Um was es geht in diesem, im besten Sinne Wälzer, den alle einen Familienroman nennen, was er auch ist. Letzten Endes geht es um die Liebe, um die vielfältigen Formen von Zusammenleben, vom Begehren, dem Überdruß, dem Keimen von Gefühlen, dessen Verkümmern, gar Absterben, dem Liebesverrat, dem Betrug, dem Selbstbetrug. Und es geht um Liebe und Familie in den Zeiten der Cholera, was heute Umweltzerstörung bedeutet und der Kampf gegen sie. Es geht also ums Leben. Um das Leben in der einstiegen Vorzeigerepublik der westlichen Welt: den USA, von deren Süden bis zur Ostküste.
Kurzum: das ist ein wundervolles Buch, das zu lesen jedem Menschen etwas gibt, so genau hat Jonathan Franzen seine Charaktere entwickelt und – genauso wichtig –, er läßt sie sich unter unseren Augen und Ohren weiterentwickeln. Und das genau ist das Tröstliche an dem Roman, der uns ständig das Scheitern vor Augen führt, daß auch die Protagonisten des Scheiterns dies mit offenen Augen tun – ein Vorgang den jeder Erwachsene unter uns kennt -, daß aus so viel Scheitern aber auch eine Einsicht in besseres Weiterleben gerinnen kann – was nicht jeder Erwachsene unter uns kennt.
Und wenn wir mit der Trauer über das Abschiednehmen von den Menschen, die uns wochenlang begleitet hatten, diesen Text begonnen hatten, hat das mindestens zwei Gründe. Franzens Welterfolg „Die Korrekturen“ liegt schon länger zurück, aber die Erinnerung an diese Familie ruht noch heute in uns. Ein neuer Familienroman von Jonathan Franzen?! Wir waren versessen darauf, den neuen Roman schnell zu lesen. Aber ach, wir taten uns schwer. Die jungen Pioniere von Ramsey Hill, die sich eine viktorianische Villa an der Barrier Street (St. Paul) gekauft hatten, Walter und Patty, und diese nun als Lebenszweck zehn Jahre sanierten und renovierten, sie interessierten uns einfach nicht besonders, Patty Berglund mit ihrer Sucht der Selbstherabsetzung, Walter als der Mann ohne Eigenschaften außer der einen, diese, seine Frau zu lieben. Wann kippte das? Wann wurde aus bewußt wahrgenommenem Desinteresse an den Personen geradezu eine Sucht, ihre Verwicklungen, Verfehlungen, ihr Unglücklichsein und Glücklichsein mitverfolgen zu dürfen? Wir wissen es nicht, aber so geschah es.
Und der zweite Grund, mit der wir uns unsere Wehmut, daß es zu Ende ist mit der Geschichte dieser Berglunds, sehr gut erklären können, liegt darin, daß wir das Buch ja eigentlich zweieinhalb Mal lasen? Gelesen, gehört, gehört, gelesen. Angefangen hatten wir mit dem Buch, aber dann kam eine längere Autofahrt hinzu, weshalb wir auf das Hörbuch zugriffen, natürlich insgesamt jedes Medium für sich, von Anfang bis Ende gelesen und gehört. Aber durch die mindestens zweimalige Kenntnis des Inhalts und Verlaufs merkten wir auf einmal, wie oft wir etwas überlesen oder überhört hatten. Also wurde zurückgeblättert, was einfach ist oder in den CDs die entsprechenden Stellen gesucht, was sich schon schwieriger gestaltet. Als Ergebnis haben wir aber nun nicht nur einen gefestigten Inhalt, sondern auch einen analytischen Ansatz, mit welcher Chuzpe uns alle dieser wirklich geniale Schriftsteller Jonathan Franzen in diese Familiensaga hineinzieht, mit welcher Komik er das garniert und mit welch abgründigen Geschichten er uns eine Spielart von westlichem Leben vorführt, bei dem einem alles andere als wohl ist.
Wenn unsere Überschrift das Lustspiel von Christian Friedrich Grabbe zitiert, so drückt dies aus, daß dieser Gesellschaftsroman der dekadent westlichen Welt vom Anfang des 21. Jahrhunderts alles vereint, was sich denken läßt: Tiefe der Lebensfragen, Dummheiten der Lebensgestaltung, Nichtigkeiten, die die Menschen zu Hauptsachen machen und eine so ungeheure Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge, die Jonathan Franzen wie unter dem Mikroskop uns aufbereitet, daß immer wieder großes Erschrecken herrscht, weil man in den Dummheiten dieser Leute sich selbst entdeckt. Das ist vielleicht das Hervorstechendste an diesem Roman, mit welcher Genauigkeit er unsere Welt, unsere Beziehungswelt, unsere Kaputtheiten, aber auch unsere Sehnsüchte und Möglichkeiten abbildet und sie in Worte, immer wieder in sich wiederholende und das Sprechen automatisierende Worte faßt.
Dennoch sind wir um all die Geschichten froh, die diesen Familienroman zusätzlich zu einem Panoptikum der Istzeit machen – seien es die Schrottlieferungen fürs amerikanische Militär, sei es die Suche nach dem heruntergeschluckte Ehering im eigenen Kot, sei es die Kohleförderung zum Schutz des aussterbenden Waldsängers und der Eklat, den Walter durch seinen Wahrheitsausbruch produziert und Ende seines Lebens und neuen Anfang zur Folge hat, seien es die irrsinnigen Katzengeschichten am Schluß, das Buch ist auch ein Tausendundeine Geschichte. Aber gleichzeitig beschreibt es die so verschiedenartigen Formen von Liebe, von Freundschaft und Zusammengehören auf eine plastische und sinnliche Weise. Hier muß einfach der Sohn des den Demokraten zuneigenden Paares, Joey, genannt werden, der erst zu den proletarischen befeindeten Nachbarn zieht und dann tatsächlich deren Tochter Connie fürs Leben zu seiner Frau macht, reich wird und Republikaner dazu. Das allein ist eine so subtile Studie von dem, was Leute aneinander finden, was sie bindet, wie sie leben können, daß man aus dem Staunen nicht herauskommt, denn hier läßt Franzen Leute agieren, die sich außerhalb unseres Erfahrungswertes bewegen. Hochinteressant.
Vielleicht ist es die Eigenschaft des Autors, unvoreingenommen zu erzählen, uns Begebenheiten und Handlungsmotive zu begründen, weshalb wir dem Erzählstrom zunehmend begierig folgen, denn es ist quasi eine naturwissenschaftliche Anordung, in die wir ins Beziehungsfeld dieser Leute geraten, und es ist keine moralische Anstalt, die uns Franzen vorsetzt. Diesen Part erledigen wir beim Lesen und Hören schon selber. Jonathan Franzen aber ist der unbestechliche Weiterträger von Gedanken, Empfindungen, Vorhaben, Schuldgefühlen, Reflexionen seiner Protagonisten, die er als Schreiber in seine Gelassenheit ob ihrer Torheiten mitaufnimmt, was immer wieder eine Surrealität erzeugt, die man in den Begriff der „menschlichen Komödie des 21. Jahrhunderts“ am sinnvollsten faßt.
Die Sprache, die er verwendet, ist unauffällig, es gibt viele Dialoge, ein gehöriger Teil innerer Monologe, aber die oben erwähnte Chuzpe bezieht sich auf einen dramaturgischen Kunstgriff, der unserer Meinung nach diesem Buch die schwebende Struktur, das hintersinnige Etwas und den entscheidenden Schliff gegeben hat: das sind die autobiographischen Teile der Patty Berglund „verfaßt auf Vorschlag ihres Therapeuten“. Stilistisch ändert sich nichts, denn diese Patty redet von sich in der dritten Person, aber das gibt dem Inhalt eine weitere Tiefe und der Dramaturgie eine neue Dichte. Das ist genauso kunstvoll, wie es sinnig und süffig lesbar ist. Kurzum: ein wunderbares Buch.
Was die CDs aus dem Hörverlag angeht, die man auch im Hessischen Rundfunk und dem von Berlin-Brandenburg als Folge hören kann, waren wir schon aus technischen Gründen über die Hörmöglichkeit höchst angetan. Aber wir sind wohl von Natur aus lieber und stärker eine Leserin denn Hörerin. Obwohl der Sprecher Ulrich Matthes als Erzählstimme einen auch noch auf der 15. CD nicht narrisch macht, ist doch der Vorgang, daß er fast alles spricht, also nicht nur die Dialoge der Männer, sondern auch die der Frauen kontraproduktiv. Die Fistelstimme, mit denen er Frauen charakterisieren will, sie aber karikiert, mißfällt insbesondere bei den Aussagen der Patty, die so gestelzt spricht, daß man gegen sie einen Widerwillen entwickelt, während man beim Lesen über ihre sonderbaren abgehobenen Sätze sympathisierend schmunzelt. Diese Unterschiede aber sind nun wiederum das Spannende an solchen Vorgehen, wenn man sowohl liest wie auch hört.
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Jonathan Franzen, Freiheit, Rowohlt Verlag 2010
Jonathan Franzen, Freiheit, 15 CD, der Hörverlag 2010