Was aber schwebte ihm stattdessen vor? „Lyrische Szenen“ sollten es sein. „Ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.“ Nicht also die übliche musikalische Illustration einer vorgegebenen Handlungsebene, sondern das einfühlsame Vordringen in die seelischen Tiefenschichten seiner handelnden Personen. Als Vorbild stets die Vorlage von Alexander Puschkin vor Augen, dem dieses Kunststück literarisch in seinem Versroman gleichen Namens in bislang unübertroffener Weise gelungen war.
Folgt aus dieser vom Komponisten bestätigten Handlungslosigkeit des Librettos nicht zugleich die Kapitulationserklärung für jede Bühneninszenierung? Denn wie lassen sich Langeweile und beredtes Schweigen in eine packende Bühnenhandlung umsetzen? Eine Herausforderung grundsätzlicher Art für Dietrich W. Hilsdorf und sein Kölner Team. Noch dadurch verstärkt, dass wegen mehrjähriger Renovierungsarbeiten am Kölner Opernhaus die Spielstätte vorübergehend unter das Zeltdach des „Theaters am Dom“ verlegt wurde.
Hilsdorfs Ausgangspunkt, soviel wird deutlich, ist die vielfach zitierte Erkenntnis Theodor W. Adornos, wonach es „kein richtiges Leben im falschen“ gebe. Der vom Libretto vorgegebene Handlungsrahmen in der Einsamkeit eines Landgutes irgendwo in der russischen Provinz wäre demnach die Ursache für die psychischen Abgründe, die sich hier in gewohnter russischer Manier auftun. Zum Beispiel als Ort der belastenden Vergangenheit, wie sie in den schmerzhaften Erinnerungen über verquere menschliche Beziehungen eruptiv aus der verwitweten Gutsbesitzerin Larina (Dalia Schaechter) herausbricht.
Oder als emotionale Projektionsfläche für ihre Tochter Tatjana (Olesya Golovneva), die die Romanliteratur ihrer Zeit verschlingt, um daraus Anregungen zu gewinnen für die sie umtreibenden jugendlichen Wünsche und Sehnsüchte. Immer wieder führt sie die innere Unruhe zu einen der Fenstersimse, um aus der Enge des Raumes heraus auf Zehenspitzen einen Blick zu erhaschen von der Außenwelt. Doch stets zerschlägt sich die von außen erwartete Hoffnung auf Erlösung. Anders Tatjanas lebenslustige Schwester Olga (Adriana Bastidas Gamboa). Offener in ihrem Wesen zögert sie nicht, die sich ihr bietenden Gelegenheiten zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Schon bald kommt es zur Explosion der Gefühle, als mit Olgas Verlobtem Lenskij (Matthias Klink) dessen Freund Eugen Onegin (Andrej Bondarenko) unvermittelt auf den Plan tritt. Als weltmännischer Dandy, von der Inszenierung vorgestellt als ein Musterexemplar des damals wohlbekannten Typus eines „überflüssigen Menschen“. Als ein aristokratischer Müßiggänger mit ausgeprägtem Überlegenheitsgefühl, der sich in seinem starken Selbstbewusstsein ohne zu zögern über die gesellschaftlichen Konventionen hinwegsetzt.
Als er das Wohnzimmer des Landgutes provokativ durch ein offenes Fenster betritt, setzt er bei Tatjana alle jene Projektionen frei, die nach ihrem beharrlichen Eintauchen in die Romanwelt jener Zeit bis zum Bersten in ihr aufgestaut sind. Entsprechend innig gestaltet sich die Briefszene, in der bei Kerzenschein zu nächtlicher Stunde ihre Gefühle ungebremst aus ihr heraussprudeln. Als ein jähes Umschlagen von einstiger introvertierter Zurückhaltung in leidenschaftlichen Mut, mit dessen Hilfe sie sich erstmals in ihrem Leben einem Geliebten gegenüber offen anvertraut.
Eine Gefühlsbetontheit, die die Regie noch dadurch steigert, dass die Schreiberin allein ihrem Liebesbrief zugewandt ist und – mit dem Rücken zum Publikum gewandt – alles Andere um sich herum zu vergessen scheint. Um damit noch die Fallhöhe zu vergrößern gegenüber der wenig einfühlsamen Reaktion Onegins? Denn dieser greift bei seiner barschen und belehrenden Zurückweisung des Liebesgeständnisses ebenfalls zu einer Symbolhandlung. Bedenkenlos tritt er die zwischen zwei aufgeschlagenen Roman-Liebesszenen aufgestellte Kerze mit seiner Schuhsole aus und steigert die damit verbundene Kränkung Tatjanas ins Unermessliche.
In der Tat eine verpatzte Liebe, derer Onegin sich erst nach Jahren sinnlosen Umherschweifens wieder bewusst wird, als der Zufall beide im Haus des Fürsten Gremin (Robert Holl) wieder zusammenführt. In Erinnerung an ihre damalige Begegnung winden sie sich in ausdrucksstarken Bewegungen herum um die unliebsame Erkenntnis, dass es nun vorbei und zu spät für sie sei. Tatjana bekennt sich standhaft zu ihrem Jawort, das sie als treue Ehefrau dem Fürsten Gremin einst gab. Und misstraut nicht ohne Grund den von Eugen Onegin leidenschaftlich vorgetragenen Liebesschwüren.
Der mit einer Urgewalt der Verzweiflung hereinbrechende abrupte Abbruch der „Lyrischen Szenen“ macht deutlich, wie sehr Tschaikowskys Rechnung aufgeht, sich auf die handelnden Personen zu konzentrieren und deren Wesen musikpsychologisch auszudeuten. Zwischen Tatjanas Briefszene, in der sich vom Orchestergraben aus ihr Innerstes nach außen kehrt und Onegins verzweifeltem Eingeständnis eines verpfuschten Lebens spannen sich musikalische Welten.
So gelingt es Tschaikowsky in den auf seine unterschiedlichen Individuen zugeschnittenen „Intonationen“ die von ihm hoch geschätzte Puschkin-Vorlage in ihrer Wirkung noch zu überhöhen. Hilsdorf greift in seiner Inszenierung diese Impulse auf, um sie, selbst dort wo es fast keine Handlung gibt, bis ins Detail hinein in spannende Handlungsstränge zu überführen. Als meisterhaftes Kabinettstück beispielsweise erweist sich die Warteszene vor dem Duell zwischen Lenskij und Onegin, die als beredtes Schweigen Bände spricht (Luke Stoker als Sekundant Saretzkij, Rolf Schorn als betrunkener Guillot und Anna Maria Dur als Njanja).
Feinfühlig weiß das Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Marc Piollet die unterschiedlichen Stimmungslagen auszuloten und musikalisch in dramaturgischen Kommentar umzusetzen. Dies gelingt bereits in der schlichten Einleitung, der nichts Protziges anhaftet, sondern die Zuhörer in Augenhöhe auf den Kontakt mit den Darstellern einstimmt. Auch der Chor der Oper Köln (Andrew Ollivant) fügt sich hervorragend ein in das Klangbild und hat zudem mehrfach Raum füllende darstellerische Leistungen zu bewältigen.
Insgesamt profitiert die Akustik im Zuschauerraum auch vom Bühnenbild (Dieter Richter), das trotz wechselnder Räumlichkeiten durchgehend aus Holz gefertigt ist. Hervorragend eingepasst in diesen Rahmen sind die Kostüme (Renate Schmitzer), Licht (Andreas Grüter) und auch die Choreographie (Athol Farmer), in der sich die Bühnenpräsenz von Solisten, Chor und Statisterie glaubwürdig entfalten kann.
Insgesamt ist dies eine außergewöhnlich ausgereifte Produktion, die ausstrahlt in den ausverkauften Zuschauerraum des „Theaters am Dom“. Entsprechend lässt das Publikum bei der ersten Premiere dieser neuen Spielzeit seiner Begeisterung mit lang anhaltendem Beifall freien Lauf.
Weitere Aufführungen: 23.10., 25.10., 27.10., 30.10., 1.11., 3.11.2013