Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die szenischen Lesungen beim Stückemarkt sind der geheimnisvollste und vielleicht auch spannendste Teil des Theatertreffens. Während die Inszenierungen der 10er Auswahl bereits anderswo gesehen und in den Medien ausführlich besprochen wurden, gibt es zu den dramatischen Texten des Stückemarkts lediglich knappe Einführungen.
Die Präsentation erfolgt schmucklos. Regie wird hier nur Einrichtung genannt, und so fehlt der Zeigefinger, der dem Publikum die Denkrichtung vorgibt. Die ZuhörerInnen nehmen an der Entdeckung noch unfertiger Produkte teil und können sich selbst eine Inszenierung ausmalen. Das erfordert Fantasie und ist ein bisschen altmodisch wie Bücher lesen oder Konzerte im Radio hören.
Zeitweilig gab es keine szenischen Lesungen beim Theatertreffen mit dem Argument, es gäbe zu viele Festivals mit zu vielen neuen Stücken, die alsbald wieder in der Versenkung verschwänden. Letzteres könnte auch an den RegisseurInnen liegen, die sich um neue Stücke nicht reißen, da sie ihnen weniger Handlungsfreiheit erlauben und somit auch weniger Chancen auf Lorbeeren eröffnen als die Klassiker.
Der diesjährige Stückemarkt mit dem Motto „Geteilte Welt“, wobei es um Ungleichheiten auf globaler Ebene und neue Ideen des Teilens ging, bot u.a. szenische Lesungen von neuen Stücken zweier AutorInnen, die sich bereits einen Namen gemacht haben: Maya Arad Yasur, in Israel geborene Autorin und Dramaturgin, schrieb das Stück „Gott wartet an der Haltestelle“ zum Thema Terrorismus, das in Tel Aviv uraufgeführt wurde. Die deutschsprachige Erstaufführung fand am Volkstheater Wien statt, und auch am Staatsschauspiel Dresden war das Drama zu erleben.
Zum Stückemarkt hatte Maya Arad Yasur einen dramatischen Text mit dem Titel „Amsterdam“ eingereicht, der bei der Veranstaltung von drei SchauspielerInnen in englischer Sprache gelesen wurde. Zunächst wirkte der Verzicht auf jede Andeutung von Darstellung befremdlich, aber die Sprache des Stücks ist so lebendig, voller Poesie und Musikalität, dass mit den Worten in aller Deutlichkeit Bilder transportiert werden, Gerüche und Geräusche.
Die ZuhörerInnen werden in die Stadt Amsterdam versetzt, sehen die Häuser und Grachten, und begegnen einer schwangeren israelischen Geigerin, die vor ihrer Tür eine Gasrechnung aus dem Jahr 1944 findet, innerhalb von 24 Stunden dem Geheimnis dieser Rechnung auf die Spur kommt und dabei befremdliche und erschreckende Erfahrungen mit Vergangenheit und Gegenwart macht.
Drei Stimmen erzählen die Geschichte, spekulieren, widersprechen einander, tragen Informationen zusammen und nähern sich in immer enger werdenden Kreisen der Wahrheit hinter dem absurden Vorfall. Wie in einem Traum schieben sich die Zeiten ineinander, die Gegenwart mit ihrem Rassismus und ihrer Frauenfeindlichkeit, in der die Israelin lebt und die Zeit der niederländischen Widerstandskämpferin, die nach Auschwitz deportiert wurde.
Sivan Ben Yishai, Alexander Radenkovic und Lise Risom Olsen interpretieren den Text sehr einfühlsam, haben auch den hintergründigen Humor und die feinen Pointen herausgearbeitet.
Angeklagt wird nicht in diesem Stück. Zum Ausdruck kommt ein befremdetes Erstaunen über Ungeheuerlichkeiten damals wie heute.
Zum Abschluss des Stückemarkts wurde Maya Arad Yasur von der Jury zur Preisträgerin des diesjährigen Werkauftrags gewählt mit dem, neben dem Preisgeld die Uraufführung eines neuen Stücks am Schauspiel Köln verbunden ist.
Leon Engler hat Theaterwissenschaft studiert und bereits mehrere Stücke mit einer eigenen Truppe in Wien realisiert. Sein Stück „Die Benennung der Tiere“ ist eine schwarze Komödie, in der die gnadenlose Selbstsucht von Menschen unterschiedlicher Klassen thematisiert wird. Ein Wursttester ist auf extrafeiner Leberwurst ausgerutscht und ins Gleisbett einer U-Bahn gefallen. Dabei hat er sich verletzt, kann nicht aufstehen, fürchtet von einer Bahn überfahren zu werden und ruft um Hilfe.
Eine Passantin eilt herbei, kann den schweren Mann jedoch nicht hochziehen und ruft den Notdienst an. Der Dienst habende Angestellte lässt sich über die genauen Umstände des Unfalls und die Person des Verunglückten informieren, und weil der sich selbst als Wildsau bezeichnet, kommen der Angestellte und die Frau zu dem Ergebnis, das im Gleisbett liegende Wesen müsse ein Tier sein, und weil das Land und die ganze Welt gerade den Bach runtergehen, muss es sich um einen Wal handeln, der, wie in der biblischen Geschichte von Jonas, Menschen zu ihrem Heil verschlucken kann.
Zu diesen Personen aus dem Volk gesellen sich ein schwerreicher Mann, ein arabischer König und eine berühmte Bloggerin aus der Modebranche, die von den Männern umgirrt wird bis die Frau aus dem Volk ihr die Maske abreißt, hinter der sich Elfriede Jelinek verbirgt, der, in ihrer wahren Gestalt, die Anwesenheit anderer Menschen sofort unerträglich wird.
Über die Rettung des Verunglückten wird noch gesprochen, wichtig ist sie aber nur für die Frau und den Angestellten, für die der Wal die einzige Möglichkeit bedeutet, sich selbst vor dem drohenden Weltuntergang zu retten. Die reichen Männer, denen sich Elfriede Jelinek nach kurzem Widerstreben anschließt, können sich auf dem Mars in Sicherheit bringen. Den Armen bleiben nur die Versprechungen der Religion. Bei dem Versuch, die eingelöst zu bekommen, bringen sie den verunglückten Wursttester versehentlich um.
Das Stück ist voll gestopft mit skurrilen Einfällen und absurden Gags, bietet reichlich Gelegenheit zum Lachen und ist dabei so entlarvend und böse, dass eine nachhaltige Wirkung nicht ausbleibt.
Elfriede Jelinek, ohne die kaum ein Theaterfestival auskommen kann, war auch in der 10er Auswahl vertreten. Eingeladen war die Uraufführung ihres neuen Stücks „Am Königsweg“ vom Hamburger Schauspielhaus in einer Inszenierung von Falk Richter. Hauptfigur des Stücks das, wie bei Jelinek üblich, eine Textfläche ist oder auch ein sich in viele Richtungen windender Monolog, ist Donald Trump.
Der Name des derzeit amtierenden amerikanischen Präsidenten wird nicht genannt, im Stück ist er der König, aber Jelinek hat ein erschreckend treffendes Porträt des mächtigsten Manns der Welt geschaffen. Benny Claessens lässt ihn auf der Bühne lebendig werden als Inkarnation eines neureichen Proleten, berauscht von seiner Macht, ein infantiler Choleriker, der seine Launen auslebt, sich selbst grenzenlos bewundert, von keinem Zweifel angekränkelt, eine Witzfigur, kläglich und doch eine unberechenbare Gefahr für die ganze Welt.
Wie es dazu kommen konnte, dass so ein Mann so ein Amt bekommen hat fragt Elfriede Jelinek, und sie fragt auch, was sie und andere Intellektuelle unterlassen haben, um das zu verhindern. Sie mäandert durch die Geschichte und bringt aus der Bibel Isaak ins Spiel, der bereit war, seinen Sohn zu opfern und immer wieder Ödipus, der sich die Augen ausstach, nachdem er von den Verbrechen erfuhr, die er ohne sein Wissen begangen hatte.
Auch über den König im Stück verlautet einmal, er wolle sich die Augen ausstechen, aus Überdruss, nicht etwa aus Erschrecken über sein Tun, aber selbstverständlich geschieht das dann nicht.
Ilse Ritter verkörpert Elfriede Jelinek sehr damenhaft und klug. Zu Beginn tritt sie als blinde Seherin auf, im zweiten Teil nimmt sie nicht wirklich Abschied, spricht aber über ihr Alter und das sich unaufhaltsam nähernde Ende ihres Daseins.
Falk Richter hat Jelinek ernst genommen, und es ist ihm mit seinem hervorragenden Team gelungen, der Textfläche Leben abzuringen und dreieinhalb Stunden opulentes Unterhaltungstheater zu bieten, in dem die verschlungenen Botschaften der Nobelpreisträgerin dennoch ihren gebührenden Platz finden.
Es geht ja nicht nur um Trump, sondern um die Geschichte der Menschheit mit ihren Gewaltherrschaften und um unsere Gegenwart, die vom Rechtspopulismus gezeichnet ist, nachdem die Menschen doch gerade erst klüger, toleranter und humaner zu werden schienen.
Auf der Rückwand der Bühne flackern Bilder vom Krieg, von Verletzten und Sterbenden, und von den Machthabern aus Vergangenheit und Gegenwart in Siegerposen, begleitet von stampfender Beat-Musik.
Währenddessen entsteht auf der Bühne ein pompöses königliches Spielzimmer mit weißen Säulen und riesigen Plüschtieren. Der König erscheint mit einer goldenen Krone aus Papier in prunkvoller Kinderkleidung, behängt mit schweren Goldketten, eingehüllt in einen Hermelinmantel.
Im Verlauf des Stücks wechseln die Bühnenbilder von Katrin Hoffmann. In Windeseile entstehen Kriegsschauplätze, Konferenzräume oder ein zugemüllter Campingplatz mit Lagerfeuer im Wald. Oben in der Rückwand öffnet sich ein Fenster, das Einblick in Elfriede Jelineks Elfenbeinturm bietet, einen friedlichen Raum mit vielen Büchern, der später zerschlagen wird.
Hinter einem weiteren Fenster erscheint Kermit, und auch anderes Personal aus der Sesamstraße ist vertreten. Miss Piggy ist mit zwei Maschinengewehren bewaffnet, und Waldorf und Statler sitzen in ihrer Loge ohne einen Kommentar abzugeben.
Aufwändig wie die Bühnenbilder sind auch die Kostüme von Andy Besuch, sehr edel und elegant, und sogar die blutverschmierten, zerrissenen Kleider von Kriegsverletzten erscheinen wie kunstvolle Designerstücke.
Blinde SeherInnen mit blutenden Augen versammeln sich immer wieder und zeigen sich ratlos. Julia Wieninger und Anne Müller tragen mehrfach sehr theoretische und kaum verständliche Textpassagen vor und verstummen dann achselzuckend.
Verständlich, pointiert und provozierend dagegen präsentiert sich Idil Baydar mit eigenen Texten, Ihre Kunstfigur, die Deutschtürkin Jilet Ayse, gibt den Deutschen Entwicklungshilfe und erklärt ihnen, dass sie den Rassismus ja schon bei Kant und Hegel gelernt haben. Obwohl eigentlich ein Fremdkörper im Stück, ist Idil Baydar mit ihren Comedy-Szenen hervorragend in die Inszenierung eingebaut, die aus einer Unzahl von Details besteht, die dennoch ein zusammenhängendes Ganzes ergeben.
Es sind die SchauspielerInnen, die diesen Abend zusammenhalten. Sie sind spürbar ein Team, neben den Genannten auch Matti Krause, Tilman Strauß und der grazile Tänzer Frank Willens. Jeder Auftritt gehört erkennbar zu einer Choreografie, die alle miteinander verbindet.
Benny Claessens wurde für seine Leistung in dieser Inszenierung vom diesjährigen Juror Fabian Hinrichs mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet.