Vor zwei Stunden hat das schneeweiße Binnenpassagierschiff "Georgiy Tschitscherin" vom Kai des monströsen Moskauer Flusshafengebäudes am Moskwa-Kanal abgelegt. Der Nördliche Binnenhafen der russischen Hauptstadt liegt hinter uns. Vor uns rund 1400 Kilometer bis Sankt Petersburg.
Die künstliche Wasserstraße gruben Sträflinge auf Befehl Stalins zwischen 1932 und 1937. Was sie damals unter größten Strapazen leisten mußten, ist beachtlich: In der Rekordbauzeit von knapp sechs Jahren bewegten sie 154 Mio. Kubikmeter Erdreich , verarbeiteten 2,9 Mio. Kubikmeter Beton und Stahlbeton, errichteten elf Staudämme, ebenso viele Schleusen, 15 Brücken, acht Wasserkraftwerke und Sperrtore, fünf Pumpstationen und zwei Tunnel unter dem Kanal. Außerdem wurden zahlreiche Anleger gebaut, drei Binnenhäfen angelegt, 203 Siedlungen und Ortschaften umgesiedelt, neben dem Schiffahrtsweg ein doppeltes Röhrensystem für den Trinkwassertransport sowie Telefon-, Telegrafen- und Stromleitungen verlegt. "Das haben wir bisher nicht gewusst", staunen die Russland-Fahrer über das gigantische Werk. Und dies umso mehr, als sie erfahren, daß der 128 Kilometer lange Moskwa-Kanal seine Brüder in Panama um 47 und zwischen Nord- und Ostsee um 29 Kilometer übertrifft.
"Moska"-Sumpf
Zu ihrem Namen ist die Stadt durch den Moskwa-Fluss gekommen. Das altslawischaWort "moska" = Sumpf, Feuchtigkeit stand dabei Pate.
In früheren Zeiten war der Fluss einziger Weg durch die dichten Wälder. Die Schifffahrt spielte hier immer eine bedeutende Rolle. Bevor Peter I. Pläne zur Verbindung zwischen Ostsee, Wolga und Don schmiedete, konnte man in 20 bis 42 Tagen – je nach Schiffsgröße – von Moskau nach Astrachan schippern. Über die Wasserscheide wurden Schiffe und Waren mit Muskelkraft von Mensch und Pferd übers Trockene geschleppt. Infolge zunehmender Siedlungsgrößen und damit verbundener Wasserentnahme, Abholzung und landwirtschaftlicher Nutzung begann im 17. Und 18. Jahrhundert der Fluss zu versanden. Im 19. Jahrhundert fiel der Wasserspiegel auf magere 30 Zentimeter. Bis zu 250 Menschen und 50 Pferde waren für das Freischleppen von den Sandbänken notwendig.
Zwischen 1873 und 1877 wurde ein Holz-Schleusen-System gebaut. Bis Kolomna konnten jetzt wieder Lastkähne mit 70 Zentimetern Tiefgang verkehren. Doch erst weitere Ausbau-Verbesserungen und Regulierungen brachten ab 1931 eine Erleichterung. Linienverkehr und Trinkwasserversorgung waren von 1932 an möglich
Heutzutage ist die Moskwa auf 210 Kilometern für Schiffe mit bis zu 2,20 Metern Tiefgang problemlos befahrbar.
Schiffe satt und "Njet!"
Pausenlos gleiten Binnenschiffsverbände mit bis zu 18 000 Tonnen Ladung und 5,5 Meter Tiefgang vorüber. Bei 85 Metern Kanalbreite kein Problem für die erfahrenen Männer auf der Brücke. Sie kennen ihre Strecke dank wöchentlicher Pendelfahrten wie aus dem Eff-Eff. Aber sie haben es hier auch – tief im Herzen Russlands – mit echten Seeleuten zu tun. Denen begegnen sie auf Binnen-See-Schiffen der Typen "Wolgo-Balt" oder "Amur". Manch ein 140 Meter langer 5000-Tonnen-Brocken ist darunter, unterwegs von oder zur Ostsee oder ins arktische Weiße Meer. Sie transportieren Güter in über 20 Länder Europas, Asiens und Afrikas, ohne dass ein Umladen notwendig ist. Eine Reise von Murmansk nach Baku mitten durch Russland dauert nur 15 Tage. Dank moderner Eisbrecher konnte die Kanal-, Fluß- und Seen-Navigationsperiode auf 250 Tage verlängert werden.
Ausländischen Schiffen begegnet man auf den innerrussischen Wasserstraßen hingegen nicht. Auch die Containerfrachter-Linie Rostock – Moskau ist davon nicht ausgenommen. Selbst deutsche Reeder, die in jüngster Zeit auf russischen Werften wie der in Gorki bauen lassen, sind davon betroffen. Die Monopolisten mit ihrer Mammut-Flotte unter der weiß-blau-roten Zarenflagge fürchten internationale Konkurrenz. Und stellen daher unannehmbare Bedingungen, zum Beispiel sich an den immensen Unterhaltungskosten des Fahrwassers zu beteiligen. Das schreckt ab. Vorerst bleibt es also beim strikten "Njet!"
Sanfte Schleusenpassagen mit Lenin-Gruß
Die "Tschitscherin" und ihre 37 Schwestern – allesamt seit 1976 auf der ehemaligen DDR-Elbewerft in Boizenburg gebaut – fahren im Fahrplan und haben dadurch Privilegien. Nämlich bevorzugt in den Schleusen abgefertigt zu werden.
Das ist jedesmal ein Augen- und Fotoschmaus für die Seh-Leute an der Reling. Weithin sichtbar die monumentalen Schleusengebäude aus Granit und weißem Kalkstein. Ihr stalinistischer Baustil mit den triumphbogenähnlichen Türmen erinnert entfernt an das alte Rom.
Satte 50 Meter Höhenunterschied müssen erst mal überwunden werden. Da heißt es immer wieder: "Fahrstuhlfahren abwärts". Auf unserem Kanal-Kurs nach Norden allein sechs Mal. Ohne Rummser und Kratzer übrigens. Selbst nachts wird niemand aus dem Schlaf geschreckt. Für manch alten Flusskreuzfahrt-"Hasen", der Schleusen-Manöver in unsanfter Erinnerung hat, eine völlig neue Erfahrung. Der Kreuzfahrtdirektor und seine Crew hören es zufrieden.
Ab Dubna, dem Atomforschungszentrum an der Wolga-Einmündung, geht es erst mal auf "ebenem Kiel" weiter. Signalisiert durch einen echten, großer Leuchtturm. Ein versilberter Lenin grüßt mit erhobenem Arm – wie eh und je – vom gegenüberliegenden Ufer. Ursache für befremdliche Gäste-Reaktionen.. "Für uns bleibt er eine historische Figur", antworten Crewmitglieder danach befragt.
"Mütterchen Wolga"
Sie ist seit jeher Inbegriff für russische Heimat. Wie die Birke der russische Baum, der Wodka das russische Getränk, so ist die Wolga der russische Fluss. An seinen Ufern entstand die Nation. Viel besungen, bedichtet und gemalt: in Volksliedern, Romanen, Gedichten und Gemälden voller schwermütiger Romantik. Heute geschunden durch schwergewichtige Baumaßnahmen und Industrie. Ihre braunen Fluten laden selbst bei heißen Hochsommertemperaturen nicht zum Bade. Nach ihrer finno-ugrischen Wortbedeutung gilt sie eigentlich als "die Helle, Herrliche" – längst passé. Auch wenn die Bord-Band den Fluß noch so besingt.
Was bleibt, ist russische Gigantomanie. Gespeist wird der 3690 Kilometer-Fluss der Flüsse, längster und wasserreichster Europas, aus rund 150 000 Zuflüssen, von denen 71 schiffbar sind. 60 Prozent des Wasservolumens machen Schmelzwasser, 30 Prozent Grundwasser und 10 Prozent Niederschläge aus. Sie durchströmt auf ihrem Nord-Süd-Weg drei Klima- und Vegetationszonen: Halbwüsten, Steppen und Nadelwälder. Letztere dehnen sich schier unendlich längs unseres Reiseweges durch das gleichförmige Osteuropäische Tiefland bis zur Ostsee. Nur spärlich unterbrochen von Blockhüttensiedlungen – zunehmend auch in farbenfrohem Outfit – und kümmerlicher Roggen-Kartoffel-Landwirtschaft. Machmal reckt auch eine Industrieruine ihr rostiges Stahlbetongerippe über die Baumwipfel. Mit schwarz qualmenden Schornsteinen.
Düstere Historie mit Spießrutenlaufen
Nach zweitägiger Kanal- und Flussfahrt weitet sich der Blick auf dem Uglitscher Stausee. Am Horizont Zwiebeltürme. Die heutige Uhrenstadt Uglitsch ging als Schauplatz eines düsteren Geschehnisses in die Geschichte ein. Dimitri, neunjähriger Sohn Iwans des Schrecklichen, kam hier 1591 unter mysteriösen Umständen ums Leben. Die Dimitri-Blut-Kirche von 1692 mit ihren fünf Kuppeln erinnert noch heute an den heiliggesprochenen Fürstenspross. Vom Anleger sind es nur ein paar Gehminuten zu dem Sakralbau oberhalb des Wolgastrandes.
Gleich vier 129-Meter-Flußkreuzfahrtliner mit hunderten von Touristen haben heute festgemacht. Der birkengesäumte Weg zur Kirche ist gepflastert mit Souvenirständen. Jeder Händler versucht ein Schnäppchen zu machen – mit allen Mitteln. "Da kommt man sich vor wie beim Spießrutenlaufen.", ist denn auch in der Landgänger-Runde zu hören. Überall nach Euro und Dollar ausgestreckte Hände. Wenn sich allerdings Kindergruppen zum Kalinka-Gesang formieren, wird so mancher schwach. Ein paar Rubelchen, und die Gesichter strahlen. Die Laienkapelle intoniert lautstark und blechern bayerische und preußische Märsche zum Abschied.
Rybinsker Stausee – Amazonas-like
Superlativ Nummer drei: der Rybinsker Stausee. Bis zu 72 Kilometer breit und 140 Kilometer lang, gilt er als einer der größten der Welt. Nicht umsonst wird er "morje", zu Deutsch "Meer", genannt. Während seiner Anlage zur Verbesserung der Schiffahrtsbedingungen, Energie- und Wasserversorgung zwischen 1941 und 1947 wurden 700 Ortschaften umgesiedelt und überschwemmt. Stellenweise kommt der Betrachter sich vor wie auf dem Amazonas. Vom Decksstuhl läßt sich das würzig duftende Grün-Panorama aus Inseln, versunkenen Bäumen und endlosem Waldmeer so recht genießen. Auch bei typisch russischem Essen, das die Küche täglich zaubert: ob Pelmeni, Borschtsch oder Piroschki.
Vogelgezwitscher ist in der Stille weithin zu hören, allein übertroffen von stimmstarken Nachtigallen. Bis kein Ufer mehr zu sehen ist. Wir sind "auf See".
Dazu zählt auch der "Weiße See", Teil des legendären, erst 1964 eingeweihten Wolga-Ostsee-Wasserweges. Sein Vorgänger war das "Mariensystem", ein Plan von Zar Peter I. Seit 1810 konnten kleine Schiffe von Sankt Petersburg bis zur "Hauptstadt der Treidler" Rybinsk fahren.
Gorizy – ein Dorferlebnis
Während die große Mehrheit von Gorizy, am Südzipfel des Weißen Sees gelegen, per Bus das Kirillow-Beloserski-Kloster, eines der berühmtesten Russlands, ansteuert, machen wir uns zu Fuß auf. Eine seltene Chance während dieser Reise, um in ländlich-russisches Leben abzutauchen. "Klöster zeigen nur die Vergangenheit", meint ein Mitläufer. Aber man muß sich auf einiges gefasst machen. Soziale Einblicke, nicht gern gesehen, stimmen traurig.
Vor einem verfallenen Haus mit eingestürztem Dach schwankt eine ausgemergelte, zahnlose, völlig verschmutzte, zerlumpte Gestalt und winkt: "Paschalusta, bitte, kommen herein!" Wir sehen uns fragend an: sollen wir oder sollen wir nicht? Eine intensive Wodkafahne weht uns entgegen. Drinnen Finsternis. Hinter schiefen Pappwänden ein wackliger Stuhl, Tisch und Bett, dessen zerfetzter Bezug mal weiß gewesen sein muß. Überall verstreut Brotkrümel und Tabakreste. Kein Wasser, kein elektrisches Licht. Sein letztes Fläschchen "Lebenselixier" umgestürzt und leer. An den schwarzgeräucherten Wänden vergilbte Zeitungsbilder. Igor, so heißt der junge, aber schon alt wirkende Mann, entblößt seinen Oberarm – und präsentiert im Licht des einzigen Fensters grinsend eine Tätowierung: "Cuba libre" ist da eingeritzt. Mit seinen vor Dreck schwarz glänzenden Fingern zerrt er mühsam ein abgegriffenes Album unter seiner zerwühlten Lagerstatt hervor: in Fotos festgehaltene Erinnerungen. An ein besseres Leben als Marinesoldat auf der karibischen Zuckerinsel. Einziger und letzter, anscheinend immer wieder gezeigter Stolz, der ihm in seinem armseligen Leben ohne Arbeit und Geld noch geblieben ist. Müde winkt er "Dozwidanja!".
Auf Probleme wie dieses weiß der "Runde Tisch" – eine Gästeforum über aktuelle Fragen zu Russland – mit den Reiseleitern Nikolaj und Tanja auch keine schlüssige Antwort bis auf die, "daß vieles noch wie früher oder gar schlimmer geworden ist."
Onega, Vivaldi und "Piraten"
Nach weiteren sieben Schleusen mit 80 Metern Abwährtsfahrt öffnet sich der schmale Flußlauf der Kowscha, Teil des Wolga-Ostsee-Kanals, beim Ort Wytegra ins scheinbar Unendliche. MS "Georgiy Tschitscherin" steckt seine schlanke Nase in den hier dünengesäumten Onega-See. Eine schier uferlose gleißende Fläche. Kein Schiff, kein Segel weit und breit.
Den märchenhaften Sonnenuntergang untermalt Starpianist Alexander Gololobov aus Moskau mit den "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi. Die "weißen Nächte" lassen grüßen, denn so richtig dunkel wird es auf dieser geografischen Breite jetzt nicht mehr. Zu Ehren von Neptun – schließlich dampfen wir über einen See, der mit 10 000 Quadratkilometern (zum Vergleich der Bodensee: 539 Quadratkilometer) größer ist als alle westeuropäischen Seen – wird ein "Piraten-Abendessen" zelebriert.
"Wunder des Nordens" an großen Seen
Am Spätnachmittag Land(gang) in Sicht: die Museumsinsel Kishi, eine von 1650. Auf einem Hügel am Ufer überragt alles die hölzerne 22-kupplige Christ-Verklärungs-Kirche. Genannt auch das "Wunder des Nordens", 1990 aufgenommen in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Russische Holzbaukunst pur, ebenso karelische Bauernhöfe, Speicher, eine Windmühle und die 10-kupplige Mariä-Schutz-Kirche. Deren Glockenspiel klingt hell über die Bucht. In deren klarem Wasser es sich auch trefflich baden läßt. Ebenso im Fluß Swir, der den Onega- mit dem Ladoga-See verbindet. Auf halbem Weg Stopp am "Grünen Anleger" Mandrogij mit Schaschlik-Party und Zauberkunststückchen im Wald.
Der Ladoga, größter See Europas (219 Kilometer Nord-Süd-, 130 Kilometer Ost-West-Ausdehnung, 18 100 Quadratkilometer, bis zu 225 Meter tief), zeigt sich gnädig. Seine Sturmwellen indes sind gefürchtet. Sieben Leuchttürme weisen den Weg nach Sankt Petersburg. Als die Stadt im Zweiten Weltkrieg 900 Tage von deutschen Truppen belagert wurde, führte über den zugefrorenen See die "Straße des Lebens", auf der Versorgungskonvois in die Festung rollten und sie dadurch retteten.
Nach elf Tagen ist der Zielhafen unserer 1400-Kilometer-Reise von der Moskwa an die Neva erreicht. Das "Venedig des Nordens" zieht uns unwiderstehlich in seinen Bann.
Schiffsinformationen MS „Georgiy Tschitscherin“ und weitere:
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1988 auf der VEB Elbe-Werft in Boizenburg gebaut (37 Schwesterschiffe)
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Flagge: Russland
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Länge 129,1 m, Breite 16,7 m, Tiefgang 2,9 m, Höhe über Wasserlinie: 13,7 m
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Maschine: 2 x 1500 PS
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Kapazität: 280 Passagiere
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Besatzung: 80 Personen
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Stromspannung: 220 Volt
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sämtliche Kabinen außen gelegen, nur im untersten Deck verschlossene Bullaugen, sonst große, zu öffnende Fenster
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Bordeinrichtungen: 1 Restaurant (zwei Sitzungen bei voller Belegung), 2 Bars, Sonnendeck, Veranstaltungsraum, Lese- und Musiksalon, Souvenirshop, Sauna (gegen Gebühr), Friseur, Bordarzt (Erste Hilfe)
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Küche: gutbürgerlich (mehrgängiges russisches Menü)
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Zahlungsmittel: Euro, US-Dollar, Kreditkarten
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Bordatmosphäre: leger, Kleidung (laut russischem Scherz): "Wir tragen immer einen Pelzmantel: im Sommer offen, im Winter geschlossen")
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Bordprogramm: Konzerte des Bordensembles, Vorträge über Land und Leute, Russisch-Lektionen, Musik- und Tanzveranstaltungen
Info:
Buchung/Prospekte über: www.www.nicko-tours.de