Etwas einfacher ist es bei speziellen, zweckgerichteten Übertragungen subtiler Künste an ihre Liebhaber. Opernaufführungen der Mailänder Scala werden bereits heute via Internet in Mailänder Kinos übertragen. Das gewährt den Kunstgenuss zu Preisen, die erschwinglicher sind als die Karten fürs Opernhaus selbst. Ach die Berliner Cinestar-Kinos im Sonycenter zeigen seit einigen Jahren live-Aufführungen der Metropolitan Opera New York und des Londoner Royal Opera House, Covent Garden – mit gutem Erfolg.
Die gleichen technischen Voraussetzungen besitzen seit einem Jahr auch die Berliner Philharmoniker – die künstlerischen schon lange. Bereits Herbert von Karajan exerzierte mit dem Orchester in den 60er und 70er Jahren die Produktion von »HomeVideos«, die Bild und Ton vereinen und das Konzert oder die Oper in jedes Wohnzimmer der Wirtschaftswunder-Gesellschaft tragen sollten.
Mit der Digital Concert Hall haben die Berliner Philharmoniker seit Januar 2009 die Möglichkeit geschaffen, jedes Konzert über das Internet an ihre Nutzer live zu übertragen – gegen Gebühr, versteht sich. Im Gegensatz zu Fernsehübertragungen, bei denen Kameras rollen und vor allem Scheinwerfer blenden und Schweißperlen treiben, hat die DCH ein eigenes, geräuschloses, ferngesteuertes System von Kameras installiert, das der Musiker gar nicht wahrnimmt. Denn bei aller Affinität des Orchesters zur Publicity waren doch die Grundbedingungen der Musiker: keine (zusätzlichen) Scheinwerfer, keine Schminke, keine Kameras und Kameramänner und keine Proben oder gar Umbauten oder Eingriffe in die gewohnte Plazierung. Das Konzert muss sein wie immer, die ungestörte Atmosphäre, das gewohnte warme Licht, der Kontakt zum Dirigenten und zu den Solisten völlig unbeeinflusst von äußeren Bedingungen (abgesehen vom Publikum). Und so ist es. Befürchtungen und Bedenken einzelner Dirigenten und Solisten haben sich schnell zerstreut, bestätigt der Medienvorstand Olaf Maninger. Mittels der ferngesteuerten und im eigenen Studio gemischten Aufnahme hat der externe Konzertbesucher das Erlebnis, unmittelbar dabei zu sein.
Maninger und sein Mitgeschäftsführer Robert Zimmermann wären nicht die Macher, die sie sind, wenn sie nicht längst auch die Übertragung auf die Leinwand in einem großen Kinosaal ins Auge gefasst hätten. So war ihnen das Angebot von Cinestar willkommen, ein Konzert in ihr Filmtheater am Potsdamer Platz zu übertragen. Am 10. Februar startete also die Weltpremiere der Digital Concert Hall im Kino, zudem mit einem Highlight: Mitsuko Uchida spielte die Klavierkonzerte Nr.2 und Nr.3 von Ludwig van Beethoven, zudem gab es die 3. Sinfonie von Jean Sibelius, Dirigent: Sir Simon Rattle. Die Köpfe in Nahaufnahme überlebensgroß, gutes Licht und gestochene Bilder vermittelten einen überzeugenden Eindruck. Beeindruckend die Wahrnehmung, groß im Bild: die konzentrierte und hingebungsvolle Arbeit der Künstler. Die Kehrseite: auch die kleinen Eitelkeiten der Musiker bleiben nicht verborgen.
Das ist es möglicherweise, was die eigene Ästhetik der Digital Concert Hall ausmacht. Die fiktive Anwesenheit im Konzertsaal, die Draufsicht auf das Orchester, der Klang und die Hintergrundgeräusche im Saal der Philharmonie, die das Beteiligtsein suggerieren. Doch im Unterschied zur Sicht der im Saal Anwesenden zoomen die Operateure die Musiker heran und machen den Dialog zwischen Klavier und Klarinette oder zwischen Klavier und Pauken nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar. Und niemand im Konzertsaal schaut so direkt in das beseelte Gesicht der Pianistin Mitsuko Uchida wie der DCH-Besucher.
Robert Zimmermann will die Livekonzerte im Kino technisch weiter ausfeilen und fortsetzen. Trotz nur einer halben Probenstunde war das erste Ergebnis respektabel. Die Übertragung ins Kino kostet 1000 Euro pro Stunde. Sie haben sich gelohnt. Da die Konzerte der Berliner Philharmoniker gewöhnlich ausverkauft sind, können weitere Interessenten sie auf diese Weise erleben. Und so teuer wie in der Philharmonie sind die Plätze im übrigen auch nicht (hier 23 bis 25, dort 25 bis 78 Euro). Das erste Konzert zählte 250 Besucher. Zimmermann bleibt mit Cinestar im Gespräch, um die Konzerte in mehreren Kinos in Deutschland live anbieten zu können.
Noch größere Chancen sieht Zimmermann für Übertragungen in japanische und nordamerikanische Kinos angesichts der Beliebtheit der Berliner Philharmoniker und allgemein der deutschen Sinfonieorchester in diesen Ländern. Matineekonzerte kommen durch den Zeitunterschied in Japan am Abend an, Abendkonzerte in New York um die Mittagsstunden. Die höchsten Besucherzahlen registrierte die DCH bisher jedenfalls in Japan und in den USA. Seit ihrem Start hat sie 400.000 Einzelbesucher verzeichnet, 23.000 Besucher haben sich als Nutzer registriert, 14.000 Tickets wurden verkauft sowie mehr als 2.000 Abonnements pro Saison. Ein Anfangserfolg, aber noch lange nicht die 5 000 bis 7 000 Abonnements, die Zimmermann als notwendig berechnet hat, damit das Projekt sich selbst trägt. Ob und wann dies Ziel erreicht wird, wird sich zeigen. Ab März wird der Service kundenfreundlicher gestaltet: Die Abos werden nicht mehr nur für die Spielzeit, sondern ab Kaufdatum für 12 Monate abgeschlossen.
Bleibt zu sagen, wem die Musikwelt die Wohltat der Digital Concert Hall verdankt. Es ist die Deutsche Bank mit Josef Ackermann an der Spitze, die zusätzlich zu den alljährlichen vier Millionen Sponsoringgeldern eine Anschubfinanzierung im einstelligen Millionenbereich bereitstellte, wie Michael Müller vom Kulturbereich der Bank verriet, und das zunächst für drei Jahre mit der Option der Verlängerung bis 2016.
Das klingt gut, es ist aber kein Kunststück, den Profit aus der Senkung der Körperschaftssteuer von 40 auf 15 Prozent und aus anderen Steuergeschenken der Regierungen Schröder und Merkel in Gönnerpose an die Künstler zu verteilen. Freilich nicht an alle, sondern an Spitzenensembles, mit denen man sich in aller Welt schmücken kann. Ruft man die Digital Concert Hall auf, wandert mit dem Symbol der Berliner Philharmoniker das Logo der Deutschen Bank um den Globus. Die Deutsche Bank bringt die schönsten Klänge in den letzten Winkel der Welt. Der Staat aber nimmt weniger Steuern ein und drosselt die Kulturförderung. Keine Frage, wer Lob und wer Tadel einheimst.
Zum Schluß noch der Hinweis: am Samstag, dem 20. Februar um 20 Uhr geben die Berliner Philharmoniker ein Benefizkonzert zugunsten von UNICEF zur Soforthilfe für die Kinder in Haiti. Auch der Erlös der synchron laufenden Digital Concert Hall geht an UNICEF. Dirigent ist Sir SimonRattle. Mitsuko Uchida spielt das Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur von Ludwig van Beethoven. Ferner auf dem Programm: San Francisco Polyphony von György Ligeti und die Symphonie Nr. 2 D-Dur von Jean Sibelius. Das Konzert in der Philharmonie ist bereits ausverkauft. Wer noch helfen will, kann es durch den Kauf eines Tickets der DCH tun.