Wo man singt, da lass dich nieder – Ang Lees bittersüßer Blick auf Frieden, Liebe und Musik: “Taking Woodstock”

Woodstock war nicht geplant, es passierte. Das Phänomen belässt “Taking Woodstock” als solches. Drehbuchautor James Schamus analysiert den Einfluss des Festivals auf die Menschen, die es miterlebten. Ob freiwillig oder unfreiwillig spielt keine Rolle. Der aus New York für einen Sommer zu seinen Eltern in sein Heimatdorf zurückgekehrte Elliot (Demetri Martin), seine energische Mutter Sonia (Imelda Staunton) und der schweigsame Vater Jake führen ein heruntergekommenes Hotel am Rande des Ruins. Als ein im Nachbarort geplantes Freiluftkonzert dort nicht genehmigt wird, vermietet Elliot den Veranstaltern die Kuhwiese seiner Nachbarn. Die Flut anreisender Konzertbesucher reißt nicht ab. Zuerst sind Elliots Eltern skeptisch, doch als der Rubel dank Gästeschwemme rollt, sind Besucher willkommen. Die anderen Dorfbewohner stehen Hippies wie Vilma (Liev Schreiber) und Michael (Jonathan Groff) weniger aufgeschlossen gegenüber. Doch gegen Millionen Blumenkinder sind sie machtlos. Zwischen Hippies und Musik verkündet Elliot im Marihuanarausch, das Konzert sei frei und jeder willkommen. Irgendwann nimmt er seinen ersten LSD-Trip, zeigt seine Homosexualität offen und entschließt sich, zu leben. Der verschlossene Vater geht aus sich heraus, die Mutter scheffelt mehr von ihrem angebeteten Geld.

Unerträglich kitschig würde es, wenn Woodstock immer weiterginge. Doch die drei Tage enden nach zwei Leinwandstunden fast abrupt. Das nächste Konzert soll noch schöner werden. Die Rolling Stones. Da gab es in der Zuschauermenge Tote statt Frieden, Liebe und Musik. Für seine Tragikkomödie ließ sich Lee von der berühmten “Woodstock”-Dokumentation inspirieren. Splitscreen und Handkameraaufnahmen geben “Taking Woodstock” ein halbdokumentarisches Aussehen. Wie nebenbei streut Ang Lee das politische Zeitgeschehen ein. Menschen landen auf dem Mond, der Vietnamkrieg dauert an, doch in Woodstock scheint eine bessere Gesellschaft möglich. Scheint, das stellt “Taking Woodstock” klar. So rettet Lee sein Drama vor der Kitschfalle. Dass “Taking Woodstock” nicht langweilt, ist auch den sympathischen Darstellern geschuldet. In Nebenrollen glänzen Imelda Staunton, Harry Goodmann und Emile Hirsch. “Taking Woodstock” romantisiert auch, doch das lässt sich einem Woodstock – Film kaum vorwerfen. Allein das Ansehen von Michael Wadleighs vierstündiger Dokumentation “Woodstock” erinnert an einen  LSD-Trip in eine farbenfrohe Wunschrealität: in der alle Brüder und Schwestern sind und Musik eine Brücke baut und”¦ yeah, peace. Ang Lee lässt sich in “Taking Woodstock” von der Menschen und Klangflut nicht fortreißen, sondern bewahrt Bodenhaftung.

Mit realistischen Zwischentönen ernüchtert Lee seine Figuren, wenn sie im Rausch von Drogen, Musik und Gemeinschaft abzuheben drohen. Einmal lässt sich die Kamera in der Zuschauermasse wie in einem gigantischen Meer treiben und Woodstock scheint das Zentrum des Universums zu sein. Vielleicht war es das auch: drei Tage lang. Der Vietnamkrieg ging weiter, der Kalte Krieg auch. Die Morde der Manson Family setzten den blutigen Schlusspunkt der Hippieära. Aus der Traum von Liebe, Friede, Musik. Aber schön war es, ihn zu träumen. Einen Kinofilm lang.

Titel: Taking Woodstock
Start: 3. September
Regie: Ang Lee
Drehbuch: James Schamus
Darsteller: Demetri Martin, Imelda Staunton, Harry Goodman, Liev Schreiber, Emile Hirsch
Verleih: TOBIS
www.takingwoodstock.de

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