Dabei sind die gesprochenen und gesungenen Texte, auch in der deutschen Übertitelung, inhaltlich leicht verständlich. Sehr viel schwerer zu begreifen sind die Zusammenhänge und Hintergründe. Vorschnelle Zuordnungen und Interpretationen führen in die Irre. „Ein Hörspiel der Träume“ hat Peter Sellars seine Inszenierung genannt, und wirklich vermittelt diese Komposition aus Sprache, Gesang, Musik und Licht das Erleben eines Traums.
Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat Shakespeares Desdemona zum Reden gebracht. Othellos passives Opfer erweist sich als starke Frau. Nach ihrem Tod erzählt sie von ihrem Leben und erklärt, weshalb sie sich widerstandslos und schweigend von ihrem Ehemann ermorden ließ.
Das Stück ist sehr viel mehr als eine Geisterbeschwörung. Schauplatz ist eine Welt, in der nicht mehr gestorben wird und aus der Konflikte nicht hinausgeschafft werden können. Probleme aus dem früheren Leben begleiten die Verstorbenen so lange, bis sie gelöst sind, und die Zeit für die Lösung ist unbegrenzt.
Desdemona begegnet ihrer afrikanischen Kinderfrau Barbary, die der venezianischen Senatorentochter Lieder aus Afrika vorgesungen hat. Barbary ist an gebrochenem Herzen gestorben, und Desdemona hat sich gefragt, ob der Verrat eines Liebhabers schwerer wiege als der Verrat an sich selbst. Aber auch Desdemona stirbt an gebrochenem Herzen.
Tina Benko bringt den poetischen Text von Toni Morrison zum Klingen und lässt Desdemona lebendig werden, eine selbstbewusste junge Frau, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge zur Wehr setzt und sich, gegen den Willen ihres Vaters, für den Mann entscheidet, den sie liebt.
Auch Othello spricht durch Tina Benko mit tiefer, gurgelnder Stimme mit fremdem Akzent.
Während sie spricht, verändert Tina Benko ganz leicht ihre Körperhaltung und ihre Bewegungen, und die schlanke, blonde Schauspielerin lässt den kräftigen, dunkelhäutigen Feldherrn sichtbar werden.
Auch in die um ihre Kinder trauernden Mütter von Desdemona und Othello verwandelt sich Tina Benko mit ganz sparsamen Mitteln, wobei die Ähnlichkeit der Mütter mit ihren Kindern in den Stimmen deutlich wird, die Benko ihnen verleiht.
Der Europäerin, die das Herz auf der Zunge trägt, steht die geheimnisvolle Afrikanerin gegenüber. Die in Mali geborene Sängerin, Komponistin und Gitarristin Rokia Traoré drückt in ihren Liedern aus, was mit Worten allein nicht gesagt werden kann. Musik und Gesang interpretieren die von Tina Benko gestalteten Texte, führen sie weiter aus und machen sie anschaulich.
Rokia Traoré strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Sie spielt Gitarre und singt mit einer wunderbaren, variationsreichen, ausdrucksstarken, lyrischen Stimme. Begleitet wird Rokia Traoré von den Sängerinnen Fatim Kouyaté, Bintou Soumbounou und Kadiatou Sangaré, die nicht einfach background singers sind, sondern jede eine unverwechselbare Persönlichkeit mit beeindruckender Stimme.
Die Musiker Mamah Diabaté und Mamadyba Camara spielen die traditionellen afrikanischen Instrumente N’goni und Kora. Trommeln, gemeinhin mit der Vorstellung von afrikanischer Musik verbunden, gibt es in dieser leisen, poetischen Performance nicht.
Alle Mitwirkenden sind weiß gekleidet und barfuß. Die Frauen tragen sehr schöne, bodenlange Abendkleider.
Tina Benko wechselt zwischen zahlreichen Mikrofonen und nimmt ab und zu eines der Gläser in die Hand, die auf der Bühne stehen. Es sind einfache Weckgläser und Flaschen, zarte, durchsichtige Gebilde, in denen das Licht der Glühbirnen schimmert, die in einigen der dickbauchigen Flaschen stecken und an Schnüren herunterhängen .Zudem wird die Szenerie immer wieder in farbiges Licht getaucht.
Es gibt keine Aktionen in diesem Stück, und dennoch geschieht sehr viel. In einer sehr intensiven Szene sitzen sich Rokia Traoré und Tina Benko gegenüber. Sie sind allein. Die drei anderen Sängerinnen und die beiden Musiker haben die Bühne verlassen, und es ist ganz still. Desdemona, voller Freude über das Wiedersehen mit ihrer Kinderfrau, erfährt, dass sie nicht einmal deren richtigen Namen kannte, der nicht Barbary ist, wie der Name der Europäer für das wilde Afrika, das unterworfen werden musste, sondern Sa’ran, ein Name, der Freude bedeutet.
Den Frauen gelingt das Verstehen durch Gespräche, sogar Desdemona und Emilia nähern sich einander, nachdem das Schweigen gebrochen ist, durch das Gewalt entsteht. Vor Desdemona und Othello jedoch liegt noch ein langer Weg. Othellos Männerwelt ist geprägt von Krieg, Brutalität und einer eingeschworenen Gemeinschaft, in der abscheuliche Verbrechen als Heldentaten gelten. Trotz der Nähe, die zwischen den beiden Liebenden entstanden ist, und obwohl Othello für Desdemona eine Welt erträumt hat mit lachenden Kindern und Kriegern, die ihre Waffen wegwerfen und tanzen, gibt es Othellos schrecklichen Irrtum, Desdemona habe in ihm nur den siegreichen Feldherrn geliebt.
Wie es draußen, im Diesseits, zugeht wird erkennbar, wenn Cassios Stimme über Band eingespielt wird. Sie klingt despotisch, aggressiv und hasserfüllt. Cassio äußert sich verächtlich über Desdemona, die erkennen muss, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hat.
Im Verlauf des Stücks wird deutlich, dass es hier weniger um ein besseres Leben nach dem Tod geht und mehr darum, eine kranke Welt – unsere Welt – zu heilen. Der Frieden, den wir so leidenschaftlich ersehnen, könne nicht kommen, weil wir ihn uns nicht vorstellen, sagt Tina Benko. Eine konkrete Vorstellung vermittelt auch Toni Morrisons Stück nicht. Sich auf diese Performance einzulassen bedeutet aber, ein kleines Stück auf dem Weg zum Frieden mitgenommen zu werden.
„Desdemona“, mit dem Text von Toni Morrison und der Musik von Rokia Traoré in der Inszenierung von Peter Sellars wurde am 15. Mai 2011 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt und war, als Deutschlandpremiere vom 10. – 12.11. im Rahmen der spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.