Was damals die Gemüter erregte und zu der Frage führte, ob das überhaupt noch Tanz sei, wird mittlerweile längst auch in anderen Tanztheatern praktiziert.
Pina Bauschs Inszenierung und Choreografie der Texte von Bertolt Brecht mit der Musik von Kurt Weill ist jedoch heute wie vor mehr als 30 Jahren ein herausragendes Kunstwerk, das nichts von seiner politischen Aktualität verloren hat.
Die Produktion „Die sieben Todsünden“ wurde 2001 und 2008 mit großem Erfolg am Tanztheater Wuppertal wiederaufgenommen.
2007, beim letzten Gastspiel in Berlin mit „Rough Cut“ hatte Pina Bausch mit Brigitte Fürle, der künstlerischen Leiterin der spielzeit’europa, den legendären Brecht-Weill-Abend für 2009 vereinbart.
Die Prinzipalin konnte nun nicht mehr selbst dabei sein. Pina Bausch ist am 30. Juni 2009 überraschend an Krebs gestorben.
Im Programmheft ist die Rede von Wim Wenders anlässlich der Trauerfeier für Pina Bausch im Opernhaus Wuppertal abgedruckt. Als außerordentlich kostbaren Schatz bezeichnet Wenders darin den Blick von Pina Bausch und ihre „Sicht auf und in die Welt“.
Diese ganz persönliche, immer wieder überraschende und befremdende Wahrnehmungsweise, in die Pina Bausch das Publikum einzubeziehen verstand, machte auch diesen Premierenabend im Haus der Berliner Festspiele zu einem unvergesslichen Ereignis.
Es war ein Abend, der Erinnerungen lebendig werden ließ, dadurch dass, wie in der Uraufführung, Josephine Ann Endicott, Mechthild Großmann und Karin Rasenack wieder auf der Bühne standen. Sentimentalität kam jedoch nicht auf angesichts der Präzision und Schärfe der Darstellung.
Im 2. Teil „Fürchtet euch nicht“ vermitteln die artifiziellen tänzerischen und gesanglichen Darbietungen gelegentlich einen angenehm amüsanten Eindruck der Überspanntheit der 20er Jahre. Die hier aufkommende Nostalgie wird jedoch von Mechthild Großmann gründlich ausgetrieben. Mit ihrer unvergleichlich charakteristischen tiefen Stimme und ihrer phänomenalen Bühnenpräsenz verlacht Mechthild Großmann grandios „Bill’ s Ballhaus in Bilbao“ und räumt mit den Niedlichkeiten und Nettigkeiten auf, die sich gerade einnisten wollten.
Im 1. Teil „Die sieben Todsünden“ ist die tragische Geschichte des Mädchens Anna zu erleben, das sein Glück machen will. Anna ist aufgespalten in zwei Personen, Anna I, die Vernünftige und Anna II, die Menschliche.
Annette Jahns als Anna I geschäftsmäßig dunkel gekleidet wie die Freier von Anna II, dabei feminin im Kostüm und mit Pumps, kommentiert mit großartiger Gesangstimme die Reise von Anna II durch sieben Städte und prangert die Sünden ihres Alter ego an.
Links im Vordergrund sitzt die Familie, die von dem profitieren will, was Anna II einbringt, der Männerchor, der seine verlogene Moral im Kantatenstil eindringlich zu Gehör bringt.
Josephine Ann Endicott als Anna II im bunten Kleidchen auf ihrer düsteren Straße unterwegs, gestaltet den entsetzlichen Opfergang einer sensiblen, liebenswerten, lebensbejahenden Frau mit erschütternder, wahrhaftiger Intensität. Diese Anna, von Männern in Nadelstreifenanzügen betatscht, benutzt, vergewaltigt, erniedrigt und zugrunde gerichtet, bleibt in ihrem wachsenden Elend immer eine Frau, deren Leiden Empathie hervorruft und Zorn auf die Verursacher dieses Leidens.
Anna II verkauft sich freiwillig, und trotzdem wird ihr Gewalt angetan. Unter dem Blick von Pina Bausch, in ihrer Inszenierung gibt es keine Täterperspektive, nichts Aufreizendes oder Anzügliches. Die Männer mit den gierigen Händen, die Anna zur Ware degradieren, sind Einer wie der Andere, uninteressante, verabscheuungswürdige Gestalten, die keine Aufmerksamkeit verdienen.
Nach der Pause, zu Beginn des 2. Teils „Fürchtet euch nicht“ mit Songs aus verschiedenen Werken von Brecht und Weill, sieht es fast so aus, als sei es endgültig vorbei mit der Düsternis. Die Bühne ist hell, die Kostüme von Rolf Borzik sind farbenfroh, Revuetänzerinnen – weibliche und männliche – persiflieren „Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ auf köstliche Weise, vier pelzbehängte Tänzerinnen plärren sich im Zickenkrieg von Polly und Lucy aus der „Dreigroschenoper“ gegenseitig an, und Karin Rasenack versinkt samt Puppen und Schaukelpferd eindrucksvoll im blauen Meer. Dazwischen gibt es ganz klassische Gesangseinlagen. Melissa Madden Gray, ein blonder Engel, erweist sich als hervorragend ausdrucksstarke Sängerin mit beachtlichem Stimmumfang.
Die Turbulenz, die rasanten Tempi, die schrillen Töne, die genial-verrückten Regieeinfälle überdecken jedoch nicht das Unheil, das sich auch im 2. Teil unaufhaltsam zusammenbraut. Von Anfang an ist das ertrunkene Mädchen gegenwärtig, und Markus Bluhm geht herum wie ein schleimiger Prediger und singt bedrohlich „Fürchtet euch nicht“.
Höhepunkt des 2. Teils ist dann auch die Ballade „Vom ertrunkenen Mädchen“. Josephine Ann Endicott, vorn an der Rampe, wiegt sich wie ein Körper im Wasser und verhüllt sich mehr und mehr mit leichten Gewändern, während Mechthild Großmann singend die Sprachbilder der Ballade ausmalt und sich von anteilnehmender Trauer in ohnmächtige Wut über das weggeworfene, zerstörte Leben hineinsteigert.
Der Brecht-Weill-Tanzabend von Pina Bausch, musikalisch vollendet dargeboten von The Capital Dance Orchestra unter der Leitung von Jan Michael Horstmann ist zweifellos ein herausragendes Ereignis in dieser spielzeit’europa, die mit Sasha Waltz & Guests, zu erleben vom 16.-20.12., zu Ende gehen wird.
„Die sieben Todsünden“ Tanzabend von Pina Bausch mit dem Tanztheater Wuppertal war vom 10.-13.12. im Haus der Berliner Festspiele zu sehen.