Berlin, Deutschland (Weltexpress). Sie war noch keine achtzehn Jahre alt, als sie in ihr Tagebuch hieb: »Hab‘ ich ’ne Wut, dass ich ein Mädchen bin. Wir dürfen für die Krone der Schöpfung alles in Ordnung halten, kochen und mit inniger Liebe die nötige Entspannung schaffen – wir sind auch nur Mittel zum Zweck. Scheiße nochmal!« Schon damals war klar, welche Rolle Marie Marcks nicht spielen mochte. Offen blieb, was sie wollte. Ganz bestimmt aber dies: unabhängig sein, einen Beruf haben und den nie aufgeben.
So ganz selbstverständlich war das in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, in den Überlebens-, Lebens- und Liebeskämpfen nicht. Marie Marcks hatte fünf Kinder von drei Vätern, war zweimal verheiratet, trennte sich von den Männern, als sie erkannte, dass »jeder selbst anfing, sich selbst mehr zu lieben als die anderen.«
Familiär vorbelastet – ihr Vater war Architekt, die Mutter stand einer privaten Kunstschule vor –, versuchte sich Marie Marcks zunächst als Schrift- und Kunstmalerin. Sie pinselte Schilder für Museen, Schulen, Schaufenster, in einige Dutzend Amistiefel den Namen ihrer Besitzer und belieferte die Andenkenläden mit Ansichten von Alt-Heidelberg. Es hatte sie von Berlin zur großen Schwester ins Ländle verschlagen. Ein Jahr lang war sie – einziges Mal in ihrem Leben – fest angestellt. Im amerikanischen Soldatenclub entwarf und druckte sie Plakate, Flyer, Programmhefte, glaubte sich dem Traumjob nahe und wusste doch, dass der Eine-Frau-Betrieb die bessere Lösung war – für die Familie. Schon bürgte ihr Name für witzige Illustrationen, Wandbilder, Dekorationen und originelle Einfälle. Als es galt, für die »Erste Landesausstellung Baden-Württemberg« Autozubehör gefällig zu präsentieren, setzte Marie Marcks den selbstverständlichen Blickfang Frau nicht auf die Kühlerhaube, sondern ans Steuer des Flitzers und – »als hätte ich’s geahnt « – fünf Kinder auf den Rücksitz. Kommentar des Ausstellungsleiters: »Marcks macht Murks!« Die Vitrine mit den Reichsinsignien durfte sie nicht dekorieren. Strafe muss sein.
Diese und andere Episoden aus ihrem Leben hat Marie Marcks in zwei wunderschönen Büchern im wahren Wortsinne aufgezeichnet und die komischen, aber ganz genauen Bildchen mit handgeschriebenen lakonischen Sätzen ergänzt. Sie erzählt ehrlich, unsentimental, sensibel, relativiert mitunter schon Verschwimmendes, verzichtet auf zeigefingrige Interpretation. Der Leser soll sich selbst ein Bild machen. Entstanden sind vergnügliche Geschichtsbücher, die alltägliches Leben unter den Nazis, während der Kriegs-, Nachkriegs und zur Wirtschaftswunderzeit vorführen – auf ganz persönliche Art. Und doch weiß jeder, der seine Marcks gelesen hat, mehr auch über die eigene Familie, über sich selber, über die Welt.
Marie Marcks hat mehrere Jahre mit ihrem Mann, einem Naturwissenschaftler, in den USA gelebt. Damals wurde die Verflechtung von Forschung und Rüstung und die unbewusste oder gar bewusste Zuarbeit der Wissenschaftler für das Militär heiß diskutiert. Sie stellte ihre Kunst entschlossen in den Dienst der Anti-Atomkampagne, engagierte sich für weltweiten Pazifismus, demonstrierte mit den Studenten gegen den Vietnamkrieg. Die Kinder immer am Rockzipfel – präziser: am Hosenbein. MAKE LOVE NOT WAR. Das ist einer der ersten Sätze, die Tochter Fränze schreiben konnte.
Ihre erste Karikatur hat Marie Marcks 1954 gestrichelt: Der Stumpf der abgesägten Hitler–Eiche treibt kräftig aus. »Natürlich hat die keiner gedruckt.« Ende der sechziger Jahre ist die Zeichnerin mit dem gesellschaftskritischen Engagement weit bekannt. »Das war eigentlich unvorstellbar – eine Frau und Politik und Karikaturistin. Ich wurde wie ein exotischer Vogel gehandelt.« Viele Redaktionen bemühen sich um ihre Mitarbeit. Sie zeichnet für den Spiegel. Die Süddeutsche Zeitung bringt allwöchentlich eine tagesaktuelle Zeichnung. Sie hat mit ihren Mitteln gegen die Aufrüstung, die Kernkrafteuphorie, den Radikalenerlass, die Umweltverschmutzung und den Neonazismus gekämpft. Und man erschrickt, von welch bestürzender Aktualität viele der Zeichnungen noch heute sind. Oft genug versuchte männliche Ignoranz, ihr die Kiste mit den angeblich typisch weiblichen Themen – Haushalt, Kinder, Schule, § 218 usw. – zuzuschieben. Sie hat tief hinein gegriffen. Das waren die eigenen Probleme. Mit dem Zeichenstift ließ sich auch persönlicher Frust abbauen. »Man hat doch nicht ungestraft fünf Kinder und einen Beruf!« Für Marie Marcks waren alltägliches Kleinklein und die große Politik nicht voneinander zu trennen. Der Erfolg gab ihr recht. Die Zeichnungen der Künstlerin zeugen von scharfem Blick und feinem Ohr und gehen deshalb genau ans Herz und an den Verstand. Frauen und auch Männer freuen sich über ihre Treffsicherheit. Feministinnen schwärmen, weil M. M. in eine männliche Domäne eingebrochen ist. Ist Marie Marcks eine Feministin? »Ich habe mich nicht dazu gezählt. Der Feminismus ist ein Programm. Ich bin eine Frau. Natürlich habe ich eine feministische Sicht auf die Welt – vielleicht bin ich doch eine? Ach, ich weiß nicht.«
Gezeichnet hat die bekannteste, aber nicht die einzige deutsche Karikaturistin – es haben auch Barbara Henniger und Franziska Becker längst Bleibendes vorgelegt – bis vor wenigen Jahren. Und sie ist mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen – u.a. mit dem „Göttinger Elch“ (2002) und dem „Deutschen Karikaturenpreis“ (2008) – geehrt worden. Das letzte eigenständige Buch illustriert »Vokabeln mit Migrationshintergrund« und wurde 2008 vom Goethe-Institut unter dem Titel »Eingewanderte Wörter« herausgegeben. Als die Kräfte nachließen, hat sie ihre Zeichnungen sortiert, das Werk geordnet: eine bedeutende Chronik der gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik. Der riesige, zeichnerisch wie kunsthistorisch höchst bedeutsame Schatz konnte 2013 mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder für das Hannoveraner Wilhelm Busch Museum für Karikatur und Zeichenkunst angekauft werden und scheint für die Nachwelt gesichert.
Am 7. Dezember ist Marie Marcks, 92 Jahre alt, in Heidelberg gestorben.