Vor 95 Jahren erhoben sich die Bauern Vietnams gegen die Kolonialherrschaft – Mit den Arbeitern bildeten sie Sowjets

Januar 1970. Junge Mädchen der 800 Quadratkilometer grossen Spezialzone Vinh Linh der DRV tragen Bombenteile weg. Bis zu diesem Zeitpunkt warfen die USA in vier Jahren 500 000 Tonnen Bomben über diesem Gebiet ab. Schiffsartillerie und weitreichende Feldgeschütze belegten Vinh Linh im gleichen Zeitraum mit 700 000 Granaten. © Foto: Irene Feldbauer

Berlin, BRD (Weltexpress). Am 12. September 1930 brach in zwei Provinzen Zentralvietnams ein Bauernaufstand aus, der die französische Kolonialherrschaft in ihren Grundfesten erschütterte. Arbeiter und Bauern bildeten Sowjets, die sich bis zum Frühjahr 1931 gegen die überlegene Militärmacht verteidigten.

Die verheerenden Folgen der 1929 ausbrechenden Weltwirtschaftskrise hatten, und das in noch schlimmerer Weise als in den „Mutterländern“, auch die kolonial unterdrückten Völker, darunter das mit der Ökonomie Frankreichs verbundene Vietnam erfasst. Zu dieser Zeit betrug das Jahreseinkomme der 220.000

Industrie- und Plantagenarbeiter und der über 9 Millionen feudalabhängiger Bauern nur sechs % dessen, was französische Arbeiter erhielten. Der Reisverbrauch betrug in Südvietnam pro Kopf mtl. etwa 8 Kilo Pady (4,6 Kilo ungeschälter Reis). Das waren pro Person täglich 153,3 Gramm. Der Reis war für Vietnamesen das, was für Europäer Brot und Kartoffeln zusammen sind. Die Kolonialmacht bürdete die Folgen der Krise vor allem den arbeitenden Menschen auf. Ein Drittel aller Arbeiter und ein Zehntel der Angestellten wurde entlassen. Die ohnehin kargen Arbeitslöhne sanken um 50 %, vielerorts bis zu 80 %, die der Angestellten zwischen 25 bis 50 %.1

Der französische Geograph und Indochina-Kenner Gouro hielt fest: „Hunger und Elend haben die tongkinesischen und annamitischen Bauern gezwungen, auf Insekten Jagd zu machen, die sie dann gierig verzehren. In Tongking fängt man Heuschrecken, Grillen, Eintagsfliegen, sammelt Raupen und Bambuswürmer und schreckt auch nicht davor zurück, die Puppen der Seidenraupe zu essen.2 Jedermann weiß, dass dort ständig Hungersnot herrscht“ Der grassierenden Hungersnot fielen über Einhunderttausend Vietnamesen zum Opfer.

Die Erhebung der Bauern

Am 12. September 1930 gipfelten die Proteste der Arbeiter und Bauern in mehreren Kreisstädten in den Provinzen Nghe An und Ha Tinh in Zentralvietnam für höhere Löhne, Steuererleichterungen, Pachtsenkungen, die Rückgabe von Gemeindeländern an die Bauern und die Verteilung von Reis an die Hungernden in Massendemonstrationen. Die Kolonialmacht setzte zur Niederschlagung Truppen ein und bombardierte die Versammlungsplätze von Flugzeugen aus. Über 510 Demonstranten fanden den Tod, mehr als 300 wurden verwundet, Tausende Häuser zerstört. Der „Hunger auf Reis“ trieb nunmehr, wie selbst das großbürgerliche „Echo annamite“ zugeben musste, die bis aufs äußerste erbitterten Bauern zum bewaffneten Aufstand gegen die Kolonialmacht und die Feudalherren. Die Bauern stürmten Gefängnisse und befreiten die Gefangenen, zündeten Kreis- und Gemeindeverwaltungen sowie andere öffentliche Einrichtungen an, verbrannten

Steuerunterlagen, Pfandbriefe und Schuldscheine. Unter dem Ansturm der Bauern flohen die Mandarine und Notabeln in die Provinzhauptstädte; der kolonial-feudale Machtapparat in den Landgemeinden zerfiel. Die französische „L´Opinion publique“ schrieb am 12. Dezember: „In den beiden Provinzen Zentralvietnams handelt es sich längst nicht mehr um einen einfachen Putsch oder Gewaltstreich, sondern um eine tatsächliche Revolution. Die Leute dort handeln derart umfassend, dass die beiden Provinzen die Sowjetmacht errichtet haben. Es scheint, dass unsere Macht dort nicht mehr existiert.“

Obwohl für einen erfolgreichen Verlauf der Erhebung, wie die gerade am 3. Februar gegründete Kommunistische Partei einschätzte, die Bedingungen nicht gegeben waren, stellte

sie sich, nachdem der Aufstand mit einer Massenbeteiligung spontan ausgebrochen war, an die Spitze der Bauern und gab deren Kampf einen organisierten und zielgerichteten Charakter. Unter Vorsitz Ho Chi Minhs trat im Oktober das Zentralkomitee zusammen und beschloss, die Leitung der Bewegung zu übernehmen und dazu das ZK-Mitglied Pho Nguyen Sac in das Aufstandsgebiet zu entsenden. Im ganzen Land organisierte die Partei eine Bewegung zur Unterstützung von Nghe Tinh, wie die beiden Provinzen zusammengefasst genannt wurden. Tausende Mitglieder und Funktionäre der Partei, Revolutionäre aus allen Provinzen Vietnams versuchten, nach Nghe Tinh zu gelangen, um am Aufstand teilzunehmen. 3

Die Bildung vietnamesischer Sowjets

In Nghe Tinh hatte sich der Aufstand im Oktober 1930 auf ein etwa 12.000 km² umfassendes Gebiet mit einer Bevölkerung von 1,5 Millionen Menschen ausgedehnt. In 12 von 20 Kreisen und 400 Gemeinden, das war etwa die Hälfte aller Gemeinden, übernahmen bis Ende 1930 die auf Initiative der KP gegründeten Bauernvereinigungen die Macht und bildeten vietnamesische Sowjets. In den übrigen Gemeinden übten Komitees der Bauernvereinigungen die Macht aus, ohne sich als Räte zu konstituieren. „Das gesamte Gebiet ist vom französischen Protektorat abgefallen“, schrieb die Kolonialrevue „L´Asie francaise“ in ihrer Novemberausgabe 1930. Auf Beschluss des Gebietskomitees der KP von Zentralvietnam gingen über 500 Arbeiter von Vinh, dem industriellen Zentrum des Aufstandsgebietes, in die aufständischen Gemeinden und unterstützten die Bauern beim Aufbau revolutionärer Machtorgane.

Die Sowjets bestanden in ihrer Mehrheit aus armen Bauern und Tagelöhnern. In geringer Zahl waren Mittelbauern und Angehörige der Intelligenz vertreten. Eine aktive Rolle spielten die Arbeiter von Vinh bei der Bildung der Räte, zu deren Mitgliedern viele gewählt wurden. Ihrem politischen Charakter nach waren die Räte eine revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern. Mit ihnen wurden wesentliche Grundlagen für das Bündnis der Arbeiter und Bauern in den weiteren Kämpfen, die 1945 zum Sieg der Augustrevolution führten, gelegt.

Die Sowjets von Nghe Tinh waren ein beredtes Beispiel, wie Ho Chi Minh diesen Machtorganen ein spezifisch vietnamesisches Gesicht gab. Zwar wurde das Beispiel der in der Oktoberrevolution geborenen sowjetischen Rätemacht aufgegriffen und inhaltlich politisch verwirklicht, aber die Bezeichnung „Xo Viet“ gewählt. „XO“ übersetzt man aus dem Vietnamesischen mit „Räte“. Mit der Hinzufügung „Viet“ entstand der Name „Vietnamesische Räte“.

Die Xo Viets verteilten das Gemeindeland, das Großgrundbesitzer und Feudalherren sich angeeignet hatten, an die Bauern, schränkten die Ausbeutungsmöglichkeiten der Großgrundbesitzer ein, verteilten aus deren Reserven Reis an die Hungernden und leiteten eine Reihe politischer und sozialökonomischer Reformen ein.

40 000 Mann Rote Garden

Unter dem Kommando eines Militärausschusses des Gebietskomitees der KPV entstanden Rote Garden, die nach vietnamesischer Einschätzung insgesamt etwa 30.000 Kämpfer zählten. Die Zeitung der FKP „L´Humanité“ schrieb am 7. September 1931 von 40.000 bewaffneten Aufständischen. Nachdem Versuche, die Provinzhauptstäte Nghe An und Ha Tinh und einige noch in französischer Hand befindliche mit überlegenen Kräften verteidigte Kreisstädte einzunehmen im Oktober infolge der unzureichender Waffen gescheitert waren, beschränkten sich die Sowjets auf die Verteidigung und versuchten , offenen militärischen Auseinandersetzungen auszuweichen, um unnötige Verluste zu vermeiden. Viele Vietnamesen in der Kolonialarmee sympathisierten mit den Aufständischen und in der Anfangsphase der Erhebung weigerten sie sich gegen die Volksmassen vorzugehen und eine Anzahl Soldaten trat auch auf ihre Seite über.

Die Roten Garden bildeten die Keime der 14 Jahre später geschaffenen Volksarmee, welche den Sieg der Augustrevolution gewährleistete. Zu den Kommandeuren der Roten Garden gehörten Vietnamesen, die die Militärakademie der Roten Armee in Moskau , sowie die militärische Lehranstalt Huang Pu bei Kanton, an der sowjetische Militärs Offiziere der Volksbefreiungsarmee als auch der Truppen Tschiang kai-schecks ausbildeten,4 absolviert hatten. Ho Chi Minh, der 1925/26 im südchinesischen Kanton mit vietnamesischen Revolutionären die Gründung einer kommunistischen Partei vorbereitete, hatte sie dorthin delegiert. Über acht Monate verteidigten die Roten Garden die Volksmacht gegen die Angriffe der Kolonialmacht, die ihre Truppen in Vietnam durch ein 100.000 Mann starkes Expeditionskorps aus Frankreich verstärken musste.

Ein wichtiger Faktor der langen Dauer des Widerstandes der Sowjets war neben dem Massencharakter der revolutionären Bewegung und der hohen Kampfkraft der KP die geschickte Nutzung der geographischen Bedingungen. Infolge des dichten Bewässerungssystems der Reisfelder führten Straßen und Wege in der gesamten Ebene über unzählige Brücken. Viele Dörfer waren lediglich über schmale Pfade zu erreichen, die nur zu Fuß oder mit kleinen Büffelkarren passiert werden konnten. Die Aufständischen zerstörten Brücken, blockierten die Wasserläufe und machten Fähren unbrauchbar, so dass die Kolonialtruppen keine Panzer und schweren Geschütze einsetzen und lange Zeit nicht in die Sowjetgebiete vorrücken konnten. Auch die wild zerklüfteten Bergregionen im Nordwesten boten ihnen ein schützendes Hinterland.

Zehntausende Opfer des Kolonialterrors

Ende Oktober 1930 eröffneten die Kolonialtruppn ihren Feldzug gegen die Sowjetgebiete, der sich bis zum Herbst 1931 hinzog. Über Nghe Tinh wurden der Ausnahmezustand und das Standrecht verhängt; um das Aufstandsgebiet ein Sperrgürtel von 122 Militärstützpunkten errichtet, von denen die stärksten eine Besatzung von 400 bis 500 Mann hatten. Die Kolonialsoldateska ging mit beispielloser Grausamkeit vor. Wer sich weigerte, die Mitglieder oder Anhänger der Sowjets zu denunzieren, öffentlich der Revolution abzuschwören und eine Treueerklärung zur Kolonialmacht und zur Monarchie abzugeben, wurde verhaftet und in der Regel sofort hingerichtet.

Wie die „Humanité“ am 27. März 1931 berichtete, fielen dem Mordterror Zehntausende Menschen zum Opfer. Dutzende Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, Tausende Häuser nieder gebrannt. Trotzdem dauerte es über acht Monate bis es den Kolonialtruppen gelang, den Widerstand zu brechen. In den einzelnen Gefechten wurden die Roten Garden oft von Tausenden Bauern unterstützt. Im August 1931 fanden sich noch etwa 50 Gemeinden in ihren Händen. Die letzten Gefechte fanden im Dezember 1931 statt. Die in Saigon weilenden Mitglieder des Zentralkomitee der KP waren bereits im April/Mai der Polizei in die Hände gefallen. Der erste Generalsekretär Tran Phu starb an den Folgen der grausamen Folterungen im April 1931. Ho Chi Minh, der nach China entkam, wurde in Vinh in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die britische Polizei verhaftete ihn in Hongkong, lieferte ihn aber nicht, wie die französische Sûreté verlangte, nach Vietnam aus. Später gelang ihm die Flucht und 1941 kehrte er nach Vietnam zurück und leitete die Gründung der Befreiungsfront Viet Minh.

Die Kämpfe um die Sowjetmacht in Nghe Tinh zeigten die revolutionäre Kraft der jungen KP und ihre Fähigkeit, den Kampf für die nationale und soziale Befreiung zu führen. Die vietnamesischen Kommunisten blieben auch in der Periode des Rückzugs der revolutionären Sache treu, zeigten einen beispiellosen Kampfgeist und revolutionäre Opferbereitschaft. Bis zur letzten Stunde der Sowjets standen sie mit der Waffe in der Hand an der Spitze des Kampfes. Die meisten von ihnen besiegelten ihre Treue zur Revolution mit dem Tode. Unter den Toten befand sich auch der Führer der Sowjetbewegung, das Mitglied des ZK, Pho Nguyen Sac, der am 3. Mai 1931 verhaftet worden war.

Die Sowjets 1930/31 bewiesen, dass die Arbeiterklasse und ihre kommunistische Partei die Führung des Befreiungskampfes übernommen hatten. Das war ein zu dieser Zeit in Südostasien einmaliger Vorgang. Ho Ch Minh schätzte die revolutionäre Massenbewegung und die Sowjets als Vorspiel der siegreichen Augustrevolution 1945 ein.

Quellen:

* Die historische Bedeutung der vietnamesischen Sowjets (1930–1931) für den erfolgreichen Verlauf des nationalen Befreiungskampfes des vietnamesischen Volkes unter Führung der Partei der Arbeiterklasse“. Dissertation des Autors zur Promotion zum Dr. rer. pol. am Institut für Internationale Beziehungen (IIB) der DDR, Potsdam Babelsberg, 1971,

* Die Sowjets von Nghe Tinh, Hanoi 1960 (Vietn.),

* Tran Huy Lieu: Les Soviets du Nghe Tinh de 1930-1931, Hanoi 1960,

* Ho Chi Min: Der revolutionäre Weg, „Nhan Dan“, 3. Jan. 1970,

* Die revolutionäre Massenbewegung in den Jahren 1930/31 und die Sowjets von Nghe Tinh, „Nhan Dan“, 12. Sept. 1970,

G. Feldbauer: Die nationale Befreiungsrevolution Vietnams. Zum Entstehen ihrer wesentlichen Bedingungen von 1925 bis 1945, Pahl Rugenstein Nachf, Bonn 2007,

Irene und Gerhard Feldbauer: Sieg in Saigon, Erinnerungen an Vietnam, Pahl Rugenstein Nachf, zweite Aufl., Bonn 2006.

1 G. Feldbauer: Die sozialökonomische und Klassenstruktur vor der Augustrevolution in Vietnam, Zeitschrift „Asien – Afrika – Lateinamerika“ der DDR, Heft 5/1980.

2 In Jean Chesneaux: Geschichte Vietnams, Berlin/DDR 1963, S.183.

3 G. Feldbauer: Die Sowjets 1930/31 in Vietnam. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (der DDR), Heft 11/1974.

4 Die Lehranstalt wurde von der KP Chinas und der Guo Min Dang während der Periode der Einheitsfront gemeinsam unterhalten.

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