Vor 36 Jahren stürzte das Politbüro der SED seinen Generalsekretär Erich Honecker – In der Partei begann eine regelrechte Selbstzerfleischung

Erich Honecker, offizielles Porträt (1976) Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R1220-401, unbekannter Autor, CC-BY-SA 3.0

Berlin, BRD (Weltexpress). Am 17./18.Oktober 1989 zwangen im Politbüro der SED Mitglieder mit Ministerpräsident Willi Stoph an der Spitze ihren langjährigen Generalsekretär Erich Honecker, dessen Politik sie widerspruchslos mitgemacht hatten, zum Rücktritt. Damit begann in der Partei, die Gregor Gysi mit anderen in eine reformistische Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) umzuwandeln begann,1 ein regelrechter Selbstzerfleischungsprozess, der im Ausschluss führender Vertreter der SED, vor allem, aber nicht nur, Mitgliedern des Politbüros, gipfelte.

Bei diesem an den Pranger stellen der bisherigen Parteiführung musste man sich nicht wundern, dass die dem Sozialismus feindlich gegenüber stehenden Oppositionellen das aufgriffen und ihre wütenden und oft hasserfüllten Angriffe neben dem MfS vor allem auf Honecker und das Politbüro konzentrierten. Es war beschämend, dass Regierungschef Hans Modrow (vom November 1989 bis April 1990) sich nicht traute, seinem langjährigen Partei- und Staatschef, nachdem diesem seine Wohnung in Wandlitz gekündigt worden war, vor der Verfolgung in einer gesicherten Unterkunft unterzubringen. Der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel vermittelte, dass ihn der Pfarrer Uwe Holmer und seine Frau im Pfarrhaus in Lobetal aufnahmen. Modrows Regierungskurs, der flankiert wurde durch die „Reform“-Politik der PDS unter Gysi, wirkte sich auch auf die Justizbehörden aus. Die Staatsanwaltschaft reihte sich mit der Verhaftung Honeckers in die Kampagne zur Ausschaltung der Partei ein. 2

Sicher, mit der Parteiführung lag vieles im Argen und Korrekturen waren dringend erforderlich. Man hätte sich in dieser Situation aber dabei an Friedrich Engels erinnern sollen, der einst davor gewarnt hatte, in Situationen der scharfen Klassenauseinandersetzung über den einzuschlagenden Weg nicht zu sehr zurückzuschauen, sondern sich nach vorwärts zu orientieren. 3 Aber Rat bei den Klassikern zu suchen war den Protagonisten dieser „Wende“ mit Gregor Gysi an der Spitze, die ihr Heil auf den ausgetretenen Pfaden der Sozialdemokratie suchten, fremd.

Honecker wurde am 1. Dezember 1989 aus der SED ausgeschlossen. Im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wurde er beschuldigt, seine Funktion als Generalsekretär, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates „zum Vermögensvorteil für sich und andere missbraucht zu haben“. Später noch wegen des „Schießbefehl“ an der „innerdeutschen Grenze“. Nach einer Krebs-Operation (Nierentumor) wurde er am 28. Januar 1990 in seinem Krankenzimmer der Charité festgenommen, am nächsten Tag in das Haftkrankenhaus des Gefängnisses Berlin-Rummelsburg eingeliefert, einen Tag später wegen Haftunfähigkeit entlassen.

Am 13. März 1991 brachte ihn ein sowjetische Militärflugzeug nach Moskau. Die russische Regierung unter Boris Jelzin kündigte jedoch an, ihn an die BRD auszuliefern. Daraufhin floh er mit seiner Frau am 11. Dezember 1991 in die chilenische Botschaft. Da sich Chile auch anschickte, ihn an die BRD auszuliefern, verließen die Honeckers am 29. Juli 1992 die chilenische Botschaft. Honecker wurde nach Berlin ausgeflogen und bei seiner Ankunft verhaftet und in die Justizvollzugsanstalt Moabit eingeliefert. Margot Honecker flog mit einer Aeroflot-Maschine nach Santiago de Chile, wo sie bei ihrer Tochter Sonja unterkam und bis zu ihrem Tod am 6. Mai 2016 lebte.

Der Prozess gegen Honecker war umstritten, weil die BRD-Justiz einen Politiker anklagte, den sie noch 1987 in Bonn, München und anderen Städten mit allen protokollarischen Ehren empfangen hatte. Honeckers Rede am 3. Dezember 1992 vor dem Tribunal erregte international großes Aufsehen. Er übernahm die politische Verantwortung für „die Toten an Mauer“, wies aber jede „ juristische oder moralische Schuld“ zurück, rechtfertigte den Bau „der Mauer“, da anders ein „dritter Weltkrieg mit Millionen Toten“ nicht zu verhindern gewesen sei, und diese Maßnahme die Zustimmung der sozialistischen Führungen sämtlicher Ostblockstaaten erhalten hatte. Unter Berufung auf die fortgeschrittene schwere Krebserkrankung wurde das Verfahren letztendlich auf Forderung seiner Anwälte am 13. Januar 1993 eingestellt und der Haftbefehl aufgehoben. Honecker flog darauf nach Santiago de Chile zu seiner Frau und seiner Tochter. Am 29. Mai 1994 erlag er seiner schweren Krebserkrankung.

Anmerkungen:

1 Siehe den Beitrag Wegbereiter der „Einheit“ – Wie Gregor Gysi sein Scherflein dazu beitrug von Gerhard Feldbauer im WELTEXPRESS.

2 Im Dezember leitete die Staatsanwaltschaft gegen 30 ehemalige DDR-Spitzenfunktionäre Ermittlungen ein, unter ihnen Honecker und zehn Mitglieder des Politbüros. Die meisten davon kamen in Untersuchungshaft. Sie wurden persönlicher Bereicherung und Vergeudung von Volksvermögen beschuldigt.

3 „Wir sind noch weit davon entfernt, einen offenen Kampf führen zu können“, hatte er am 31. Januar 1991 an Paul Lafargue geschrieben und die Pflicht betont, „keine Niederlage zu erleiden, sondern, wenn der Augenblick gekommen ist, in der ersten großen Schlacht zu siegen. Dieser Überlegung ordne ich jede andere unter“. MEW, Bd. 38, Berlin/DDR 1968, S. 20.

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1 Kommentar

  1. Danke, lieber Gerhard, für die klare, klassenbewußte Darlegung des geschichtlichen Geschehens ’89/90 im Zuge der europäischen Konterrevolution, die im Grunde immer permanent, gleich einem Raubtier vor dem Sprung, existiert hat. Ideologisch war ihr Beginn schon lange vorher begünstigt, vor allem durch Unterschätzung, die auch mit Eigenliebelei bei Funktionsträgern – frei nach dem Motto: wir sind die Größten bei einer gewissen Entfremdung hin zu opportunistischen Allüren. Ich denke dabei u.a. an die europäische Konferenz (KSZE) mit ihrem Korb 3. Hier ist Online im Duden Klasse 5 auch folgendes zu finden: „Pflege menschlicher Kontakte zwischen den Staaten und freien Informationszugang (Korb III). Besonders Korb III hatte starken Einfluss auf die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegungen in den Ostblockstaaten. Die KSZE-Schlussakte trug nicht unwesentlich zu den demokratischen Revolutionen in Osteuropa und in der DDR Ende der 1980er-Jahre bei.“ Und nicht unerwähnt sei das Ideologiepapier mit der SPD von 1987. Das war gemäß dem „Wandel durch Annäherung“ von einem Egon Bahr mit Willy Brandt sprichwörtlich negativ erfolgreich – forciert durch Gorbatschow auf dem Antistalinismusfundament eines Chrustschow vom 20.Parteitag der KPdSU 1956. Leichtgläubige Friedfertigkeit mit Unterschätzung des ideologischen Klassenkampfes in den europäischen sozialistischen Staaten waren direkt eine Einladung für eben diese Wende zur imperialistischen Restauration. Erich Honecker, der leider dabei taktisch durch Vernachlässigung ideologischer Prämissen in der Praxis nicht unbeteiligt 1971, auch mit dem Verlassen der konsequenten Haltung von Walter Ulbricht, in seinen großen europäischen wie weltweiten Friedensbemühungen war, bekam als eines der ersten Opfer, diese Konterrevolution leibhaftig zu spüren. In Lateinamerika erfuhr er eine Rehabilitation für sein staatsmännisches Wirken als Internationalist mit seinem solidarisch sozialen Bemühen. Das drückte sich aus in dem 2008 posthum an ihn verliehenen Orden des nicaraguanischen Präsidenten in die Hände Margot Honeckers, mit der ich seitdem bis Februar 2016 vor ihrem Tode am 6. Mai 2016 in E-Mail-Kontakt stand. Am 19. Juli 2008 sandte ich ihr erstmals die von mir folgend verfaßten Zeilen und fand fortan Kraft und Mut durch Margots Erwiderungen aus Santiago de Chile:

    „Meine und sicher auch im Namen sehr vieler Bürger des einstigen Arbeiter-und-Bauern-Staates DDR herzliche Gratulation gilt Ihnen, liebe Frau Margot Honecker, zur Entgegennahme des postum für Ihren Mann verliehenen Ordens »Rubén Diario« aus den Händen Daniel Ortegas mit den nachstehend von mir dafür verfaßten Verszeilen:

    Ein Licht zu sehn, das uns erhellt

    Ich will und kann es nicht vergessen,
    Was ich einst lernte unbeschwert
    Und selber sah und hab besessen.
    Ich habe meinen Staat verehrt.

    Ach, hätt’ ich ihm nur mehr gegeben,
    Fühl mich noch heut in seiner Schuld.
    Fast vierzig Jahre war mein Leben –
    Mitunter auch voll Ungeduld.

    Da ward ein kostbar Gut verschenkt:
    Ein ganzer Staat, mein eignes Ich.
    Und dieses ist seither versenkt…
    In Mammonsümpfen – widerlich !

    Erinnerung kennt nicht Verzicht,
    Kann auch darin nicht untergeh’n
    Genährt von dem Vergleich und Pflicht,
    Im Heute hier sich umzuseh’n.

    Wo menschliche Gefühle wachsen,
    Wo sich erinnert wird zivil,
    Sind diese nicht mit Geld zu taxen,
    Erlebt der Sinn ein Hochgefühl

    Von solidarischem Verlangen
    In Renaissance vom Ich zum Wir,
    Politisch wieder anzufangen
    Das Einmaleins im Heute – hier.

    So ist ein Orden Würdigung,
    Noch mehr wohl ein Geschichtsvergleich,
    Auch Hinweis zur Beseitigung
    Der alten Dummheit – arm und reich.

    Ein Orden, der mir Kraft verleiht
    Für diese eine, eine Welt.
    Es gibt doch stets Gelegenheit
    Ein Licht zu sehn, das uns erhellt.

    E.Rasmus“