Dass jemand so zu einem spricht, scheint kaum glaubhaft. Zu einem jungen Menschen, 18,- 19jährig, der seine reichen Tage auf sonnigen Schneehängen um St. Moritz vertrödelt, in kurzärmligen weißen Blusen, mit einem Jungshaarschnitt über locker geschulterten Skieren? So tritt uns Annemarie Schwarzenbach entgegen, ihr Schatten fällt nach rechts auf den Schnee, über den sie vorsichtig schreitet, fragenden Blickes. Als Silber-Silhouette auf dem Buchdeckel, als schwarz/weiß Fotografie im Vorsatz. Weit hinter ihr Berge, Hütten, Bäume.
Dieses blau glänzende Bändchen ist eine kleine Kostbarkeit, in editorischer Schönheit wie in seiner literarisch-biografischen Bedeutung. Zur Autorin Annemarie Schwarzenbach glaubte der Leser genau 70 Jahre nach ihrem frühen Tod alles zu wissen. Das Leben der schwerreichen Schweizer Seidenfabrikantentochter verlief beinahe, wie es der unheimliche alte Herr im oben zitierten Monolog über ganze fünf Seiten verkündet. Sie litt an ihrer Verschwendung und gab sich dennoch hemmungslos hin, dem Leben, den Reisen, Freunden, Fremden. Der Sehnsucht, den Drogen. Mit nur 21 Jahren verfasste sie dieses, von ihrem Großneffen Alexis edierte Manuskript (in erweiterte Neuauflage von 2008), das als „Fragment ohne Titel“ über achtzig Jahre lang in den Archiven schlummerte.
In seinem Nachwort erläutert Alexis Schwarzenbach die Geschichte der Auffindung und Textbearbeitung, und rekonstruiert die Entstehungsgeschichte der sechzig frühen Seiten. Nach der Publikation ihrer ersten Novelle und weit vor Erscheinen ihres ersten Romans schreibt die Geschichts- und Germanistikstudentin Annemarie über Weihnachten 1929 auf dem Gut ihrer Eltern den einzigen literarischen Text, der in ihrer Wahlheimat, dem Engadin, angesiedelt ist. Hier schuf sie sich ihren Lebensmittelpunkt, hierhin, nach Sils Maria, kehrte sie von ihren Fernreisen aus Nordamerika, Persien und Afrika zurück. Hier starb sie mit 34 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls. Und überfiel sie das Lieben.
Eine Frau zu sehen ist eine Textkomprimat zur erwachenden Liebe. Blicke, Sehnsucht, Hoffen. Annemarie Schwarzenbach lässt ihre Ich-Erzählerin der Leidenschaft zu einer Frau mit wundersamen Namen verfallen und spürt ihr nach. „In diesem Augenblick ergriff mich jäh der Gedanke an Ena Bernstein. Zum ersten Mal war sie für wenige Stunden meinem Bewusstsein entglitten”¦“ Was es heißt, sich in eine Frau zu verlieben, umschreibt die Autorin mit uralten Worten der Hingabe: „Vielleicht würde auch heute eine Frau kommen, unsagbar schön war ja allein dieses Wort – Frau -, seine Erfüllung war so voll gläubigen Glücks, dass die Grenze des Wunderbaren sich dadurch forthob und Raum ließ für eine Tröstung, der ich mich sehnsüchtig zuwandte – …“
Sowohl Selbstversicherung als homoerotisch Liebende als auch geistige Wegbestimmung charakterisieren diesen frühen und erstaunlich stilsicheren Text. Ein herrliches Geschenk (und die Erweiterung der Neuausgabe) sind die zehn Fotografien der Autorin am Ende des Textfragmentes. Ausgewählt von Alexis Schwarzenbach, entstanden zwischen 1933 und 1941. Annemarie Schwarzenbach sah eine Frau, hielt sie mit der Kamera fest. Sie bildete ihre Freundinnen und Geliebten als starke Frauen ab, sich schminkend, rauchend, lächelnd. Der Herausgeber deutet die Beziehungsgeflechte an, die Annemarie Schwarzenbach mit Thea Sternheim, Erika Mann oder Margot Lind verband. In wen die Ich-Erzählerin verliebt war, die sich in einem Lift des Grandhotels in St. Moritz ihres Verliebt-Seins gewahr wird, bleibt das Geheimnis der ewig jungen Sehenden.
Annemarie Schwarzenbach, Eine Frau zu sehen, Mit Fotografien von Annemarie Schwarzenbach und einem Nachwort von Alexis Schwarzenbach, 102 S., Kein & Aber, Berlin Zürich, September 2012, 12,90 €