David Marton, 1975 in Budapest geboren, von der Zeitschrift Deutsche Bühne zum Opernregisseur des Jahres 2009 gewählt, begeisterte im letzten Jahr in der Schaubühne mit seiner Inszenierung „Die Heimkehr des Odysseus“ nach Claudio Monteverdi mit Texten von Homer, Giacomo Badoaro, Péter Esterházy in einer Fassung des Ensembles .Das Stück ist weiterhin im Repertoire der Schaubühne.
In seiner neuen Arbeit hat Marton Johann Sebastian Bachs berühmtes Klavierwerk „Das wohltemperierte Klavier“ mit Auszügen aus dem Roman „Melacholie des Widerstands“ von László Krasznahorkai kombiniert.
Die Verbindung ergibt sich durch eine der Romanfiguren, den Musikschuldirektor Györge Eszter, der die Temperierung von Musikinstrumenten auf einmal als einen ungeheuerlichen Betrug empfindet, deshalb den Saiten seines Flügels die reine Stimmung verleiht, daraufhin jedoch nicht die erhofften Wohlklänge, sondern nur noch abscheuliche Töne zu produzieren vermag.
Für Eszter, über den im Roman zu lesen ist, er sei ein „lebendiges Beispiel dafür, dass jemand an den eigenen Zwangsvorstellungen zerbrechen kann“, ist nicht nur die musikalische sondern jede vermeintliche Ordnung ein unheilvoller Wirrwarr. Dadurch, dass Eszters Proteste sich in Martons Inszenierung auf die wohltemperierte Stimmung konzentrieren und somit in Bezug zu Bachs Titel gebendem Werk stehen, erscheint Györge Eszter als Zentralfigur des Stücks.
Dadurch gerät die Geschichte in Schieflage, denn in Krasznahorkais Roman geht es um die BewohnerInnen einer kleinen Stadt in Südostungarn, die alle das Chaos in sich tragen und die verheerenden Unruhen, die über sie hereinbrechen, durch Verantwortungslosigkeit und Bequemlichkeit fördern, wenn sie nicht gar, wie die Aufsteigerin Frau Eszter, die Unruhen zu lenken und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen verstehen.
Das Stück beginnt mit dem Anfang des Romans. Bettina Stucky als Frau Pflaum kehrt von einer kleinen Reise zurück und berichtet von ihren beängstigenden Erlebnissen während der Zugfahrt. Im Verlauf der Erzählung wird der Text auch von anderen Mitwirkenden übernommen. Franz Hartwig als bedrohlicher Mann im Stoffmantel taucht auf, und Frau Eszter macht einen Besuch bei Frau Pflaum, um diese zur Mitwirkung bei der von Frau Eszter initiierten Aktion „Sauberkeit in Haus und Hof“ zu bewegen.
Offensichtlich ist Bettina Stucky zu jung für die Rolle der Frau Pflaum, und die zierliche Jule Böwe entspricht ganz und gar nicht den physischen Ausmaßen der Frau Eszter. Es gelingt den beiden Schauspielerinnen jedoch, sowohl die 58jährige verklemmte Spießerin Frau Pflaum als auch das gewalttätige Riesenweib Frau Eszter den spiralig verschlungenen Sätzen von Krasznarhorkai, ins Deutsche übersetzt von Hans Skiezki, entsteigen zu lassen.
In der Textpassage zu Beginn werden die Beziehungen der wesentlichen Personen des Romans zueinander deutlich. Auch János Valuska, der geistig zurückgebliebene Sohn von Frau Pflaum aus ihrer ersten Ehe sowie der korrupte Polizeipräsident, Liebhaber der Frau Eszter, wird vorgestellt.
Die im weiteren Verlauf des Stücks eingestreuten Romanzitate tragen weder zum Verständnis der Handlung und ihrer Hintergründe bei, noch bieten sie den DarstellerInnen Gestaltungsmöglichkeiten.
Während David Martons Inszenierung „Die Heimkehr des Odysseus“ sich durch eine Fülle von brillanten Regieeinfällen auszeichnet, ist dem Regisseur bei seiner aktuellen Inszenierung wenig eingefallen.
Ernst Stötzner als Eszter macht sich an den Saiten seines Flügels zu schaffen und verkriecht sich immer wieder in einem Bett im Hintergrund. Der Sänger und Performer Thorbjörn Björnsson als Valuska hält sich häufig schweigend in Eszters Nähe auf, darf einmal, ganz unvermittelt, eine Sonnenfinsternis demonstrieren und muss lange herumstehen, bis er schließlich ein Solo singen darf.
Alissa Kolbusch hat ein sehenswertes Bühnenbild geschaffen, das aus mehreren nostalgisch möblierten Räumen besteht, wobei die hinteren Räume durch eine Stufe erhöht sind. Das Mobiliar ist liebevoll gepflegt, repräsentiert gediegenes Bildungsbürgertum, zeigt durch Abnutzungserscheinungen aber auch den unübersehbaren Verfall. Hier leben sämtliche agierenden Personen in einer Atmosphäre von Enge und Behaglichkeit.
Jule Böwe macht immer wieder Werbung für Frau Eszters Sauberkeitsaktion, erzwingt als diktatorische Dirigentin den absoluten Gehorsam des singenden Ensembles und versichert sich durch aufreizende Annäherungen der Ergebenheit des Polizeipräsidenten. Der musste sich im Rollstuhl präsentieren, denn Niels Bormann hatte sich am Tag vor der Premiere den Fuß gebrochen. Der Befehlshaber der ordnenden Kräfte in seiner schnieken weißen Uniform mit Goldborten erweist sich als gewissenloser Zyniker, bei dem die Leidenschaft für Frau Eszter Vorrang vor dem Gemeinwohl hat.
Sämtliche Mitwirkenden bewegen sich ohne erkennbares Ziel durch die Räume. Frau Pflaum lässt sich am Rand der Szene in stummem Spiel mit der Violinistin Nurit Stark von dieser mittels Handlesen, Glaskugel, Pendel und Karten die Zukunft voraussagen, von der Frau Pflaum nur noch wenig erleben darf. Sie tauscht ihr spießiges graues Kleidchen mit Pelzbesatz gegen ein festliches moosgrünes Samtgewand und streckt sich zur letzten Ruhe auf einer Liege aus. Der Mann im Stoffmantel, der ihr wie ein Vampir mit blutverschmiertem Mund beständig gefolgt ist, kniet neben ihr und zeichnet ein rotes Rinnsal auf die Innenseite von Frau Pflaums Schenkel. Die Vergewaltigung, der Frau Pflaum bei ihrer Zugfahrt entkommen konnte, wird ihr vor ihrer Ermordung schließlich doch noch angetan.
Langweilig sind die größtenteils unverständlichen Vorgänge auf der Bühne nicht, denn alle DarstellerInnen agieren mit äußerster Konzentration, warten gespannt auf die musikalischen Einsätze, die dem Stück Glanz verleihen.
Während Herrn Eszters Flügel im Vordergrund beinlos auf dem Boden liegt, sitzt der Pianist.
Jan Czajkowski, der auch die musikalische Leitung inne hat, an einem zweiten Flügel auf der Stufe im Hintergrund. Gelegentlich gesellt sich Czajkowski in anscheinend beratender Funktion zu Herrn Eszter, einmal zieht er sich er sich in ein Bett zurück, aber meistens sitzt er an seinem Flügel, spielt nicht nur brillant Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier, sondern nimmt sie auch auseinander und horcht in Gedanken versunken einzelnen Passagen nach. Begleitet wird er von dem phänomenalen Jazztrompeter Paul Brody und der grandiosen Geigerin Nurit Stark.
Nicht nur Bach ist in dieser Inszenierung zu hören. Nurit Stark geigt Béla Bartók in anbetungswürdiger Vollendung, und die Sängerin Jelena Kuljic singt Jazz mit faszinierend rauchiger Stimme.
Kostümbildnerin Sarah Schittek hat Jelena Kuljic und Paul Brody mit eleganter Show-Garderobe ausgestattet und sie somit, auch optisch, als special guests aus der im übrigen bieder gekleideten Gesellschaft herausgehoben.
Die SchauspielerInnen sind durch Mitsingen auf lala oder tata am musikalischen Geschehen beteiligt. Dieses klangvolle, innig vorgetragene Singen in Verbindung mit dem bedeutunsvoll mysteriösen Darstellungsstil lässt den Verdacht aufkommen, in eine Inszenierung von Christoph Marthaler hineingeraten zu sein.
„Das wohltemperierte Klavier. Musiktheater nach Johann Sebastian Bach und László Krasznahorkai“ Regie: David Marton, eine Koproduktion mit der MC93 Bobigny, hatte, nach der Premiere in Paris am 27.01. 2012, Berliner Premiere in der Schaubühne am Lehniner Platz am 18.02.2012. Weitere Vorstellungen: 16., 17. und 18. März.
Die Inszenierung „Die Heimkehr des Odysseus“ von David Marton ist in der Schaubühne wieder am 15.03. zu erleben.