Wenn nun in Frankfurt rund 450 Schwarz-Weiß-Fotografien neben Farbfotos und Filmprojekten sowie die Zeitungen und Zeitschriften, die sie veröffentlichten und die Bücher, die sie machte oder in denen sie vorkommt, vorführt, dann muß man wissen, daß allein im Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (bpk) rund 260 000 Negative, 50 000 Abzüge, 10 000 Diapositive lagern und im Deutschen Theatermuseum München (DTM) etwa 350 000 negative, 17 000 Abzüge und 17 000 Diapositive aufbewahrt werden. Aber auch das Historische Museum Frankfurt besitzt eigene Werke, so daß der Betrachter der Ausstellung innerlich ganz klein wird, sieht er doch schon so ein immenses Lebenswerk vor sich, in dem alles erfaßt wurde, was die Bundesrepublik dieser Jahre im Inneren darstellt und in den Außenbeziehungen widerspiegelt.
Bleiben wir erst einmal in der Stadt Frankfurt, wohin die Wuppertalerin 1957 zog, damals noch stärker verrufen als heute und ihr über all die Jahre zur Heimat geworden, weil diese Stadt die gesellschaftlicher Zerrissenheit, den Popanz Besitz, das Abdriften ins Elend, die Einschränkung von Kindheit, die Billigkeit von Konsum stärker ausdrückte als andere, wozu kommt, daß Abisag Tüllmann noch schärfer sah als andere und so Bilder zustandekommen, bei denen man sich wundert, daß sie schon 1953 Romas aufnimmt, während einen der Zeitbezug italienischer „Gastarbeiter“ Anfang der Siebziger Jahre nicht wundert, wohl aber deren Wohnlichkeit und wahrscheinlich nur Kenner wußten, daß schon 1969 an der Elsa-Brändström-Schule im Frankfurter Westend Türkischunterreicht gegeben wurde, das war eine Zeit, wo die muttersprachliche Bildung hoch gehalten wurde, ging man doch gesellschaftlich vom Modell der Rotation aus, derzufolge so etwa alle fünf Jahre die „Gastarbeiter“ nach Hause zurückkehren.
Mit den Fotografien der Abisag Tüllmann ist also viel Nachdenken über die gewollten, die geplanten und die ungeplanten Geschicke der Bundesrepublik verbunden und weil „1968“ so bekannt ist, lassen wir es hier aus, wollen aber darauf hinweisen, daß sie alle damaligen und späteren Berühmtheiten abgebildet hat, dabei zweimal einen lieben Daniel Cohn-Bendit, in Offenbach 1975 mit Rudi Dutschke, und 1977 mit Alice Schwarzer. Wir bleiben verblüfft sehr lange vor dem Zug der Nonnen über den Eisernen Steg stehen, den wir deshalb auch mit Absicht für unser Foto wählten. Dieses Foto wirkt wie eine Montage und scheint uns unter künstlerischen Gesichtspunkten formvollendet. Das Surreale ergibt sich erst einmal durch den Zug so vieler frommen Frauen mit dem Gebetsbuch in der Hand, die von der Frankfurter Seite kommend den Main auf der Fußgängerbrücke hin nach Sachsenhausen überqueren. Das schöne Gemälde vom Eisernen Steg von Max Beckmann hängt leider in Düsseldorf, es macht noch schärfer die Eisenkonstruktion der Brücke durch ihre diagonale Anordnung über den Fluß kenntlich. Aber Abisag Tüllmann nimmt in ihrer Fotografie beides auf, die gerade Brücke und die Schräge, indem sie vor unseren Augen das rechte Brückengelände gerade verlaufen läßt und das linke weit nach links ausschweifen läßt, wie eben das nahe Fotografieren die Perspektive verändert. Weit hinten liegen die Leonhardskirche und der obere Teil vom Römer und die Spitze der Paulskirche wie gemalt, noch besser: wie auf einem alten vergilbten Stich.
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Info:
Ausstellung bis 27. März 2011
Das umfangreiche Begleitprogramm entnehmen Sie bitte der Webseite
Katalog und Begleitbuch: Abisag Tüllmann 1935-1996. Bildreportagen und Theaterfotografie, hrsg. von Martha Caspers, mit Beiträgen von insgesamt sechs Frauen(!), Verlag HatjeCantz. Wie in der Ausstellung sind die Themenbereiche gegliedert in „Schauplatz Großstadt“ und die Auseinandersetzung mit der Reportage in der Bildsequenz, ihre Arbeiten für den Film, die Spannweite des gedruckten Werks, Kunst und Theater, Biographischen Angaben und: dem Abdruck der Fotos, von denen auf 16 Seiten auch Buntdrucke sind, allerdings alle aus der Theaterwelt, aber dann ebenfalls 16 Seiten ihre Reisen ins bunte Bild bringen. Dennoch genießt man geradezu das Schwarz Weiß und wundert sich, warum man eigentlich Farbfernsehen hat, so minimalistisch bringt dieses Schwarz Weiß die abgebildeten Menschen zur Leuchtkraft. Sie war eine Menschenfotografiererin, das weiß man auf einmal.