Stralsund, Berlin, Deutschland (Weltexpress). Aufmerksam geworden auf die problematische Situation des nautischen Nachwuchses sind die beiden Kapitäne Jörg Laudahn (57) aus Rostock und Udo Wölms (63) aus Stralsund aufgrund von eigenen Erfahrungen und durch verschiedene Publikationen geworden.
Jahrhundertelang prägten Kapitäne die Welt der Seefahrt, die auch in Geschichte, Kunst, Politik und Literatur einen breiten Raum einnimmt. Die perspektivische Entwicklung dieses Gewerbes stellt sich aus der Sicht derer, die es (noch) ausfüllen, heute jedoch ganz anders dar.
Hier beantworten zwei ausgewiesene Praktiker zehn Fragen, die Aufschluss geben über eine dramatische Entwicklung.
Schmidt-Walther: Wie lange sind Sie insgesamt zur See gefahren und welche Stationen mussten Sie dabei bis zum Kapitänspatent durchlaufen?
Wölms: Bis heute fahre ich 39 Jahre zur See. Angefangen habe ich 1977. Nach der Ausbildung zum Vollmatrosen begann ich 1984 an der Seefahrtsschule Warnemünde/Wustrow ein Nautik-Studium. Im Wendejahr 1989 machte ich den Abschluss als Dipl. Ing. für Schiffsführung in der Handelsschifffahrt und erwarb das Steuermannspatent für Große Fahrt. Weltweite Fahrzeiten als nautischer Offizier auf DSR-Schiffen folgten. 1992 erhielt ich mein Kapitänspatent. Aus familiären Gründen schied ich aus der Seefahrt aus und arbeitete zehn Jahre an Land. In dieser Zeit wurde ich aktiver Seenotretter bei der DGzRS und bin es bis heute. 2002 kehrte ich in die Großen Fahrt zurück. Dafür benötigen Zertifikate hatte ich vorab aktualisiert. Bei der deutschen Reederei NSB musterte ich schließlich als Nautischer Offizier an. Nach vielen Seereisen weltweit wurde ich vor neun Jahren zum Kapitän befördert. J. L.: Meine Laufbahn verlief ähnlich. Nach Fahrtzeiten als Zweiter Offizier und drei Jahren als Erster wurde ich zum Kapitän befördert. Von meinen 35 Jahren Seefahrt fuhr ich 15 als Kapitän.
Schmidt-Walther: Welche Wertschätzung haben Sie als Seeleute vor der Wende erfahren?
Wölms: Eine Mischung aus Bewunderung, Hochachtung und Neid für das Privileg, weltweit reisen zu dürfen.
Laudahn: Wir hatten damals einen anerkannten Beruf mit hoher Wertschätzung. Auch aufgrund unserer fundierten seemännisch-nautischen Ausbildung.
Schmidt-Walther: Was hat sich während dieser Phase der Umstellung verändert?
Wölms: Neben dem Flaggenwechsel änderte sich der deutsche Ablösehafen, denn Rostock wurde nicht mehr angelaufen. Die Reederei DSR informierte über Schiffsverkäufe und damit einhergehende Entlassungen. Die Auflösung der Reederei war abzusehen.
Schmidt-Walther: Gab es für Sie dabei Probleme?
Wölms: Für mich stellte sich die Frage, warte ich auf meine Entlassung oder bewerbe ich mich vorher woanders. Letzteres tat ich dann. Aufgrund der familiären Situation entschied ich mich 1992 erst einmal für eine Tätigkeit an Land.
Laudahn: Wegen unserer guten Ausbildung und der hohen Nachfrage für unseren Beruf hatten wir beste Chancen bei westdeutschen Reedereien.
Probleme hatte ich keine, im Gegenteil. Das Führungsprinzip „Sachlich durchsetzen und zielführend überzeugen“ galt auch bei der DSR.
Schmidt-Walther: Wie hat sich die Seefahrt/das Berufsbild Nautiker in den Jahren nach 1990 gewandelt, was hat sich verändert, was ist anders geworden?
Wölms: Es verschwanden die rein deutschen Besatzungen und die Crews wurden mehr und mehr international. Die Arbeitssprache an Bord wechselte somit zwangsläufig zu Englisch.
Im Stückgutverkehr setzten sich weitgehend die Containerschiffe durch. Die Liegezeiten im Hafen verkürzten sich auf maximal 24 Stunden von vorher bis zu einer Woche. Containerschiffe fahren zudem schneller, wodurch sich die Reisezeiten zwischen den Häfen verkürzten. Die Besatzungsstärke verringerte sich um rund ein Drittel. Das führte zwangsläufig zu einer stärkeren Vereinsamung der Seeleute. Die Kollegen, mit denen man gerne seine Freizeit verbringen wollte, waren gerade auf Wache oder umgekehrt
Laudahn: Die Elektronik hielt außerdem verstärkt Einzug. So wurde die astronomische Navigation mit dem Sextanten von der GPS-Navigation abgelöst. Zunehmend kamen elektronische Seekarten zur Anwendung. Der Funkverkehr und die Telefonie wickelten sich ebenfalls über Satelliten ab. Die Kommunikation mit Reederei, Schiffsagenten und Behörden wurde von Telex und Fax auf E-Mail umgestellt. Diese Aufgaben erledigt heute vor allem der Kapitän. Viele administrative Tätigkeiten, die einst handschriftlich erledigt wurden, werden nun an Bord mit Hilfe von Computern erledigt. Trotzdem erhöht sich der bürokratische Aufwand durch immer neue Aufgaben ständig. Das ist auch frustrierend.
Schmidt-Walther: Was haben Sie dadurch als angenehm bzw. unangenehm empfunden?
Wölms: Planbarkeit der Einsätze und des Urlaubs verbesserten sich allmählich. Dadurch, dass die Schiffe über längere Zeit in festen Linien nach streng getakteten Zeitplänen fuhren, vereinfachte sich die Planung der Einsätze.
Laudahn: Seemannschaft wurde durch ISM ersetzt. Ein Matrose wusste durch seine Ausbildung und seine Berufserfahrung, was wann zu tun war. Nur das was nötig war, wurde gemacht. Das International Safety Management (ISM) ist für weniger gut ausgebildete ausländische Fachkräfte konzipiert. Auf vielen Checklisten sind Arbeitshandlungen in vorgegebener Reihenfolge notiert, damit nichts vergessen wird und alles sicher ist. Was nicht auf der Liste steht, wird dann auch vergessen.
Schmidt-Walther: Die waren jahrelang mit besten Dienstzeugnissen bei einer großen deutschen Reederei auf Containerschiffen beschäftigt.Aus welchen Gründen war damit plötzlich Schluss?
Wölms: Deutsche und andere EU-Seeleute wurden aus Sicht der Reeder als zu teuer angesehen im Vergleich zu Osteuropäern und Asiaten, für die keine Steuern und Sozialabgaben geleistet werden müssen.
Laudahn: Erst nachdem sich die Reeder für die Ausflaggung ihrer Schiffe entschieden hatten, wurden durch die Bundesregierung für die Reeder Erleichterungen und Kostenübernahmen beschlossen. So werden zum Beispiel die Steuern der Seeleute den Reedern wieder ausgezahlt.
Schmidt-Walther: Das war/ist eine allgemeine Tendenz in der deutschen Seeschifffahrt. Welche Folgen haben sich in der Folge daraus für das Berufsbild Kapitän/Lotse ergeben?
Wölms: Nachdem die Anzahl der Schiffe unter deutscher Flagge drastisch abgenommen hatte, verringerte sich damit auch die Anzahl der Schiffsoffiziere und Kapitäne mit deutschem Pass deutlich. Das betrifft in erster Linie die internationale Handelsschifffahrt. Kapitäne, die in die nationale Fahrt gewechselt sind, mussten feststellen, dass die Berufsbilder eines Kapitäns nicht nur bei der Größe der Schiffe auseinandergehen. Das Interesse an einer Tätigkeit auf Schiffen ist auch deshalb stark rückläufig. Das wiederum hat drastische Auswirkungen auf die Ausbildungseinrichtungen. Es fehlen nicht nur Auszubildende bzw. Studierende, es fehlt auch der Nachwuchs bei Lehrkräften.
Schmidt-Walther: Heute rufen Reedereien wieder nach deutschen Kapitänen. Welche Ursachen könnte das haben?
Wölms: Diese „Hilferufe“ könnten Auswirkungen der Corona-Pandemie sein. Infolge von Reisebeschränkungen sind Besatzungswechsel problematisch geworden. Die Reisezeiten an Bord und die Urlaubszeiten an Land verlängerten sich dadurch ungewollt, was die Attraktivität des Berufs nicht unbedingt steigert.
Laudahn: Jetzt rächt sich, dass man deutsche Fachkräfte mit langjähriger Erfahrung entlassen hatte. Das sieht man vielen Schiffen auch schon von außen an.
Schmidt-Walther: Wodurch könnte man Ihrer Meinung nach den Nautiker-Beruf wieder attraktiv für junge Leute machen?
Wölms/Laudahn: Durch höhere Bezahlung, ein ausgewogenes Verhältnis von Bord- und Urlaubszeit im Verhältnis eins zu eins, eine bessere soziale Absicherung, kürzere Lebensarbeitszeit, attraktive Möglichkeiten in ausbildungsadäquaten Landberufen und eine allgemein höhere Wertschätzung.
Fachbezogen, auch für nicht „Seeleute“ verständlich, auf den Punkt gebracht durch geziele Fragen und offene Antworten – PSW-like