Berlin, Deutschland (Weltexpress). Für den informierten Beobachter ist es unübersehbar: Das über Jahrzehnte stabile westliche Werte- und Bündnisgefüge hat nicht erst seit der Flüchtlingskrise Risse bekommen, die Wähler haben genug vom Polit-Establishment und strafen ab, mehr und mehr Bürger sehen ihre Belange von den Volksvertretern nicht mehr hinreichend berücksichtigt. Der Bogen ist überspannt. Ungeachtet dessen wird von den meisten Regierungen eisern am zu beschreitenden Weg festgehalten, koste es was es wolle. Dem nicht genug: Die Forderungen werden immer weltfremder. So etwa ließ der erste Vizepräsident der EU-Kommission und EU-Kommissar für „Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtecharta“, Frans Timmermans, jüngst verlauten, dass die Zukunft der Menschheit nicht länger auf einzelnen Nationen und Kulturen, sondern auf einer vermischten Superkultur beruhe. Das toppt er sogar noch das ohnehin krude „Replacement Migration“-Manifest der Vereinten Nationen. Der zurückgelassene Ureinwohner dieser Breiten, der zu keiner Zeit gefragt wurde, ob ihm das beliebt, bleibt ratlos, wenn nicht wütend zurück. Nicht wenige fragen sich: Wo ist die „feste Burg“?
Wohin das politische Auge in dieser Zeit auch blickt: zwischen San Francisco über Wien bis zum Van-See sind Veränderungen und möglicherweise Umstürze angesagt: in dem Gebiet also, das gemeinhin als „der Westen“ bezeichnet oder dazu gezählt wird. Es gibt untrügliche Zeichen dafür, dass die Dinge „kippen“. Fangen wir doch bei uns an: Über Jahrzehnte haben deutsche Bundeskanzler auf unserem Kontinent eine Politik betrieben, die uns zunächst mit unseren Nachbarn versöhnte und partnerschaftlich zusammenbrachte. Helmut Kohl wurde so zum „Ehrenbürger Europas“ und das aus gutem Grund. Wenn man sich heute die deutsche Politik ansieht, so wütet in Berlin derzeit gleichsam die „europäische Abrissbirne“, die – ohne das deutsche Volk zu fragen –, die Grundlagen unserer staatlichen und europäischen Existenz beseitigt. Notfalls mit Gewalt. Das soll keine Folgen haben? Sie sind doch schon in Warschau und an anderer Stelle zu „bewundern“, auch wenn es für polnische Irredenta gewiss auch andere Gründe und Triebfedern gibt.
Derzeit ringt man in Großbritannien um Identität. Die bevorstehende Volksabstimmung über den Verbleib des Inselstaats in der EU macht das ebenso deutlich wie die innere Lage in Schottland. Vorgeblich geht es in London und Glasgow darum, Herr im eigenen Haus sein zu wollen. Alleine dieser Wunsch macht deutlich, dass es entweder in London oder Brüssel nicht stimmt und die jeweiligen Verantwortlichen weite Teile ihrer Wähler und Mitbürger nicht davon überzeugen können, dass der eingeschlagene Weg zu ihrem Besten sein könnte. Statt die nicht nur Großbritannien erfassende Unruhe zum Anlass zu nehmen, die europäische Entwicklung, die auf die Auflösung der nationalen Identität gerichtet ist, zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, wird in Brüssel auf „Borniertheit à la carte“ geschaltet. Alles soll auf die Spitze getrieben werden und jetzt ist sogar das geliebte Bargeld dran, über das sich die Menschen noch frei bewegen können. Aus historischen Gründen und unbeschadet der Schalmaien-Töne aus Washington sollten wir eines nicht verkennen: Wenn Großbritannien sich separiert, ist ein Rückfall in eine traditionelle Rolle, wie sie England seit hunderten von Jahren dem Kontinent gegenüber eingeschlagen hatte, fast unausweichlich. Ob das Großbritannien letztlich dient, wenn es auf dem Festland wieder einen gegen den anderen ausspielt, mag dahingestellt bleiben. Nicht auszuschließen ist, dass aber eine solche Haltung in den Kram des einen oder anderen in Washington gerade deshalb passt, weil die USA nichts anderes in Europa seit Anfang der Neunziger-Jahre zur Durchsetzung ihrer Interessen betreiben.
Statt die nicht nur Großbritannien erfassende Unruhe zum Anlass zu nehmen, die europäische Entwicklung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren, wird in Brüssel auf „Borniertheit à la carte“ geschaltet
Auch Moskau macht deutlich, dass es Herr im eigenen Hause sein will, seine nationalen Belange selbst definiert und an eigenen Interessen ausrichtet. Eine legitime Forderung, wenn man sieht, wie auch unsere europäischen Bündnispartner um ihre Identität ringen. Das bedeutet für Russland keinesfalls, sich in ein selbstgewähltes Schneckenhaus der Selbstisolation zurückzuziehen. Moskau ist ein aktiver Partner in den Vereinten Nationen, obwohl diese über zwei Jahrzehnte mehr und mehr auf NATO-Kurs gebracht worden sind. Nicht nur das Engagement in Syrien zeigt, dass in aktuellen Krisen und Kriegen auf der Grundlage des Völkerrechtes mit Russland in jeder Hinsicht zu rechnen ist.
Russland hat seit der „Charta von Paris“ mit ansehen müssen, was alles unternommen worden ist, dieses stolze Land auf die Knie zu zwingen. Selbst wirtschafts- und gesellschaftspolitisch hat man es versucht, von der Unterstützung spalterischer Terrororganisationen in der Kaukasus-Region ganz zu schweigen. Die Zahl der nachweislichen Versuche, das Land aufs Kreuz zu legen, ist so umfangreich, dass man von einem systemischen Vorgehen des Westens gegenüber Russland sprechen kann und muss. Moskau soll unter allen Umständen die Fähigkeit genommen werden, seine Belange in die eigene Hand zu nehmen. Dazu trägt äußerer Druck und ein eiserner militärischer Ring um Russland ebenso bei wie innenpolitische Angriffsformationen unter dem Deckmantel der von Washington aus gesteuerten sogenannten „Nichtregierungsorganisationen“. Diese dienen schon qua Definition nicht dem eigenen Land. Besonders perfide: Nicht selten spannt man dabei guten Glaubens Engagierte vor den eigenen Karren, so dass die „fünfte Kolonne“ nicht so leicht als solche erkannt werden soll. Belege dafür gibt es viele.
In Russland indes ist augenfällig, in welchem Umfang aus der Opposition auf eine Unterstützung durch den „den Westen“ gesetzt wird, um innenpolitisch die Oberhand gewinnen und den russischen Präsidenten austauschen zu können. Das ist „erfahrungsignorant“, weil die ausländischen Unterstützer in der Regel ureigene Interessen verfolgen und sich nicht um die Belange und Bedürfnisse der heimischen Bevölkerung scheren. Die fremdländischen Kräfte werden alles daran setzen, ihnen getreue Vasallen auf die Sessel der Macht zu hieven.
Auch Moskau macht deutlich, dass es Herr im eigenen Hause sein will
Die Indikationen stehen seit Kiew auf Krieg, das lässt sich an vielen Entwicklungen festmachen. Aber es ist fast nicht nötig, sich in zwanzig Jahren Erfahrung verlieren zu müssen. Vor allem darf nicht außer Betracht gelassen werden, in welchem Maße sich der Westen von den Grundlagen seiner Existenz als „Wertegemeinschaft“, und zwar dem Völkerrecht und seinen Regeln, entfernt hat, gerade auch in der Beziehung zu Russland.
Als nach dem Maidan-Staatsstreich das ukrainische Militär mit klaren Bezügen zur nationalsozialistischen Vergangenheit in Richtung russische Grenze in Marsch gesetzt wurde, die große jüdische Gemeinschaft in Kiew bis heute anhaltend dazu schwieg und nicht alle Menschen und vor allem Regierungen Europas zum Kampf gegen diese Kräfte aufrief, konnte jeder wissen, was die Glocken geschlagen hatten. Es kann nicht sein, dass die Auseinandersetzung mit diesen west-ukrainischen „Kommandos“ und dem, was sie repräsentieren, nur eine Angelegenheit für Gedenkfeiern ist, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Oder wird derzeit in Europa kollektiv an einer gefährlichen Front gebastelt, die sogenannte „rechts-populistische Kräfte“ aus vielen Staaten in engsten Verbindungen zur jüdischen Welt oder Teilen davon zeigt? Man hat es ja fast vergessen, dass sich das kaiserliche Deutschland vor und beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchaus des Wohlwollens der internationalen jüdischen Gemeinschaft, vor allem in den USA erfreuen konnte. Sollen wieder Speerspitzen hergestellt werden, diesmal mit dem Ziel Russland?
Am deutlichsten zeigen sich die Zeichen des Umbruchs in den Vereinigten Staaten selbst, von Frankreich einmal abgesehen. Dabei ist für uns Europäer eigentlich Frankreich „oh là, là“, wenn es darum geht, einen Flächenbrand zu entfachen.
Man kann sich lange und auch breit über Frau Clinton oder Herrn Trump auslassen. Wie es in Europa Sympathien für Frau Clinton geben kann – gerade auch vor dem Hintergrund des jüngeren Skandals um ihre privaten E-Mails, aufgrund dessen sie nach geltendem Recht im Grunde gar kein Präsidialamt bekleiden dürfte – kann man nur mit den Durchdringungsfähigkeiten „transatlantischer Netzwerke“ in den westlichen Medien erklären. Die amerikanischen Demokraten lassen nichts anbrennen, wenn es weltweit um Kriege geht. Sie, das heißt die von den Demokraten gestellte Regierung, hat den Krieg wieder nach Europa zurückgebracht. Wenn man sich die entsetzlichen Äußerungen der damaligen amerikanischen Außenministerin, Frau Clinton, beim Hinmetzeln des ehemaligen libyschen Staatschefs noch einmal ansieht, bleibt nur das Entsetzen darüber, wie so eine Präsidentschaftskandidatin die einstige „westliche Wertegemeinschaft“ anführen sollte.
Am deutlichsten zeigen sich die Zeichen des Umbruchs in den Vereinigten Staaten selbst, von Frankreich einmal abgesehen
Bei Herrn Trump sieht das nur bedingt anders aus, weil das einzige, das man von ihm kennt, mit seinen Fernsehauftritten in Verbindung gebracht werden muss. Beide Kandidaten sprechen eigentlich für den fast revolutionären Unwillen der amerikanischen Bevölkerung im Hinblick auf die tatsächliche politische Lage. Es ist die Erkenntnis, dass „Washington“ heute nichts mehr mit den Werten der Gründerväter und den Postulaten der amerikanischen Verfassung zu tun hat. Unbeschadet des kommenden Wahlergebnisses muss man fast sicher davon ausgehen, dass diese revolutionäre Haltung zwischen West- und Ostküste erhalten bleibt und höchst unliebsame Konsequenzen aufzeigen könnte, bis hin zu einer Militärdiktatur (Anteil der Militärausgaben am Staatsbudget schon heute 53 %!). Vor allem dann, wenn man den demokratischen Kandidaten Bernie Sanders hinzu nimmt, der nicht nur den Widerwillen gegen das politische Establishment wie eine Monstranz vor sich her trägt, sondern den Finger tief in die sozial- und wirtschaftspolitischen Wunden der Vereinigten Staaten gelegt hat. Genau das macht Herrn Sanders für viele Europäer so attraktiv, weil sie auch hier die vergangenen besseren Tage des sozialen Ausgleichs in Erinnerung behalten haben.
Fast hat man den Eindruck, dass diese revolutionäre Stafette von Washington an Paris weitergegeben werden könnte. Dramatische Dinge spielen sich in unserem Nachbarland ab und alles spricht dafür, dass die kommende „Bastille“ diesmal die „Place de la Republique“ sein dürfte. Was heute noch folkloristisch mit „Nuit Debout“ umschrieben wird und über höchst aufschlussreiche Debattenzirkel die junge Generation in Paris umtreibt, könnte sich im Vorfeld der französischen Wahlen 2017 zu einem Orkan entfalten, denn dann werden Lager aufeinanderprallen. Goethe hat es schon einmal in Valmy umschrieben. In einer solchen Lage schwächt das politische Berlin die Grundlagen Deutschlands und Europas. Für wen eigentlich? Mit welchem Ziel?