Grundsätzlich jedoch ist eine Verfassungsreform unumstritten, so sagen auch Gegner von Erdogan und seiner Regierung, dass türkische Bürger künftig das Recht haben sollen, sich direkt an das Verfassungsgericht zu wenden. Durch diese Änderung sieht der türkische Außenminister die Möglichkeit, dass sich die Zahl der Klagen gegen die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verringern könnte.
Ein Grundrecht auf das Kopftuch
Warum also wird eine „schleichende Islamisierung“ befürchtet? Kemalisten sehen in scheinbar harmlosen Veränderungen Probleme. Beispielsweise soll das Tragen des Kopftuches künftig ein „Grundrecht“ sein, so dass Studentinnen oder Bedienstete im öffentlichen Dienst nicht mehr gezwungen sein werden, das Kopftuch abzulegen. Sie werden dann ihr Recht auf die Kopfbedeckung zumindest einklagen können. Eine weitere vermeintliche Nebensache könnte sein, dass Offiziere vom Hohen Militärrat nicht mehr so leicht ausgemustert werden können, wenn ihnen unterstellt wird, sie seien Islamisten. So fürchten die Anhänger Atatürks, Kemalisten genannt, dass das Militär künftig von Islamisten unterwandert werden könnte.
Für viele Kritiker des Referendums scheint festzustehen, dass auf absehbare Zeit vor allem die AKP von den Änderungen am meisten profitieren wird. Die angestrebte starke Rolle des Präsidenten bei der Ernennung der Verfassungsrichter sei vor allem unter dem Aspekt zu sehen, dass Erdogan selbst vor hat, das höchste Staatsamt zu übernehmen. Die Direktwahl des Staatspräsidenten wurde bereits eingeführt.
CHP noch immer kläglich
In der Referendumskampagne spielte die sozialdemokratische Opposition mit ihrem neuen Chef Kemal Kilicdaroglu wieder einmal keine besonders aufklärende Rolle. Nach einem entschiedenen „Nein“, das von großen Anti-Referendums-Plakaten brüllte, wurde keine Erklärung über das „Warum“ geliefert. Die CHP verlor während dieser Kampagne zum Teil prominente Mitglieder, die sich diesem trotzigen Nein nicht anschließen wollten. Sie sehen die Vorschläge der AKP als einen Schritt zur Demokratisierung des Landes und wollen mit „Ja“ stimmen.
AKP-Politiker sehen bei den Reformgegnern „antidemokratische“ oder gar „faschistische“ Tendenzen, mit denen sie Änderungen der Verfassung verhindern wollen. Diese Verfassung wurde nach dem Militärputsch von 1980 beschlossen und gilt bis heute, allerdings mit einigen Ergänzungen. So ist es wohl auch kein Zufall, dass die Regierung das Referendum auf den 30. Jahrestag des Putsches, den 12. September gelegt hat.
„Eine Ja-Stimme gibt der Demokratie mehr Macht und bereitet der Wirtschaft einen großen Schritt nach vorn“, sagt Erdogan.