Aber die andere Assoziation des Vollen, des Gedrängten, des keinen Millimeter Platz Lassenden, das was man Horror Vacui nennt, das stimmt für alle ausgestellten Werke und ist und bleibt sozusagen ein Kennzeichen dieser Kunst von Menschen, die von den Normalen als anormale bezeichnet werden, gesellschaftlich ausgegrenzt und abgeschoben, die noch im Mittelalter als Narren wie Heilige angesehen wurden, und noch lange den Status der besonderen Gottesnähe hatten, extrem in Rußland, im 19. Jahrhundert dann aus der Gesellschaft entfernt und kaserniert wurden und heute mitleidsvoller in sozialen Einrichtungen sogar künstlerische Förderung erhalten, wie Birgit Ziegert, 1966 als Down-Baby in Frankfurt geboren und im Atelier Goldstein zu Hause, wo sie mit anderen behinderten Künstlern in den Künsten unterrichtet wird. Sie arbeitet in Acryl und Tusche auf Leinwand oder Wänden, die sich ihr bieten, wie die Treppenwände in der Schirn.
Wenn wir gleich berührt von dem Geschauten berichten, so wollen wir nicht verhehlen, daß wir an mancher Begrifflichkeit und an Ausstellungstatsachen Kritik vorzubringen haben, eben auch in dem, was wir vermissen. Zuerst aber das Gute. Empfängt einen in der Courbetausstellung ein tiefes lebenslustiges Rot als Grundton für die Gemälde, so ist es hier ein dunkles Blau, fast ein wenig preußisch, auf dem dann allerdings die fast seriellen „Roten Frauen“ von Magde Gill aus London (1882 – 1961) um so stärker farbig, erst einmal ansprechend, und dann als Alptraum wirken. Das ist ein ganz langes Bild, dessen Maße leider nicht angegeben sind, das aber wie ein langer Fries wirkt, nur aus Papier und mit den puppenhaften Gesichtern und Figuren von Frauen des Moulin Rouge gezeichnet, wobei dies genauso gut die Belle Epoque wie die Halbwelt sein kann und zudem sehr an Jugendstilplakate erinnert. Hier stellt sich schon beim ersten Bild der Eindruck des Horror Vacui da, der einen nicht mehr verläßt. Weder bei den vielen Bildern mit Frauenköpfen und Gestalten, die noch von Magde Gill – ein Kunstname – folgen, noch bei den anderen. Eher ist es so, daß dieser Eindruck des Zugesperrten, Überfüllten, Ausgemalten und für die Angst keinen Platz lassend zunimmt.
Denn bei aller Wertschätzung, die heute der Kunst der Geisteskranken zukommt, wie einer der Väter, die deren Werke zur Kunst erklärten, Hans Prinzhorn aus Heidelberg, sie nannte, zeigen auch die Arbeiten in der Schirn auf, daß es vielfach Teufelchen sind, gegen die angemalt oder skulptiert wird. Denn alles, was sich aufs Papier bannen läßt, wird für den Schöpfer dessen auch beherrschbar. Und je mehr man von der äußeren Welt in die geschaffenen Werke aufnehmen kann, desto lichter wird potentiell die übrige Welt. Das ist eine allgemeine und deshalb nicht falsche These für die Menschen, die an den Rändern unserer wohlfeilen Welt leben, und die früher weggesperrt und eingekerkert wurden, seit dem 19. Jahrhundert dann in den Psychiatrien und Umerziehungsstätten landeten, bis seit circa 1920 eine Bewegung auftaucht, in diesen Menschen und in ihren Werken das Vorbewußte, das Unbewußte, das Verdrängte zu erkennen, das diese sozusagen stellvertretend für die ganze Gesellschaft künstlerisch formulieren.
Und damit sind wir beim kritischen Punkt, die diese Ausstellung für uns bedeutet. Sicher sind wir in der Zielsetzung, daß es sich um Kunst handelt, nicht uneins. Aber das führt nicht weit. Uns scheint diese verdienstvolle Ausstellung einfach zu sehr US-UK-und dann auch noch männerlastig zu sein, ohne die Stätten wie Gugging in Klosterneuburg bei Wien, repräsentiert durch Leo Navratil, oder die vor der Haustür liegende Prinzhornsammlung ausreichend zu berücksichtigen, die der gleichnamige Arzt zu sammeln anfing, und woraus ein Museum entstand, das heute Thomas Röske leitet und in dem im letzten Jahr eine so sensationelle Ausstellung wie „Surrealismus und Wahnsinn“ lief, wo die Zusammenhänge von Geisteskrankheit und Surrealismus nicht nur auf der Hand lagen, sondern in einer Zeichnung/Aquarell von August Natterer, die Max Ernst schlicht für seinen „Ödipus“ benutzt hat, was man ja plagiieren, kopieren oder anverwandeln nennt, offensichtlich wurden.
Uns werden einfach diese Zusammenhänge von Wahn und Wahnwelten in der Kunst in dieser Ausstellung ignoriert, genauso wie die Prinzhornsammlung oder die musealen Arbeiten in Gugging, das ein lebendiges Museum ist, hierhergehörten. Wie man die Menschen, die anders als die Norm sind, nennen kann, ohne sie zu diskriminieren, finden wir auch wichtig. Weltenwandler als Titel gefällt uns gut, aber es ist noch kein Konzept und „Outsider“ zu sagen, ist so ungefähr der platteste Anglizismus, den man sich vorstellen kann. Warum dann nicht Außenseiter. Aber es ist einfach so, daß sich die Kuratorin im anglo-amerikanischen Raum stärker umgetan hat. Dort kommen faszinierende und sehr umfängliche Werkgruppen her: Emery Lagdon (1907-1986), Henry Darger (1892-1973), erwähnte Magde Gill und Judith Scott und George Widener, geb. 1962., die für uns völlig neu und hochspannend sind. Fortsetzung folgt.
* * *
Ausstellung: bis 9. Januar 2011
Katalog: Weltenwandler. Die Kunst der Outsider, hrsg. von Martina Weinhart und Max Hollein, Verlag HatjeCantz 2010
Wie ernsthaft diese Ausstellung vorbereitet wurde, entnimmt man auch dem Katalog, der diese nicht oft und manchmal noch nie gezeigten Werke bewahrt, damit man auch nach dem Ausstellungsende am 9. Januar das Verstörende nachschauen kann. Alle vierzehn gezeigten Schöpfer und Schöpferinnen werden in eigenen Kapiteln gewürdigt, wobei nicht Bilderklärungen geboten werden, sondern in einem Essay auf das Leben und Werk desjenigen eingegangen und dieses zu erklären versucht wird. Am Schluß findet man dann die Lebensdaten der einzelnen und was biographisch wichtig ist.
Internet: www.schirn.de