Was macht der Sohn? Der kennt ja die Behinderung seines Vaters als etwas Normales und zeigt belustig auf das, was auch ansonsten bei Aktdarstellungen das Wichtige ist, die Geschlechtsorgane, seien sie Genitalien, Penis, Glied oder wie hier Pimmel genannt. Ein normaler Mann also, dieser Regisseur, dessen gezeigtes Glied auf seine Zeugungsfähigkeit verweist, dessen lebendiges Produkt danebenstehend wiederum spielerisch und wie ein kleiner Faun grinsend mit dem ausgestreckten Finger auf seinen Ursprung weist. In diesem Sinne ist dieses geniale Foto eine konkrete männliche Replik auf Courbets „Der Ursprung der Welt“, wo der weibliche Schoß ein für alle Mal generalisierend und hinreißend gemalt ist.
Vom Titelbild mit der schönen Kim Morton sprachen wir schon. Das hängt übrigens inzwischen in London in der National Portrait Gallery, einem wunderbaren Museum, eine nationale Einrichtung, die in Deutschland einfach fehlt. Kim wirkt im Film derart positiv, daß wir uns auf ihre Geschichte von Seite 40 bis 43 als erstes stürzten. Ihr ist es mit ihrem Hungerstreik zu verdanken, daß die britischen Conterganopfer eine lebenslange, sehr hohe finanzielle Entschädigung erhalten, die bei den deutschen Contergangeschädigten noch aussteht, obwohl die Verursacher- und Eigentümerfamilie Wirtz steinreich ist.
Wie wird man ein so glücklicher Mensch, ist eine der Fragen, die sich Zuschauer und Leser bei Kim fragen? Liebe ist die Antwort. Sie war die jüngste von sieben Kindern, wurde von der Familie einerseits behütet, andererseits muß man sich bei so vielen Geschwistern lautstark Gehör verschaffen. Wurde sie darum Sängerin? Erfolgreich dazu. Mit 17 Jahren Liebesheirat und dennoch mit drei Söhnen dann Scheidung. Heute ist sie Bürgermeisterin ihrer Gemeinde. Und hat eine umwerfende Ausstrahlung von Glück, aber auch den Hauch von Melancholie, der das Leben und Frauen erst wirklich schön machen.
Auch Mat Fraser ( Seiten 20-23) läßt einen fragen, ob die englische Gesellschaft lockerer und integrativer mit Behinderung umgehen kann als wir in Deutschland. Denn einen solchen intelligenten, selbstbewußten und witzigen Mann gibt es in Deutschland schon ohne Behinderung kaum. Wahrscheinlich wächst man in Großbritannien tatsächlich permissiver auf. Die auf Konformität und Konservativismus ausgerichtete angelsächsische Gesellschaft läßt gleichzeitig ihr Gegenteil zu: Originalität, Skurrilität, Anderssein. Mat Fraser auf jeden Fall trägt dick, aber glaubwürdig auf. Besser als der Regisseur könnten wir das nicht formulieren: „Während einige der Fotomodels unsicher und zögerlich sind, kann es Mat kaum erwarten, mich mit seinen Genitalien und politischen Ansichten zu konfrontieren. Ständig fordert er mich heraus und diskutiert mit mir. Und er macht kein Geheimnis daraus, daß er vor der Fotosession selbst Hand an sich gelegt hat, um für die Kamera alles so groß wie möglich aussehen zu lassen.“(S. 20) Ein echter Sartyr, dieser Mat, und ein begabter Schauspieler dazu!
Wenn wir jetzt nicht über die einzelnen Akte und Porträts weiterschreiben, hat das mit der Artikellänge zu tun. Auch die anderen neun Contis erzählen über ihre Aktfotos ihre eigenen Geschichten auf sinnliche Weise. Die Prinzessin aus Tausendundeine Nacht Petra Uttenweiler aus Stuttgart, der fast unheimlich sympathische Fred Dove, heute England, die Dressurreiterin Bianca Vogel, blitzgescheit und alles durchschauend, der Baumschulist Hans Theo Zavelberg, der altgriechischen Mythen und einem Gemälde von Böcklin entsprungen scheint, nur daß die Bocksbeine fehlen, Sofia Plich, der es wenigstens für Sekunden gelingt, die Schwerkraft zu überwinden, was ihr Porträt festhält, Andreas Meyer, dem sein Intellekt über das Bodenlose weghilft und der mit dem Totenschädel ein Renaissanceporträt geschaffen hat, das alles sprengt.
Doris Pakendorf spielt im Film eine absolute Hauptrolle. Sie hat ihre Füße zu ihren Händen gemacht und wenn sie sich ein Glas Wein mit den Zehen zum Munde führt, dann dünkt einem, man habe noch niemals einen Menschen so elegant Wein trinken sehen. Sigrid Kwella schließlich „ist eine lesbische, leidenschaftliche Tango-Argentino-Tänzerin, und sie gibt ihre Leidenschaft an andere Frauen mit Behinderung weiter.“ (S. 16). Ihr Bild ist ein Sekundentraum von der farbigen Leichtigkeit des Seins. Stefan Fricke ist heute Astrophysiker. Als Kind hielt er sich für einen Löwen, nur Kopf und behaarter Leib, kaum Arme und Beine. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen. Auf dem Fotoporträt schaut einem ein friedvoller Buddha entgegen.
P.S. Was kann ein Normalbürger gegenüber dieser Firma und der Eigentümerfamilie Wirtz tun, war meine erste Frage an mich selber nach der Filmvorführung. Ihre Produkte nicht kaufen, ist die einzige Form der ’Bestrafung’, die mir möglich scheint. Also herausfinden, welche Produkte ihr gehören und in welchen Firmen diese Familie Wirtz ihre Finger hat und verdient und diese Artikel nicht mehr kaufen.
Das gilt ab sofort für 4711, Sir Irish Moos, Tabac Original, Gin Tonic Fragrances, Nonchalance, Otto Kern, Betty Barclay, S. Oliver, 4711 ICE, Pussy Deluxe Tosca, TNT, Carlo Collucci. Was Sie stattdessen kaufen sollten, ist das Buch!
Film: Start: 11 September 2008, jetzt am 10. August 2010 um 22.45 Uhr in der ARD
Regie: Nico von Glasow
Mit: Stefan Fricke, Sofia Plich, Bianca Vogel, Sigrid Kwella, Kim Morton, Fred Dove, Mat Fraser, Andreas Meyer, Doris Pakendorf, Petra Uttenweiler, Theo Zavelberg, Nico von Glasow, Mandel von Glasow
Buch: Nico von Glasow Ania Dabrowska, NoBody’s Perfect, Elisabeth Sandmann Verlag, 2008
Kalender: DIN A3 mit 12 Hochglanzfotos; Bestellung ab sofort unter info@palladiofilm.