Wie schon zuvor bei "Old Joy" hat Kelly Reichardt das Buch für "Wendy and Lucy" mit Jon Raymond geschrieben, auf dessen Geschichte "Train Choir" der Film basiert. Inspiriert von den Ereignissen nach dem Wirbelsturm Katrina stellten sie sich die Frage, wie es Menschen denn überhaupt schaffen sollen, ohne fremde Hilfe der Armut zu entrinnen – nicht nur in den USA ist die Ansicht weit verbreitet, dass es allein an ihrer eigenen Faulheit liegt, wenn Menschen arm und erfolglos sind, was derzeit in der Debatte um Obamas Gesundheitsreform wieder gut zu beobachten ist. Wendy ist arm, und wir erleben sie in einer Zeit, in der sie vom Unglück verfolgt ist. Ohne einen finanziellen Polster ist sie nicht in der Lage, die Folgen der Katastrophe aus eigener Kraft abzuwenden. Doch wie tief das Unglück ist, in das sie stürzt, hängt sehr von den Einstellungen und Handlungen der Mitmenschen ab. So scheint der Manager des Supermarktes geneigt, Wendy laufen zu lassen, doch der jungen Angestellte, der sie gestellt hat, beharrt darauf, dass die Regeln für alle gelten, und im übrigen solle jemand, der kein Geld hat, einen Hund zu ernähren, auch keinen besitzen. Und sagt der Mechaniker, der ihr Auto reparieren soll, die Wahrheit über den Zustand des Wagens, oder will er aus Wendys Not bloß Profit schlagen? Arbeit gibt es in der Kleinstadt sowieso nicht für Menschen ohne Adresse wie Wendy. Selbst ihr Bruder, den sie in ihrer Verzweiflung anruft, hat kein Wort des Trostes. Er will bloß nicht gestört werden. "Ruf an, wenn ´s ´dir wieder besser geht," ist alles, was er zu sagen hat. Allein der alte Wachmann, mit dem Wendys Pechsträhne begann, zeigt Mitleid. Nicht die paar Dollar, die er ihr verstohlen zusteckt – seine Freundin würde diese Geste nicht verstehen – , sind dabei wichtig, sondern die Anteilnahme, die er zeigt für die von allen verlassene Wendy. Doch scheint er, mit seinen langen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren, aus einer anderen Zeit. Die Zukunft scheint eher dem Typus des jungen Supermarktangestellten zu gehören, die Gegenwart beherrscht er jedenfalls.
Kelly Reichardt gibt in ihren Filmen keine Antworten, belehrt nicht, sondern zeigt in unaufgeregten Bildern, die gerade deshalb eine starke Wirkung entfalten, die Geschichte von Wendys Scheitern. So wirft sie eine Menge Fragen auf, über die neoliberale Welt, über Verantwortung der Menschen füreinander, über Gerechtigkeit, über die Mechanismen der Armut, die sich selbst reproduziert. Gerade das macht diesen Film so stark.
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Originaltitel: Wendy and Lucy
Genre: Drama
Kinostart: 22.10.2009
Land/Jahr: USA 2008
Laufzeit: 80 Minuten
Regie und Schnitt: Kelly Reichardt
Buch: Jon Raymond, Kelly Reichardt
Kamera: Sam Levy
Ton: Eric Hill
Darsteller: Michelle Williams, Walter Dalton, Will Oldham u. a.
Verleih: Peripher