Zum Gucken in den Keller gehen – Die „Magical History Tour“ führt im Arsenal in Berlin durch die Filmgeschichte

Der nur 78 Plätzen fassende kleinere der beiden Vorführungssäle ist nach persönlichem Empfinden der angenehmere. In der zweiten Reihe Mitte sitzt man dank der Lücke in der ersten Reihe mit freiem Blick auf die Leinwand. Wer von hier gucken möchte, muss zeitig da sein. Die ersten Besucher werden einem ungeschriebenen Gesetz folgend die Zweite-Reihe-Mitte-Plätze in Beschlag nehmen. Im Gesichtsverlust endete der Umzug des Arsenal nicht. Der Charakter eines Kinos setzt sich aus Spielstätte, Filmprogramm und Atmosphäre zusammen, nicht allein aus dem Standort. Schmerzlich spürte man das beim Berliner Marmorhaus. Das rückte keinen Zentimeter vom Fleck und ist trotzdem verschwunden. Die namensgebenden Marmorsteine sind heute in doppeltem Sinne Fassade. Das Premierekino des expressionistischen Klassikers  „Das Cabinet des Dr. Caligari“ fristet als Standort einer Modekette sein Dasein.

Klasse statt Masse regiert unverändert im Arsenal. D. W. Griffith, Serge Eisenstein, Luchino Visconti, Andy Warhol und Erich von Strohheim zählen zu den Filmschaffenden, welchen umfangreiche Retrospektiven gewidmet wurden. Die „Magical History Tour“ lässt vergangene Filmepochen auferstehen. Der wechselnde Themenschwerpunkt setzt sich umfassend mit einem Genre auseinander. Besucht man mehrere Abende hintereinander die Filmvorstellungen, verwirrt die moderne Stadtlandschaft des Potsdamer Platz beim Hinausgehen. Fast erwartet man, in einer anderen Welt aufzutauchen, dem Berlin der Zwanziger oder einer amerikanischen Großstadt der Vierziger. Statt Filme im Akkord abzuspielen, laufen gewöhnlich je Saal zwei Filme pro Abend. Kein Werbevorspann, keine Trailer, Beginn meist zu den Stammzeiten 19.30 und 21.30. Das hat nostalgischen Charme, denn je nachdem, was übergreifendes Thema der „Magical History Tour“ ist, kann man sich von einem Klassiker aus der aktuellen Themenreihe überraschen lassen. Wo kann man in Berlin und Umgebung sonst die noch Frage stellen: „Hast du Lust ins Kino zu gehen? Es läuft ein alter film noir?“

1963 gegründet, setzt sich das Arsenal zum Ziel, den Filmbestand der Deutschen Kinemathek und internationaler Archive der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gleichzeitig repräsentieren innovative Werke die zeitgenössische Filmkultur.
Zwei Filme sind untrennbar mit dem Arsenal verbunden. Paul Lenis 1924 entstandener Stummfilm „Wachsfigurenkabinett“, der in drei Episoden in einer Mischung Humoreske und Grusel  mit psychologischen, kuriosen und physischen Schrecken verknüpft. „Wachsfigurenkabinett“ ist der erste gezeigte Film des Arsenals. Der andere ist natürlich „Arsenal“, der erste Teil von Olexandre Dowschenkos fast vergessener Filmtriologie „Arsenal“, „Erde“ und „Iwan“. In seinem Filmarsenal hat das Programmkino den russischen Klassiker selbstverständlich und zeigt ihn alljährlich. Dowschenkos, Mitbegründer des russischen Kinos, ist nur einer aus dem Arsenal-Repertoire des post-revolutionären Films, neben Sergje Eisensteins „Oktober“, Streik“ und „Iwan Grosny“ .

Das breite Publikum musste bis 1970 warten, als das Arsenal im damaligen „Bayreuther Lichtspiele“ öffnete. Das Faible für Klassiker kontrastierte mit führenden experimentellen Werken. Politische Filme und Alternatives zählen zum Standardrepertoire des Arsenal. Der Prototyp des Alternativkinos fand unter anderem 1970 im Hamburger Abaton und 1971 im Kommunalen Kino Frankfurt Nachahmer. Die häufigen Aufführungen des Arsenal trugen zur Etablierung von Klassikern wie Bunuels „L`Age D ´Or“, „Un Chien Andalou“ oder Alexander Medwedkins „Das Glück“ bei. Die Veränderungen zur Jahrtausendwende nahm das Arsenal zum Anlass für die außergewöhnliche Reise durch die Geschichte: des Kinos, der Kunst- und Zeitgeschichte, von welchen der Film beeinflusst wird. Der kommerziell angehauchte und altmodische anglizierte Name „Magical History Tour“ ist wohl der finanziellen Krise geschuldet, welche das Kino nach einer drohenden Fördermittelkürzung fast in den Ruin trieb.

Neben dem Babylon ist das Arsenal das einzige Berliner Kino, welches regelmäßig Stummfilme mit Musik aufführt. An dem Klavier links neben der Leinwand sitzt zu diesem Anlass meist Pianistin Eunice Martens, die bei Gelegenheit auch im Zeughaus Kino in Berlin neben der Leinwand aufspielt. Ein Euro Aufpreis ist fast geschenkt für das musische Erlebnis. Wer den nicht zahlen möchte, wartet auf eine Vorstellung ohne Musik. Das ist Stummfilm im wahrsten Sinne. Da ergibt es plötzlich Sinn, dass an der Kasse kein knusperndes Popcorn, sondern knautschweiche Gummitiere verkauft werden. Ganz still wird es im Saal. Fast zumindest, denn jedes Husten wird zur Verlegenheitssache. Keine lauten Filmparts, in die man das Räuspern einschmuggeln kann. Es sei denn, Buster Keaton oder Chaplin stehen auf dem Spielplan. Die laufen zwar meist mit Musiktonspur, aber in dem Gelächter fällt kein Knistern mehr auf. „Klassiker nicht nur für Kinder“ heißen diese oft als Nachmittagsvorstellungen gezeigten Vorführungen. Die tonlosen Stummfilme am Abend eröffnen hingegen einen analytischen Blick auf die visuelle Ebene des Geschehens. Wie stark Musik und subtile Tonuntermalung den Zuschauer beeinflussen, begreift man erst in der lautlosen Dunkelheit. Was als glückliches Ende erschien, kann melancholische Untertöne gewinnen, in heimeligen Szenen enthüllt sich verborgene Bedrohlichkeit.

Für jedes Alter und jeden Geschmack gibt es im Arsenal etwas zu entdecken. Am besten, man plant mittels der gratis ausliegenden Programmhefte im Voraus. Öfter als zweimal wird ein Film selten gespielt. Wer sein Kinostück versäumt, muss meist 365 Tage warten. 362 von denen kann man sich dafür durch die anderen Filmschätze des Arsenals versüßen lassen. Die übrigen drei füllt die Vorfreude auf das neue Kinojahr mit der „Magical History Tour“.

http://www.fdk-berlin.de/arsenal/programm.html

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