es sich in der Beliebigkeit seiner Geschichte verliert. Gedichte und Geschichten verfasst der junge Lennon heimlich, so heimlich, dass die Regisseurin sie nicht einmal dem Betrachter enthüllt. Dass seine schulischen Konflikte seine Selbstzweifel nährten, lässt Taylor-Wood unerwähnt. Sogar den bitter-ironischen Satz auf Lennons Abschlusszeugnis: Dieses Kind muss scheitern. John Lennon hat es ihnen allen gezeigt, dem spießigen bürgerlichen Milieu, den Lehrern, Gott. Doch fühlbar wird seine schillernde Persönlichkeit auf der Leinwand nie. Vielleicht war die Fotografin, die mit „Nowhere Boy“ ihr Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin gibt, zu sehr im filmischen Milieu daheim. Der Einfluss von Lennons Werk begleitete die Konzeptkünstlerin Taylor-Woods durch mehrere Stationen ihres eigenen künstlerischen Schaffens. Den Blick auf die faszinierenden Facetten Lennons versperrt ihr nicht zu viel Distanz, sondern zu viel Nähe.

„He’s as blind as he can be,

Just sees what he wants to see“

****
Titel: Nowhere Boy
Land/ Jahr: USA 2009
Genre: Drama
Kinostart: 9. Dezembdr 2010
Regie: Sam Tylor-Wood
Drehbuch: Matt Greenhalgh, Sam Tylor-Wood
Darsteller: Aaron Johnson, Kristin Scott Thomas, Anne-Marie Duff, David Threlfall, Josh Bolt, David Morrissey, Sam Bell, James Johnson, Andrew Buchan, Thomas Brodie Sangster
Kamera: Lisa Gunning
Musik: Alison Goldfrapp, Will Gregory
Schnitt: Alice Normington
Musik: Alison Goldfrapp, Will Gregory
Laufzeit: 98 Minuten
Verleih: Senator
www.senator.de

Vorheriger ArtikelSanierung gesichert – Eine halbe Million Euro aus dem Bundeshaushalt für das August Macke-Haus in Bonn
Nächster ArtikelWas eine Idee und Glauben vermögen – „Die Säulen der Erde“ nun auch auf DVD und Blue-Ray