Auch damit trägt die Ausstellung „Struwwelpeters Geschwister – Kinderbuchillustrationen im Biedermeier“ zu einer neuen Sicht auf Hoffmann und den Struwwelpeter bei, erklärt aber vielleicht auch mit dessen Bekanntheit der figurativen Seite den ungeheuren großen Erfolg dieses im damaligen Begriff Antikinderbuches. Denn, wenn man sich schon mit völlig neuen Gehalten auseinandersetzen muß, tragen vertraute Bildfindungen zum Akzeptieren des Neuen durchaus bei. Die von Peter O. Büttner kuratierte kleine, aber feine Ausstellung im zweiten Obergeschoß – Sie glauben gar nicht, welche Ruhe und Frieden einen überkommen, wenn man aus dem Großstadtlärm in diese Oase kommt und diesen traumhaften Blick über den grünlich verschleierten See drumherum genießen darf – hat ein zweigeteiltes Konzept. Da gibt es zum Eingang die zeitnahen Kinderbücher von damals, die Heinrich Hoffmanns Zorn derart erregt hatten, daß er seinem dreijährigen Sohn Carl zu Weihnachten lieber ein Buch selber dichtete und malte – den berühmt berüchtigten „Struwwelpeter“ von 1844 – und dann gibt es achtmal Beispiele für Figuren, die im Text oder Bild Vorlagen für seine Geschichten sein könnten oder wirklich waren.
Im Biedermeier, sagt Katharina Rutschky, sei die „Erfindung der Erziehung“ geschehen. Das trifft für das Bürgertum zu. Zuvor war mit dem „ad usum Delphini“ das Synonym für die fürstliche Erziehung am französischen Königshof schon im 17. Jahrhundert eingeführt. Heute wissen wir, daß Kindheit früher kein abgegrenzter oder gar pädagogischer Bereich war, sondern Kinder im Lebens- und Arbeitsbezug mitheranwuchsen. Unseren heutigen Begriff von Kindheit, in der auf das Kindgemäße und die Förderung von Anlagen durch Umwelteinflüsse Bezug genommen wird, ist ein anderer. Im Biedermeier ging es darum, die Bildungsfähigkeit von kindlichem Leben und Erleben in Richtung Verwandeln, Läutern, Veredeln zu gestalten und dies durch ausgewählte Bildbeispiele aus Haus und Natur zu sichern.
„Ich hatte in den Buchläden allerlei Zeug gesehen, trefflich gezeichnet, glänzend bemalt, Märchen, Geschichten, Indianer- und Räuberszenen: als ich nun gar einen Folioband entdeckte mit den Abbildungen von Pferden, Hunden, Vögeln, von Tischen, Bänken, Töpfen und Kesseln, alle mit der Bemerkung 1/3, 1/8, 1/10 der Lebensgröße, da hatte ich genug“, schimpft Heinrich Hoffmann noch Jahrzehnte später. Und das kann der Betrachter nun wahrlich nachvollziehen, bei diesen so hübsch in den Vitrinen liegenden Beispielen, die allerliebst anzusehen sein – das Kinderbuch war im Format sehr klein, wie die Kinder selbst – mit schönen Illustrationen, aber eben dem Gegenteil von kindgerecht. Da stehen auf einer Doppelseite eines Buches aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts – also nicht mehr Biedermeier, aber Struwwelpeterzeit – hübsche Wohnmöbel herum, ein Bett, eine Fußbank, ein Schrank, der Schreibtisch, ein Stuhl, so possierlich, daß man sie ausschneiden möchte, was aber ein Kind mit diesen zehn Gegenständen anfangen soll, verschließt sich.
Das geht einem auch mit den – noch einmal, allerliebst anzusehenden – Bilderbüchern um 1820 so, wo unter der Maxime „Das Auge muß geschult werden“ auch das ABC zunehmend eine Rolle spielt. In „Carl’s ABC – und Lesebuch“ um 1823 stehen beim Buchstaben D, Dudelsack und Drescher, bei E Erdkugel und Elefant und bei F Fuhrmann, Fahne und Flinte(!). Alles sehr kindgemäß! Ach, wir können diese erhellenden Beispiele nicht alle aufführen, obwohl jedes Buch seinen eigenen Reiz hat und auch beim „Krähwinkler ABC – und Bilderbuch“ von 1822, dem einzigen in Schreibschrift, einem die alten Schreibweise gar zu gut gefällt. So wird dort das D mit Degen und Dintenfaß eingeübt und das E mit Ey und Esel und das C mit Compaß und Charlatan.
Es war die Archivierung der Welt, die das 19. Jahrhundert grundsätzlich leistete, und wenn dann für Kinder Ägypten erklärt und gemalt wurde, in hiesiger Gegend aber mit Pyramide!, ist das der Beginn moderner Wissenschaftsdifferenzierung, die hier an Kinder weitergegeben wird, und gleichzeitig wurde mit dem so erworbenen Wissen den kindlichen Gemütern die Sicht der Welt vermittelt, mit aufbauenden Sinnsprüchen und gebotenen Verhaltensweisen: „Wenn seine Mutter ihn weckte, stand er gleich auf, und eilte zum Waschen und Kämmen“.
Damit sind wir schon in der 1. Abteilung der Vergleichsbeispiele für Hoffmann gelandet, die sich „Reinheit und Ordnung“ nennt. Das geht weiter mit den „bösen Buben“, „Kind und Tier“, auch „Mütterliche Zuneigung“, „Verkehrte Welt“ wo es um den schießwütigen Jäger und den klugen Hasen geht, „Paulinchens Schwestern“ von 1836 aus der „Kleinen Hausfrau, und den „Fünfzig Räthseln”¦“ von 1830, wo auch Paulines Katze schon dabei ist, allerdings nur eine. Auch „Kindliche Leistung“ und „Tisch- und Familienszenen“ zeigen, Heinrich Hoffmanns Genialität hat vorhandene Bild und Geschichtsvorgaben in einen anderen Kontext gebracht und damit eine neue Form von Kindheit und dem Umgang mit Kindern kreiert. Lassen Sie sich diese Ausstellung, die das Auge und den Sinn erfreut, nicht entgehen.
Rahmenprogramm
Mittwoch, 17. Juni 2009, 19:30 Uhr
Die bürgerliche Kultur der Hygiene in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Vortrag von Prof. Dr. Philipp Sarasin im Rahmen der Ausstellung »Struwwelpeters Geschwister. Kinderbuchillustrationen im Biedermeier« zum Heinrich-Hoffmann-Sommer. Das Jahrhundert Hoffmanns war das Jahrhundert der Hygiene: der Sauberkeit, der Gesundheit, der Selbstkontrolle – oder zumindest des Traums davon. Dem Struwwelpeter ist das Unhygienische zum pädagogischen Schrecken aller Kinder schon im Namen eingeschrieben: er ist ungekämmt, und wehe dem Kind, das am Daumen lutscht oder seine Suppe nicht ißt! Was ist das für eine Kultur der Hygiene oder der Diätetik – wie man in Deutschland vor allem sagte –, die die Geschichten des Struwwelpeters so schaurig wahr erscheinen ließ? Woher kommt die bürgerliche Sorge um Sauberkeit und Selbstkontrolle? Der Vortrag wird zeigen, daß dies das Programm einer Aufklärungsbewegung ist, die noch unser heutiges Leben bestimmt. Philipp Sarasin, geboren 1956, ist Ordinarius für Neuere Geschichte an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich und Gründungsmitglied des Zentrums »Geschichte des Wissens« der Universität und der ETH Zürich. Seine Arbeitsgebiete liegen in der Geschichte des Wissens, der Theorie der Geschichtswissenschaft, Körper- und Sexualitätsgeschichte sowie Stadtgeschichte.
Mittwoch, 24. Juni 2009, 19:30 Uhr
Die vollkommene Kinderwelt Zur bildnerischen Ästhetik im Bilderbuch des Biedermeier Vortrag von Dr. phil. h.c. Hans Ries im Rahmen der Ausstellung »Struwwelpeters Geschwister. Kinderbuchillustrationen im Biedermeier« zum Heinrich-Hoffmann-Sommer Kontrastierend zum ”ºStruwwelpeter”¹ Heinrich Hoffmanns entfaltet das Biedermeier-Bilderbuch eine harmonische Kinderwelt, die seinen Betrachtern das Ergebnis einer guten Erziehung vor Augen führen soll. Anhand ausgewählter Beispiele werden die technischen wie die ästhetischen Darstellungsmittel jener Illustrationskunst untersucht. Dabei wird
herausgearbeitet, wie eine überindividuelle Gestaltungsweise im Dienst einer idealisierten Projektion steht, die als anspornend verstanden wurde, obwohl die kindliche Realität zwangsläufig hinter der liebenswert ausgestalteten Norm zurückbleiben mußte. Zugleich wird klar, daß es sich um eine Bildästhetik sui generis handelt, die in ihrer Schlichtheit auch auf spätere Zeiten ihre Anziehungskraft bewahrt hat. Hans Ries wurde 1941 bei München geboren. 1979 bis 1981 war er Mitarbeiter der Internationalen Jugendbibliothek München und bis 2006 Sekretär der dortigen Historischen-Kinderbuch-Gesellschaft. Im Auftrag Theodor Brüggemanns entstand in den 1980er Jahren das Kompendium »Illustration und Illustratoren 1871 – 1914«. Seit 1981 ist Ries für das Wilhelm-Busch-Museum Hannover tätig, und in den 1990er Jahren bearbeitete er die historisch-kritische Ausgabe der Bildergeschichten von Wilhelm Busch. Hierfür wurde er 2004 zum Dr. phil. h. c. der Goethe-Universität Frankfurt ernannt. Im Januar 2008 erhielt er den Ludwigsburger Antiquaria-Preis für seine Arbeit zur Illustrationsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte sind die Kinderbuch-Illustration des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, besonders das Werk Wilhelm Buschs sowie der Oeuvre-Nachweis der Illustratoren im deutschen Sprachraum zwischen 1871 und 1914.
Mittwoch, 1. Juli 2009, 19:30 Uhr
Michael Quast liest und kommentiert weithin unbekannte Texte aus dem bewegten Leben des Dr. Heinrich Hoffmann im Rahmen der Ausstellung» Struwwelpeters Geschwister. Kinderbuchillustrationen im Biedermeier« zum Heinrich-Hoffmann-Sommer Hoffmanns medizinische Laufbahn in Frankfurt begann mit der Berufung als Arzt am Leichenhaus auf dem Sachsenhäuser Friedhof. Später gründete er gesellige Vereine, einer hieß »Tutti Frutti«, und die Mitglieder trugen die Namen von Früchten; Hoffmann war die »Zwiebel«. Im turbulenten Revolutionsjahr 1848 tat er sich mit satirischen Schriften hervor, in denen er die politische Linke (die »Wühler«) und die Rechte (die »Heuler«) aufs Korn nahm; unter dem Pseudonym Peter Struwwel. Höhepunkt seiner Karriere schließlich war im Jahr 1864 die Einweihung der von ihm initiierten neuen Frankfurter Irrenanstalt. Michael Quast wurde 1959 in Heidelberg geboren und eroberte sich sein Publikum als vielseitiger Komödiant, Conférencier und Regisseur. Er ist Mitbegründer und Protagonist des Theaterfestivals »Barock am Main. Der Hessische Molière« in Frankfurt-Höchst. Für seine Arbeit wurde er u.a. mit dem »Deutschen Kleinkunstpreis«, dem »Rheingau Musikpreis« und dem »Binding Kulturpreis« ausgezeichnet. Michael Quast lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main.
Donnerstag, 2. Juli 2009, 19:30 Uhr
»Wassertrinken, Sprudelbaden – schützen nicht vor allem Schaden« Dr. Heinrich Hoffmann, vom Konfirmanden zum Badegast im Spiegel seiner Karikaturen und Zeichnungen Vortrag von Hans-Otto Schembs im Rahmen der Ausstellung »Struwwelpeters Geschwister. Kinderbuchillustrationen im Biedermeier« zum Heinrich-Hoffmann-Sommer In Zusammenarbeit mit den Freunden Frankfurts, Verein zur Pflege Frankfurter Tradition e.V. Genauere Informationen zu dem Vortrag werden im Sommer-Programm der Freunde Frankfurts und auf unserer Website www.frankfurter-buergerstiftung.de bekannt gegeben.
Gängige Struwwelpeterausgaben:
Der Struwwelpeter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt, Reclam, Stuttgart 2009
Der Struwwelpeter, Schreiber, Esslingen 1992
Bis zu seinem Todestag am 20. September werden in Frankfurt viele Ausstellungen diesen Heinrich Hoffmann Sommer begleiten, auf die wir noch eingehen.