In der Folge sehe ich, wie der 17jährige Anton mit seinen Eltern in die Bretagne in den Urlaub fährt. Noch ehe die drei Urlauber an ihrem Ziel, einem abgelegenen Sommerhaus ankommen, hat Anton ein verstörendes Erlebnis auf der Männertoilette der im Urlaubsort gelegenen Tankstelle. Ein junger Mann wäscht sich nach dem Urinieren die Hände, baut sich neben Anton auf und fasst ihn einfach so an den Arsch. Natürlich kann Anton nicht glauben, was da gerade passiert ist. Er läuft dem Pograbscher hinterher und sieht, wie dieser in einem Citroen DS und mit einem mysteriösen Mädchen an seiner Seite davonrauscht.
„Boa, was für ein Einstieg!“, sage ich laut zu mir selbst, löffele meinen Milchreis und wundere mich über die etwas zu blass geratene GZSZ-Außendreh-Ästhetik.
Die Urlauber beziehen ihre Sommerresidenz mit Pool und Blick auf den Atlantik.
Gut, der Swimmingpool erinnert an den gleichnamigen Film von Francoir Ozon, aber das ist sicher keine Absicht. Anton jedenfalls gefällt es in der Bretagne. Er läuft am Strand hin und her, isst mit seinen Eltern zu Abend und betrachtet heimlich ein Foto und das ihn, seine Mutter und einen fremden Mann zeigt. Als es dunkel wird, geht Anton schlafen. Mitten in der Nacht wird er von einem Geräusch geweckt. Anton steht auf und stellt den tropfenden Wasserhahn ab. Plötzlich klingelt das Telefon. Niemand meldet sich. Anton legt auf und geht zurück ins Zimmer. Da bemerkt er, dass das Foto, welches ihn, seine Mutter und den fremden Mann zeigte, jetzt verunstaltet ist. Die Gesichter der beiden Erwachsenen sind ausradiert und nicht mehr zu sehen.
Ich wische mir mit dem Ärmel meiner Jacke den Mund ab, nehme meine Füße hoch und versuche zu Pupsen. Seit Tagen schon bin ich hartleibig. Nicht mal ein winziges Lüftchen schafft es aus meinem Darm zu entfliegen. Inzwischen lag all meine Hoffnung auf der der seit Wochenfang begonnen Milchreisdiät und den Unmengen an Fencheltee. Ich stehe auf, mache ein paar Kniebeugen, strecke meinen Arsch raus und sehe wieder zum Bildschirm.
Für Anton hat der neue Tag bereits begonnen. Er geht auf Entdeckungstour und schafft es bis in den Garten des Nachbarhauses. Hier trifft er völlig unerwartet den Pograbscher wieder. Der junge Mann heißt David, ist einen halben Kopf größer und sieht auch sonst sehr viel verwegener aus, als unser Protagonist. David nimmt Anton mit zur Tankstelle. Über ihr Toilettenerlebnis verlieren die beiden kein Wort, warum, bleibt ihr Geheimnis. Stattdessen zeigt David dem Neuen, wie man sich an der Tanke kostenlos Schnaps organisiert und wie malerisch die Bunkerlandschaft am Strand ausschaut. Dummerweise treffen die beiden Jungs hier auf eine Horde Einheimischer. Auch diese leiden offensichtlich unter akutem Hormonstau. Einer der Franzosen will Anton sogar an die Wäsche. David geht ohne zu zögern dazwischen und bricht dem Franzmann eiskalt das Handgelenk. Fast so, als wäre der unerschrockene Tyler Durden aus Finchers „Fight Club“. Doch auch das ist Anton egal. Finchers Film hat er offenbar auch noch nicht gesehen. Anton und David sind jetzt jedenfalls richtige Freunde. Sie ziehen sich in einen der Bunker zurück, trinken den geklauten Schnaps und unterhalten sich im Halbdunkel über Gott und die Welt.
„Warum hast du das getan?“, will Anton von seinem neuen Freund wissen und fragt: „Was haben sie gesagt?“
„Sie haben gesagt, du bist mein Freund und wir würden wie wild miteinander ficken. Und sie würden es gerne mal mit dir tun!“, antwortet David.
„Oha“, entfährt es mir und ich drücke vor Schreck auf die Pausentaste.
Schon wieder so ein deutscher Problemfilm, denke ich und ziehe mir die viel zu enge Sporthose runter. Sporthosen mit Gummizug, das ist der totale Hass! Kein Wunder das ich da kaum noch Luft bekomme. Dabei habe ich in den letzten drei Jahren faktisch nicht ein Kilo zugenommen. Also mal abgesehen von dem, das ich im Moment zu viel habe, weil ich seit fünf Tagen nicht mehr richtig Scheißen war.
Mein Mitbewohner betritt das Wohnzimmer. Der Mistkerl hat sich Schinkenspeck mit Spiegeleiern gemacht und isst jetzt auch noch vor meinen Augen Toastbrot mit Salami und einer doppelten Portion Crème Fraiche.
„Was schaust du denn da?“, will er wissen und stiert auf das Standbild mit den beiden Jungs im halbdunklen Bunker.
„Ein kleines Meisterwerk!“, gebe ich zur Antwort und drücke auf Wiedergabe.
David sieht aus dem Bunkerfenster und sagt: „Weißt du, ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Mensch ein kleines, dunkles Geheimnis hat, das er keiner Menschenseele in seinem ganzen Leben anvertrauen würde, niemals.“
„Und dein Geheimnis?“, fragt Anton.
„Ich habe meins. Und du hast deins. Und jetzt, grade in diesem Moment denkst du daran!“, antwortet David und fragt seinerseits: „Was ist es? Was ist mit dir?“
Der Trick mit dem Film klappt. Mein Mitbewohner atmet genervt aus und flüchtet sich mit seinem Essen in die Küche. Zwar ist er ebenso ein Filmfreund, wie ich, doch offensichtlich entspricht der holprig daherkommende Stoff nicht seinem Geschmack.
Auch Anton hat genug vom Fragespiel seines neuen Freundes. Er steht auf und haut ab. Das Nächste was man sieht ist, wie er mit seinen Eltern zu Abend isst.
„Wo warst du denn?“, fragt Antons Mutter.
Doch Anton antwortet nicht.
„Jetzt erzähl schon!“ bittet der Vater.
Anton isst und isst und schweigt. Wären die drei keine Urlauber, könnte man an dieser Stelle des Films glauben, es handelt sich um eine Hommage an Michael Hanekes „Bennys Video“. W. Fischer kennt sich in der Filmgeschichte ganz offensichtlich bestens aus.
Ich stehe auf und öffne die Balkontür. Vielleicht sollte ich doch wieder mit dem Rauchen am Vormittag anfangen? Anton und David rauchen zwar nicht aber früher hätten sie das sicher getan. Früher haben Filmhelden immer geraucht, zu jeder Tageszeit. Ich hole meinen Tabak aus der Küche, lege ihn neben die Fernbedienung und drücke auf die Wiedergabetaste.
Na gut schauen wir mal, was die Jungs noch alles so anstellen. Irgendwann muss ja auch mal dieses ominöse Mädchen wieder auftauchen oder spielt sie eine Taubstumme?
„Na bitte, da ist das Mädchen ja!“, stelle ich zufrieden fest.
Sie schwimmt im Pool des Nachbarhauses. David ist auch wieder dabei. Als Anton aus dem Gebüsch heraustritt, bekommt er vor ihr ein unfreundliches „Hau ab!“ an den Kopf geschmettert. Doch David scheint mit Anton noch etwas vor zu haben. Die drei Teens fahren zusammen in Davids Citroen über die Landstraße. Sie fahren schnell und stoßen beinahe mit dem Wagen von Antons Eltern zusammen. Anton scheint das alles wenig zu tangieren. Er ist dabei und das ist ihm offenbar das Wichtigste. Plötzlich wechselt der Look, als hätte der Kameramann auf CinemaScope umgebaut. Satte Farben, Tiefenschärfe ohne Ende und ein unglaublich breites Bild sind die Folge.
Die drei Teens steigen aus dem Wagen. David führt das Mädchen und seinen neuen Freund Anton in ein entlegenes Waldstück. Er beugt sich zu einem Busch herunter, pflückt ein paar Beeren und hält sie seinen Begleitern hin.
„Jetzt essen die schon wieder!“, entrüste ich mich, greife zu meinem Tabak und drehe mir eine Zigarette.
Blöd aber irgendwie habe auch ich große Schwierigkeiten mich auf den Film einzulassen. Irgendetwas sehe ich nicht, fast so, wie der Titel es vorweg nimmt. Dabei ist W. Fischers Film reich an Ideen, doch wie bekomme ich die alle zusammen? Oder liegt es daran, dass ich eines der vielen Zitate übersehen habe. Eines, das dem Film die entscheidende Wendung gibt?
Das Nikotin der Zigarette tut seinen Dienst. Der erste Furz ist wie ein kleiner Orgasmus. Ich schaffe es gerade so auf die Toilette, reiße mir die Shorts runter, hechte auf die Kloschüssel und ergebe mich dem Druck meines Darms.
Zurück im Wohnzimmer nehme ich entspannt das Presseheft zur Hand und lese darin, dass es sich bei dem hoch gelobten Meisterwerk eigentlich um einen Psychothriller handelt, weiter heißt es darin: „Das Spielfilmdebüt von W. Fischer ist mit Ludwig Trepte, Frederick Lau, Alice Dwyer und Bibiana Beglau herausragend besetzt. Fischer, der sich ins Genre des Mystery-Thrillers wagt, erzählt eine verstörende Geschichte, wobei die Einbeziehung der Landschaft, der französischen Atlantikküste, einen magischen Realismus entstehen lässt.“
Na gut, das mit dem Psycho-Thriller habe ich leider nicht so erkennen können. Dafür finde ich den Titel äußerst gut gewählt. Aber vielleicht sollte ich mir den Film einfach noch mal nachts ansehen. Nachts ist es ja bekanntlich dunkler als tagsüber, da gruselt man sich ganz bestimmt noch sehr viel mehr.
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Titel: „Was Du nicht siehst“
Land/Jahr: Deutschland 2009
Spielzeit: 89 Minuten in 35 mm/Digital
Regie und Buch: Wolfgang Fischer
Verleih: W-film Distribution
Kinostart: 07.07.2011