Die verschiedenen Autoren, insbesondere der aus Afghanistan stammende Politikwissenschaftler Matin Baraki, zeigen auf, dass die gewaltsame Ersetzung des reaktionären Taleban-Regimes durch ein formal von Präsident Karsai geführtes westliches Protektoratsregime weder Demokratie, Frauenbefreiung noch gar auch nur den Beginn einer wirtschaftlichen Entwicklung im Interesse der Mehrheit des afghanischen Volkes mit sich gebracht haben. Daran ändert auch nichts die empörte Reaktion des Teils des politischen Establishments in Deutschland, er seine Schafe mittels Menschenrechtsgetue einseift und an die Urnen treibt, auf den Tabubruch durch den damaligen Bundespräsidenten Köhler. Dieser hatte bekanntlich –wohlbemerkt im positiven Sinn – öffentlich ausgesprochen, dass (auch) in Afghanistan wirtschaftliche und geopolitische Interessen des Westens und damit der BRD mit allen gebotenen Mitteln verteidigt und durchgesetzt werden sollen. Dass diese Mittel auch verfassungs- und völkerrechtswidrig sind, wird thematisiert. Etwasin den Hintergrund tritt leider die Tatsache, dass sie auch kaum anders sein können. Die neokolonialistische Basis der Krieges und der Besetzung Afghanistans und ihre Rolle als Muster für zukünftige Expeditionen rund um den Erdball wird von mehreren Autoren anhand eindeutiger Zitate aus höchstoffiziellen Dokumenten von NATO und anderen imperialistischen Organisationen und Papieren verschiedener mit den herrschenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräften engstens verflochtener Think Tanks belegt. Diese machen auch deutlich, dass die bisherige militärische Strategie und die ihr untergeordnete zivile „Aufbau“-Strategie nach den bisherigen Erfahrungen wenig bis keine Aussicht auf Erfolg haben. Da es keinen Hinweis darauf gibt, dass die herrschende Klasse und ihr politisches und militärisches Personal dumm sind – angesichts ihres krassen Minderheitsstatus wäre sie sonst schon lange nicht mehr die herrschende – bieten sich andere Ziele als die offiziell propagierten an. So fasst denn Jürgen Wagner zusammen: „Denn es hat eher den Anschein, dass Afghanistans Zukunft als autoritärer Militärstaat im Dauerkriegszustand weniger aus Dummheit denn aus strategischem Kalkül billigend in Kauf genommen wird.“ (S. 133) Insbesondere durch die intendierte „Afghanisierung“ des Krieges werden die immensen Unkosten zunehmend in erster Linie von der Mehrheit der Afghanen getragen werden. Die zu erwartenden Gewinne durch Krieg und „Aufbau“ hingegen fließen in die Taschen der Rüstungsindustrie der Besatzer, der wachsenden Zahl privater Söldnerfirmen und der Kader der internationalen „Entwicklungshilfe“-Industrie und derenaller afghanischer Mittelsmänner – Politiker, Warlords und Drogenbarone, meist in Personalunion. Die Frage, wieweit die langfristigen Gewinne in Form des Zugriffs auf die die immensen Vorkommnisse an Rohstoffen in der Region auch die Verhandlungsposition der Arbeiterklasse in den imperialistischen Staaten verbessern, überschreitet den Rahmen des Sammelbandes.
Auch wenn diese Schlussfolgerung nicht im Sinne aller Autoren sein mag, belegt die Gesamtheit der von ihnen so überzeugend dargelegten Fakten und Zusammenhänge doch, dass weder die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan noch die antidemokratischen Rückwirkungen der alt-neuen Politik auf die bundesrepublikanischen Gesellschaft (Ulrich Sander: „Die Polizei als Militär – Das Militär als Polizei“) Zufälle sind. Sie sind in einer Zeit wachsender wirtschaftlicher und ideologischer Krise notwendig für die Herrschaftssicherung der Bourgeoisie nach innen und außen.
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Mario Tal (Hrsg.): „Umgangssprachlich: Krieg – Testfall Afghanistan und deutsche Politik“, PapyRossa Verlag, Köln 2010, 275 Seiten, 14,90 Euro