Berlin, Deutschland (Weltexpress). Das Fahrrad heißt jetzt Bike, die Eintrittskarte Ticket und das Arbeitsamt Jobcenter. An der Brücke des Bayer-Konzerns im Berliner Wedding prangt nicht die Losung »Wissenschaft im Dienste des Lebens«, sondern »Science For A Better Life«. Für wen ist das gedacht? Für die Arbeiter, die dort jeden Tag zur Arbeit kommen? Es mutet an, als müssten sich »die Deutschen« von Minderwertigkeitskomplexen befreien, denn auf Schritt und Tritt werden Restaurants, Geschäfte, Kaufhäuser, Postämter, Wohnquartiere und so weiter mit englischen Titeln versehen. Auch Filme, Musikstücke, Gemälde und Ausstellungen kommen kaum noch ohne englischen Titel aus.
Dass Opern und Oratorien heutzutage vielfach in Originalsprache gesungen werden, kann ästhetischen Genuss bereiten, denn die Musik klingt dann eben so, wie der Komponist sie klingen lassen wollte oder musste, denn auch seine Hörer sollten sie ja verstehen. Jedoch das nimmt groteske Züge an, wenn eine deutsche Oper, ins Englische übersetzt, in ein deutsches Konzerthaus reimportiert und, damit die Hörer besser folgen können, deutsch übertitelt wird. So war es zu erleben in der Aufführung von György Ligetis Oper »Le Grand Macabre« bei den Berliner Philharmonikern, in Szene gesetzt vom amerikanischen Starregisseur Peter Sellars. Der engagierte ganz einfach eine Riege englischsprachiger Sänger (a konto des Orchesters natürlich), und so kriegt das Berliner Publikum eine deutsche Oper auf englisch zu hören. Die Leute haben die Karte bezahlt und nehmen das hin. So ist eben der Kulturaustausch heute. Mag sein: das Englische war für den Regisseur und die Sänger verlockender, denn Schimpfworte klingen englisch deftiger als auf deutsch (meint Peter Sellars). Das mag ihnen Spaß machen, aber davon hat ein deutsches Publikum nicht allzuviel und die hier und da rück-angepasste Übertitelung ist ein schwacher Trost.
Die Musik Ligetis hat für ein Orchester enormen Reiz, und die Berliner Philharmoniker haben sie meisterhaft gespielt. Ein Problem ist dennoch die Bearbeitung Sellers`. Den vom Libretto Michael Meschkes und György Ligetis (1978) vorgeschriebenen Weltuntergang und den Tod der Menschen des »Breughellandes« in der Inszenierung mittels Requisiten und Filmclips durch den Atomtod zu assoziieren, der dann aber doch nicht passiert, entschärft die tödliche Gefahr als blinden Alarm, der den Zuschauer erleichtert aufatmen läßt. Heraus kommt das ganze Gegenteil. Es ist ja nichts passiert. Statt des Abbruchs an dieser Stelle, wenn man Sellars´ Idee folgen wollte – hier ist Schluß mit aller menschlichen Existenz – wird die alberne Breughelland-Geschichte zu Ende gespielt, und die Wirkung verpufft. Vielleicht war das der Grund der Buh-Rufe für den sich selbst beklatschenden Sellars. Ob Ligetis Oper noch spielbar ist, kann von der Schlüssigkeit der Fabel her bezweifelt werden. Die Musik ist es wert, gespielt zu werden. Eine Inszenierung wäre vermutlich am besten als Parodie möglich, oder, wie ein Kritiker zur Essener Inszenierung schrieb, als veroperte Blödel-Farce, so absurd wie möglich. Ligetis scherzhafter Begriff der Anti-Anti-Oper hat vielleicht einen tieferen Sinn. Dafür ist sie wiederum zu harmlos. Will man die Oper aber aktualisieren oder politisieren wie Sellars, ist es ein anderes Stück, und das geht schlecht ohne den Urheber oder seine Erben. Die Komische Oper hat es vermieden.
Etwas anderes gibt zu denken. Während der Deutsche Kulturrat und die Künstler und ihre Organisationen mit Argusaugen die Verhandlungen über CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) und das TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) beobachten, die die Gefahr der Zerstörung der staatlich gestützten kulturellen Strukturen in sich bergen, entgeht ihnen völlig, dass eine stille Partizipation amerikanischer Künstler an den kulturellen Etats längst im Gange ist. Diese nehmen durch ihre Engagements am Verzehr der staatlichen Subventionen teil. Amerikanische Anwälte müssen nicht gegen deutsche Kulturinstitute wegen »Wettbewerbsverzerrung« vorgehen, der Geist von TTIP realisiert sich im Stillen selbst. Und das nicht nur in der Musik, sondern auch in der Theaterregie, in der Bildenden Kunst, im Ausstellungsmanagement, in der Architektur, im Film und so weiter. Man weiß, wo etwas zu verdienen ist. Die Finanzierung ist relativ stabil, weil es eben in Deutschland die (berechtigte) staatliche Grundfinanzierung der Kultur gibt. Kürzlich hat sich der deutsch-amerikanische Hollywoodregisseur Wolfgang Petersen (»Das Boot«) beschwert, dass eine finanzielle Förderung seiner internationalen Filmproduktion in Deutschland zwar gewährt wird, aber zu niedrig ist. Der braucht kein TTIP. Er genießt die Förderung auch in der vorhandenen Struktur.
Auch die Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) scheint das nicht zu beunruhigen. Denn einerseits preist sie die großen neuen Freiheiten durch TTIP (der deutsche Export ist CDU-Politikern innerer Auftrag), und andererseits stockt sie die Filmförderung, die Hauptstadtkultur-Förderung und andere Fonds regelmäßig auf, letzteres in der Überzeugung, dem deutschen Kulturleben zu mehr Stabilität und mehr Glanz verholfen zu haben. Angesichts des ständig wachsenden Bruttosozialprodukts ist das auch makroökonomisch kein Problem. Die Kehrseite ist allerdings die bevorzugte Förderung der »Leuchttürme«, während kleine Theater und Orchester geschrumpft werden, die ihrerseits ihr Geld auf Auslandstourneen verdienen müssen, um zu Hause die Miete für den Konzertsaal bezahlen zu können, wie zum Beispiel die Berliner Symphoniker.
Ob das TTIP nach Donald Trumps Vorbehalten gegen die Freihandelsabkommen wirklich kommt, sei dahingestellt. Das Problem bleibt und die Frage, ob die ideologisch motivierte Bevorzugung US-amerikanischer Kultur nicht nur zu einseitiger Bildung, sondern auch zu ungleichen Chancen deutscher Künstler führt.
Der Abfluss von Steuergeldern via Kulturaustausch scheint Frau Grütters noch nicht aufgefallen zu sein, denn die Kritik des Komponisten Siegfried Matthus an den Ungleichgewichten in der Beschäftigung von Composern in Residence oder in der Vergabe von Kompositionsaufträgen, geübt von der Stiftung Berliner Philharmoniker wie von anderen, ließ sie unbeantwortet. Gewiss, Kunst ist international (jedenfalls unter den Bedingungen des freien Devisenmarktes), aber es gibt eben das System der nationalen Kulturförderung in unterschiedlicher Ausprägung. Das beschränkt die Liberalisierung des »Kulturmarktes« – und dies völlig berechtigt, denn Kultur ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Grundversorgung der Bevölkerung und der Bewahrung der nationalen Identität, was sogar die EU-Verträge postulieren. Bekannt ist, dass sich Frankreich in viel stärkerem Maße als Deutschland dem Schutz seiner künstlerischen Produktion (und seiner Sprache) verschrieben hat. Sicherlich, der Leiter eines Opernhauses, eines Orchesters oder einer Galerie sucht sich die Künstler nach Bedarf, nach ihrem Können, nach Geschmack und Bildung aus. Er will eine Aufführung oder Ausstellung mit höchstem künstlerischem Niveau realisieren. Aber staatliche Kulturpolitik ist verpflichtet, den Künstlern des Landes erträgliche Lebensbedingungen zu schaffen und den Kommunen ein ansprechendes Kulturleben zu garantieren. Man mag es Lenkung oder Regulierung oder wie immer nennen, aber die Wohlfahrt seiner Bürger als Aufgabe des Staates kann nur von Ignoranten bestritten werden.
Um auf das Problem der Sprache zurückzukommen. Die Berliner Philharmoniker haben kurz vor »Le Grand Macabre« mit großem Aufwand John Adams` Passionsoratorium »The Gospel According to the Other Mary« (Das Evangelium der Maria Magdalena) aufgeführt. Das Libretto stammt von Peter Sellars – eine für Sellars erstaunlich materialistische Auslegung der Leidensgeschichte Jesu und ihrer Gemeinsamkeiten mit den heutigen Klassenkämpfen, zum Beispiel in der Verhaftung Jesu und streikender Arbeiterinnen. Der Text steht in Englisch und wurde auch in der Philharmonie englisch gesungen. Die Solisten waren im Prinzip die selben wie in der szenischen Aufführung im Jahre 2013 in Los Angeles unter Leitung von Gustavo Dudamel. Die Übernahme dieses Ensembles in die Berliner Aufführung war naheliegend und bot eine überzeugende Interpretation, auch ohne szenische Gestaltung. Im Gegenteil, der Versuch einer szenischen Umsetzung hätte die Wucht und Dramatik der Musik John Adams´ eher gestört. In dieser Aufführung war das Engagement amerikanischer Künstler wiederum begründet. Doch bei solch geistiger Dichte der Berichte aus dem Alten und dem Neuen Testament, aus Versen und Prosa zeitgenössischer Dichter, Bürgerrechtler und Holocaust-Überlebender hätte eine Aufführung in deutscher Sprache das geistige Erlebnis sehr bereichert.